Nach dem Volksentscheid zum Tempelhofer Feld können dort keine Wohnungen gebaut werden. Jetzt müssen andere Bauflächen gefunden werden, auf denen möglichst innerstädtisch und kurzfristig preiswerter Wohnraum geschaffen werden kann. Eine wichtige Lehre aus dem Volksentscheid lautet aber: Die Planer müssen die Interessen der Anwohner ernst nehmen.
Beim Volksentscheid ging es nicht nur um die mögliche Bebauung des Tempelhofer Feldes. Viele nutzten die Abstimmung auch, um dem Senat und seiner Bau- und Wohnungspolitik einen Denkzettel zu verpassen. Die Oppositionsparteien, die die Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“ unterstützt haben, nennen das Ergebnis „ein klares Misstrauensvotum (Grüne) und „eine klare Aufforderung an den Senat für eine andere Stadtpolitik“ (Linke).
Als „Desaster für den gesamten Senat“ bezeichnet Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins (BMV), das Ergebnis des Volksentscheids. „Wir gratulieren der Bürgerinitiative zu ihrem Erfolg, auch wenn sich der Berliner Mieterverein gegen die Freihaltung der Ränder des Tempelhofer Feldes ausgesprochen hat“, sagte Wild. Der BMV hatte empfohlen, beide Gesetzentwürfe, also auch den Masterplan des Senats, abzulehnen.
Schwer enttäuscht ist die Wohnungswirtschaft. „Das ist ein schwarzer Tag für Berlin: Dringend notwendiger Wohnungsneubau wird verhindert, und die Menschen feiern“, so Maren Kern vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen.
Neubau ist nicht der Heilsbringer
137.000 neue Wohnungen will Berlin bis 2025 bauen lassen, um den prognostizierten Bevölkerungszuwachs um eine Viertelmillion unterzubringen. Der Stadtentwicklungsplan (StEP) Wohnen des Senats weist sogar Flächen aus, die für den Neubau von 220 000 Wohnungen reichen. Von den 4700 Wohnungen, die auf dem Tempelhofer Feld hätten entstehen sollen, hängt also nicht das wohnungspolitische Schicksal der Stadt ab, auch wenn Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) diesen Eindruck vermittelte.
„Wir werden nicht nachlassen, neuen und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen“, sagte Müller nach dem für ihn verlorenen Volksentscheid. „Es bleibt das Potenzial von rund 3800 Wohnungen, die wir innerhalb des Innenstadtrings noch auf landeseigenen Flächen mit unseren Wohnungsbaugesellschaften bauen können und werden.“ Müller will mit den Bezirken und der Wohnungswirtschaft jetzt ein „Bündnis für Wohnungsneubau“ schließen.
„Der Senat lernt nicht aus dem Volksentscheid“, kritisiert der Mieterverein. „Der Volksentscheid hat gezeigt, dass die Berliner den Wohnungsneubau allein nicht als Lösung der Wohnungsmarktprobleme betrachten“, so Reiner Wild. Statt eines Wohnungsneubau-Bündnisses sei ein umfassendes Bündnis für Wohnen notwendig, das auch die Probleme mit der energetischen Modernisierung und die akuten Wohnungsnöte von Haushalten mit geringem Einkommen angeht. Zudem müssten die Bedingungen für einen preisgünstigen Neubau sozialer werden: Die Einstiegsmiete sei auf 5,50 Euro pro Quadratmeter nettokalt zu senken und die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen müsse in diesem Förderprogramm ausgeschlossen werden. 1000 geförderte Wohnungen pro Jahr sind dem BMV außerdem zu wenig.
Dass es genug Platz für den Wohnungsbau gibt, ohne ökologisch wertvolle Grünflächen zu beanspruchen, zeigt der Berliner Landesverband des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) auf. „Sehr viele innerstädtische Flächen schreien geradezu danach, genutzt zu werden“, sagt dessen Landesgeschäftsführer Tilmann Heuser. Der BUND hat über die im StEP Wohnen genannten Baugebiete hinaus gut erschlossene Flächen für rund 12 000 Wohnungen identifiziert. So könnte man die flächenverschwendenden Parkplätze der allgegenwärtigen Discounter überbauen und dabei jeweils 50 bis 100 Wohnungen schaffen. Mit dem Rückbau von überbreiten Straßenschneisen, die in den 60er und 70er Jahren durch die Stadt geschlagen wurden, könnten insgesamt 800 Wohnungen entstehen, etwa an der Flughafenstraße, an der Hohenstaufenstraße oder am Hohenzollerndamm. Auf Brachflächen und Parkplätzen hat der BUND Raum für 2800 Wohnungen ausgemacht und auf dem Flughafen Tegel könnten nach der Schließung etwa 3900 Wohnungen mehr gebaut werden als bisher geplant.
