Vor 80 Jahren, am 20. Januar 1942, haben die Nationalsozialisten auf der Wannsee-Konferenz die planmäßige Vernichtung der europäischen Juden beschlossen. Die Entrechtung, Deportation und Ermordung der Juden hatte auch ein wohnungspolitisches Ziel. Man wollte Wohnungen für „arische“ Deutsche freimachen. In Berlin spielten zusätzlich die gigantischen Umbaupläne zur „Welthauptstadt Germania“ eine Rolle.
Die „Endlösung der Judenfrage“, beschlossen auf der Wannsee-Konferenz 1942, behandelte die Organisation und Umsetzung einer Vernichtung der europäischen Juden. Diese sollten ausnahmslos in die besetzten osteuropäischen Gebiete deportiert und dort entweder durch harte Arbeitseinsätze getötet oder direkt in Vernichtungslagern ermordet werden. Die Deportation der deutschen und tschechischen Juden wurde als vorrangig eingestuft – „allein schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten“, wie es im Protokoll heißt.
Die Diskriminierung und Entrechtung der Juden hatte 1933 gleich nach der Machtübernahme der Nazis begonnen und steigerte sich immer weiter. Von den rund 160.000 Juden, die 1933 in Berlin lebten, war mehr als die Hälfte bis Mitte 1939 unter entwürdigenden Umständen ins Ausland vertrieben worden. Die etwa 74.000 Juden, die nach dem Novemberpogrom 1938 nicht flüchten konnten oder wollten, saßen bei Kriegsbeginn in Berlin fest. Sie wurden systematisch als billige Arbeitskräfte und rechtlose Verschiebemasse missbraucht, bis sie schließlich ermordet wurden.
Über 50.500 Berliner Juden wurden ab Oktober 1941 deportiert, nur sehr wenige haben überlebt.
Hitler wollte Berlin zur „Welthauptstadt Germania“ umbauen. Er setzte dafür 1937 seinen Lieblingsarchitekten Albert Speer als Generalbauinspektor (GBI) ein und stattete ihn mit einer enormen Machtfülle aus. Speers Pläne sahen zwei große Achsen vor, die sich vor dem Brandenburger Tor kreuzen sollten. Die Nord-Süd-Achse sollte am Spreebogen mit einer gigantischen Versammlungshalle beginnen, deren Kuppel den Reichstag wie ein Spielzeug wirken ließ. Flankiert von monumentalen Repräsentationsgebäuden führte die Achse durch einen gewaltigen Triumphbogen zu einem riesigen Bahnhof, der im Bereich des heutigen Südkreuzes liegen sollte. Die Südachse hätte weiter bis an den Autobahnring bei Rangsdorf geführt und eine neue „Südstadt“ für 210.000 Einwohner erschlossen. Am Ende der Westachse sollte eine Hochschulstadt entstehen.
Dass diese Pläne unter normalen Umständen undurchführbar waren, wurde schon 1938 klar. Das Reich steckte sein Geld in die Rüstung, auch die Bauwirtschaft wurde voll zur Vorbereitung auf den Krieg eingespannt. Wohnungsbau fand auf niedrigem Niveau statt. Fehlten 1933 in Berlin noch 100.000 Wohnungen, belief sich das Defizit 1938 schon auf 190.000. Doch allein für den Bau des zentralen Achsenabschnitts hätten in Tiergarten und Schöneberg genau 18.236 Wohnungen abgerissen werden müssen, für die gesamte Planung 53.624.
Jede Woche Hunderte Wohnungen für Speer
Speer schritt von diesen Zahlen unbeirrt zur Umsetzung. So ließ er ab 1938 im Spreebogen und im Bereich des heutigen Kulturforums tatsächlich fast alle Altbauten einebnen. Für die Menschen, deren Wohnungen abgerissen wurden, musste Ersatzwohnraum gefunden werden. Zu diesem Zweck betrieb Speer aktiv die sogenannte „Freimachung von Judenwohnungen“. Nach den inszenierten Pogromen vom 9. November 1938 konnte seine Dienststelle sich den Zugriff auf die Wohnungen sichern, deren jüdische Mieter um ihr Leben fürchtend aus Deutschland flohen. So fielen dem GBI Woche für Woche Hunderte Wohnungen zu, die er als Ersatzwohnraum für Abrissmieter nutzen konnte.
Im Mai 1939 trat zudem das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden in Kraft. Damit wurde deren Mieterschutz erheblich eingeschränkt: Sie konnten von nicht-jüdischen Vermietern jederzeit gekündigt werden, wenn ihre „anderweitige Unterbringung sichergestellt“ ist. Gleichzeitig konnten jüdische Vermieter und Mieter dazu gezwungen werden, andere Juden in ihre Wohnungen aufzunehmen. In der Folge entstanden die „Judenhäuser“, in denen immer mehr jüdische Menschen zwangsweise auf engstem Raum zusammengepfercht wurden.