Zumindest das Straßenland und mehrere Parkplätze befinden sich in öffentlichem Eigentum und würden daher schnell für den Wohnungsbau mobilisiert werden können. Gegenüber den Discounter-Ketten, denen städtebauliche Überlegungen völlig fremd sind, wäre allerdings eine nachdrückliche Überzeugungsarbeit notwendig. Die Bezirksämter müssten auf jeden Fall eigene Planungsabsichten formulieren und diese auch in Bebauungsplänen festzurren.
Der Befürchtung des Senats, dass bei jedem Bauvorhaben Anwohner versuchen würden, dieses zu verhindern, teilt Tilmann Heuser nicht: „Die meisten Berlinerinnen und Berliner lehnen Neu- und Umbau in ihrer Nachbarschaft nicht grundsätzlich ab, sondern wollen, dass Aspekte wie Verkehr, Urbanität, soziale Mischung und der Erhalt wertvollen Grüns bei der Planung berücksichtigt werden.“
„Stadtpolitik von oben ist passé“
Wichtig ist, dass bei der Bürgerbeteiligung nicht nur über die Art und Weise der Bebauung diskutiert wird, sondern auch darüber, ob an dieser Stelle überhaupt gebaut werden soll. Für die Linken-Baupolitikerin Katrin Lompscher lautet die Lehre aus dem Volksentscheid: „Stadtpolitik von oben ist in Berlin passé.“ Heiko Herberg von der Piratenfraktion ergänzt: „Das Gebot der Stunde heißt: Zuhören.“ Der SPD-Landesvorsitzende Jan Stöß signalisierte nach dem Entscheid Offenheit für mehr Beteiligung.
„Es fällt uns schwer, das offiziell verlautbarte Nachdenken über mehr Bürgerbeteiligung ernst zu nehmen“, sagt Marie Schubenz vom „Mietenpolitischen Dossier“. Zusammen mit den Initiativen „100 Prozent Tempelhofer Feld“, „Mieterstadt.de“ und „Kotti & Co“ stellt sie die Forderung nach einer zu „100 Prozent sozialen Wohnungspolitik“ auf. „Wir versuchen seit 2011 die Politik zu erreichen“, so Schubenz. „Der Senat hat es sich bislang geleistet, unsere wohnungspolitische Expertise in den Wind zu schlagen.“ Die Initiativen lenken den Blick vor allem auf die 137.000 bestehenden Sozialwohnungen – bezeichnenderweise genau so viele wie Neubauwohnungen geplant sind. Der Senat hat kein Konzept, wie die vorhandenen Sozialwohnungen im Sinne ihres eigentlichen Zweckes wieder bezahlbar gemacht werden können. Die Initiativen haben dazu einen Vier-Punkte-Plan erarbeitet.
„Die bisherigen Maßnahmen des Senats für den Wohngebäudebestand reichen nicht aus, um bei den Mietern Vertrauen zu schaffen“, erklärt auch Reiner Wild vom Mieterverein.
Vorhandene Gebäude könnten weit effizienter genutzt werden, indem man zum Beispiel die Bedingungen für den Wohnungstausch verbessert, den Ausbau von Dachgeschossen oder die Umnutzung von leerstehenden Gewerbegebäuden fördert. Das Potenzial ist durchaus beachtlich: 2013 wurden in bestehenden Gebäuden fast 2000 neue Wohnungen geschaffen. Neben dem Engagement für den Neubau bezahlbarer Wohnungen tut der Senat noch längst nicht genug, um die Engpässe zu beheben.
Jens Sethmann
MieterMagazin 7+8/14
Fotos: Nils Richter
Vom Tempelhofer Feld hängt das wohnungspolitische Schicksal Berlins nicht ab
Viel Potenzial steckt im Rückbau breiter Straßen (Foto: Hohenstaufenstraße) …
… und in der Überbauung der flächenfressenden Parkplätze der allgegenwärtigen Discounter
Rat und Tat
Tempelhofer Freiheit bleibt frei
Der Volksentscheid vom 25. Mai war eindeutig: 64,3 Prozent der Wähler stimmten für den Gesetzentwurf der Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“. Für den Vorschlag des Senats, die Randbereiche für den Bau von Wohn- und Gewerbegebäuden sowie für eine neue Zentral- und Landesbibliothek freizugeben, stimmten nur 40,7 Prozent. Damit ist jegliche Bebauung ausgeschlossen. Im inneren Wiesenbereich dürfen Sitzbänke, Sonnenschirme oder Fußballtore aufgestellt werden, sofern sie nicht fest im Boden verankert sind. Im äußeren Bereich können Sportflächen angelegt, Bäume gepflanzt, mobile Toiletten aufgebaut und Parkbänke, Tische, Abfalleimer und Hinweisschilder aufgestellt werden. Für die vorhandenen Gebäude sind gastronomische Nutzungen zulässig.
Am 25. Mai war im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf auch ein Bürgerentscheid für den Erhalt der Schmargendorfer Kleingartenanlage Oeynhausen erfolgreich: 77 Prozent stimmten gegen die geplante Bebauung der Schrebergartenkolonie.
js
03.09.2014