Speer ging eigenmächtig noch über das Gesetz hinaus. Er legte in bevorzugten Wohnlagen vier „Judenreine Gebiete“ fest: rund um den Grunewald, am Kurfürstendamm, in Schöneberg und Friedenau sowie im Tiergarten- und Hansaviertel. Diese Gebiete sollten „völlig judenfrei“ gemacht werden, um hier räumungspflichtige Mieter aus den Abbruchgebieten anzusiedeln. Da das Gesetz die Hausbesitzer nicht zum Kündigen der jüdischen Mieter zwingen konnte, sollten auf Anregung Albert Speers die NSDAP-Ortsgruppenleiter entsprechend Druck auf die Hauswirte ausüben. „Um die Neugestaltung gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen, scheute der GBI keinen Rechtsbruch“, sagt die Historikerin Susanne Willems in ihrem Buch „Der entsiedelte Jude“: „Das verbrecherische Privileg, Juden die Wohnung zu nehmen, beanspruchte Speer exklusiv für den Berliner Hauptstadtbau.“
Nach Kriegsbeginn musste Speer die Abrissarbeiten für seine Achsen zwar stoppen. Die Wohnungsräumungen setzte er aber fort. Es wurden weiter Juden obdachlos gemacht, um in ihren Wohnungen Mieter aus den projektierten Abrissgebieten anzusiedeln. Die dort leergezogenen Häuser wurden aber noch nicht abgebrochen, sondern vorübergehend ausgebombten Familien zur Verfügung gestellt. Der Bau von Hitlers „Germania“ sollte nun gleich nach Kriegsende beginnen.
Die neuen Mieter wussten, dass sie Teil der Judenvertreibung waren
Im Jahr 1941 begann der GBI, jüdische Mieter ohne Kündigung zu räumen, was selbst nach den rassistischen Nazi-Gesetzen rechtswidrig war. Gestapo und GBI arbeiteten dabei Hand in Hand. Am 18. Oktober 1941 wurden die ersten 1251 Berliner Juden per Zug deportiert. Bis Januar 1942 folgten neun weitere „Osttransporte“ in die Ghettos von Łódź, Minsk, Kowno und Riga. Speer bekam dadurch über 10.000 freie „Judenwohnungen“.
Nach der Wannsee-Konferenz wurde der Völkermord zentral gesteuert und systematisch ausgeführt. Es gab gedruckte Listen mit von Juden bewohnten Wohnungen, aus denen sich die Abrissmieter eine Ersatzwohnung aussuchen konnten. Die Mieter wussten also, dass sie Teil der planmäßigen Judenvertreibung waren.
Die seit 1943 verstärkte Bombardierung Berlins machte die zynischen Zahlenspiele zunichte. Bei zwei Luftangriffen im Januar 1943 wurden mehr als 11.000 Berliner obdachlos, in der Bombennacht vom 1. März verloren auf einen Schlag weitere 35.000 Menschen ihre Wohnungen. Mit den vorgehaltenen Leerwohnungen war in diesem Falle nichts mehr auszurichten.
Albert Speer wurde 1942 auch Rüstungsminister, verfolgte aber die Umbaupläne für Berlin bis zum Kriegsende weiter. Von seiner Achsenplanung wurde nur wenig realisiert – erhalten blieb davon fast nichts.
Statt der 650.000 Wohnungen, die die Nazis in Berlin neu bauen wollten, hinterließ ihr Krieg 500.000 zerstörte Wohnungen.
Jens Sethmann
Aufarbeitung: Fehlanzeige
Albert Speer zeigte bis zu seinem Tod 1981 keine Reue. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess versuchte er sich als unpolitischen Technokraten darzustellen, der von den Verbrechen gegen die Juden nichts gewusst habe. Vermutlich erreichte er dadurch, dass er nicht zum Tode, sondern nur zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde – was er und seine einflussreichen Gefolgsleute immer noch als Unrecht empfanden.
Seine stark geschönten Memoiren wurden in der Bundesrepublik ein Bestseller. Speers ehemalige Mitarbeiter machten in westdeutschen Bauverwaltungen, Hochschulen und Ministerien Karriere. So stieg der frühere GBI-Abteilungsleiter Hans Stephan, der die Monumental-Umgestaltung auch mit humoristischen Karikaturen begleitet hatte, trotz seiner vormaligen NSDAP-Mitgliedschaft 1953 zum Leiter der Landes- und Stadtplanung von West-Berlin auf und wurde 1956 sogar zum Senatsbaudirektor befördert.
js
Literatur:
Susanne Willems: Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau, Berlin 2018 (2. Auflage)
Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania. Über die Zerstörung der „Reichshauptstadt“ durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen, Berlin 1998
Ausstellung:
Albert Speer in der Bundesrepublik. Vom Umgang mit deutscher Vergangenheit, Topographie des Terrors, Niederkirchnerstraße 8, bis 25. September
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