Lissabons Altstadt ist seit Jahren ein touristischer Hotspot. Während die Bevölkerungszahl der portugiesischen Hauptstadt stetig zurückgeht, strömen immer mehr Feriengäste in die engen Altstadtgassen. Die Stadt zählt ohne ihr Einzugsgebiet nur noch rund 500.000 Einwohner, lockt aber jährlich zehnmal so viele Touristen an. Das schafft Probleme – wie Luís Mendes, Geograf an der Universität Lissabon und Aktivist im örtlichen Mieterverein, auf einem Stadtrundgang erklärt.
In einer engen Gasse von Lissabons ältesten Stadtviertel Alfama bleibt Luís stehen. Hier ist er in den 1980er Jahren aufgewachsen. In einem der zweistöckigen Häuser besaß sein Vater eine Schneiderei. Umgeben von Friseurläden und anderem Kleingewerbe herrschte geschäftiges Treiben – und heute? Hier und da einige Cafés und Andenkenläden, aber kein Handwerksbetrieb weit und breit. Jetzt, an einem Nachmittag Mitte April, sind die Cafés noch leer. Aber nur wenige hundert Meter weiter, unten auf dem Tejo, haben wieder zwei riesige Kreuzfahrtschiffe angelegt, um tausende Passagiere für den Landgang auszuspucken. Neben renovierten Fassaden springen Hausruinen wie faule Zähne ins Auge: Gemäuer mit kunstvollen Fliesenornamenten auf den bröckelnden Fassaden, aus denen Unkraut wuchert. Fenster und Haustüren: verrammelt. Was ist hier los? Luís holt aus: Mehr als die Hälfte aller Wohnungen im Alfama-Viertel wird auf Airbnb und anderen Ferienwohnungsportalen angepriesen. In der Umgebung haben sich die Mieten, die jahrzehntelang streng reguliert waren, verdoppelt.
Der Deal: Dauervisum gegen Sanierungsinvestition
Seit 2012 befinden sich unter den Bauherren aber nicht nur Eigentümer, die ihr schmales Einkommen mit einer Ferienvermietung aufbessern, sondern – angelockt von den portugiesischen Behörden durch eine besondere „Sanierungsförderung“ – auch viele ausländische Investorinnen. Wer von ihnen bereit war, eine halbe Million Euro in Gebäudereparaturen zu stecken, erhielt ein langfristiges Visum für das EU-Land – lukrativ für Anleger vor allem aus Amerika, Russland, Südafrika, Nah- und Fernost. In einem Sanierungsgebiet genügte es sogar zuletzt, ein heruntergekommenes Haus mit nur 350.000 Euro zu sanieren, um in den Genuss des Einreise-Freifahrscheins zu kommen.
Bis zu 12.000 Reiche steckten ihr Geld seitdem in Häuser. Über die Immobilie können sie nun frei verfügen: sie auf Airbnb als Touristenunterkunft vermarkten oder auf goldene Zeiten für den Wiederverkauf warten. Viele der Gebäude stehen in Erwartung weiter steigender Bodenpreise leer.
Verwaist ist auch das prächtig geflieste, repräsentative Haus mit einem kleinen Vorplatz an der Rua de São João Da Praça, nahe der Hafenpromenade. Es stehe seit zehn Jahren leer, erklärt Stadtgeograf Mendes. Warum? Er zuckt mit den Achseln, so genau weiß das offenbar niemand. Jedenfalls wurde es in dieser Zeit schon dreimal saniert. Vielleicht gehöre es einem der Investor:innen aus dem Ausland. Die andere Hälfte der Gebäude hier scheint dagegen im Eigentum der Stadt zu stehen. Zur Wahrheit gehört auch, dass städtisches Eigentum gleichfalls oft leer steht, und teils sogar dem Verfall preisgegeben ist.
Wer renoviert, reißt meist nicht nur die denkmalwürdige Bausubstanz im Gebäude selbst heraus, sondern entwurzelt oft auch die dort Wohnenden – ein leichtes Spiel, da in Portugal wie in anderen südeuropäischen Ländern vorzugsweise Mietverträge abgeschlossen werden, die auf wenige Jahre befristet sind. Luís erzählt: „Vor einigen Jahren wurde eine Familie auf die Straße gesetzt, indem der Vermieter vor der Sanierung einfach das Schloss austauschte, als sie nicht zu Hause war.“ Diese Praxis hat das neoliberale Modernisierungsrecht seit 2012 stark befördert. Im geschilderten Fall zog die Familie allerdings vor Gericht und erhielt Schadenersatz. Das aufsehenerregende Urteil erzeugte Druck auf die Politik. Das Parlament erließ schließlich 2019 ein Gesetz, mit dem die „kalte“ Entmietung unter Strafe gestellt wurde.
Erneut halten wir vor einem leeren Haus – eines unter ungefähr 47.000 Geisterhäusern, von denen die allermeisten in der Altstadt stehen. Warum werden die Häuser nicht besetzt, so wie früher in Deutschland oder anderen Ländern? Luís lächelt: Solche radikalen Ideen entsprächen nicht so recht der portugiesischen Mentalität.
Fast ein Drittel aller Portugiesen ist selbst Eigentümer, sehr viele besitzen irgendwo ein leeres Haus, oft auf dem Land. Mehr als 700.000 Häuser stehen in Portugal leer. In der Hauptstadt ist die Situation aber eine andere. In den bei Touristen wie Investoren beliebten Altstadtvierteln Alfama und Bairro Alto haben zehntausende von einheimischen Wohnungssuchenden keinerlei Chancen auf ein Domizil. Ihnen bleiben die meist zu kleinen Neubauwohnungen außerhalb der gentrifizierten Stadtteile.
Tourismus in der Kontroverse
Doch der Sprengstoff aus Touristifizierung und Leerstand hat etwas in Bewegung gebracht. Mieterschützer Luís Mendez berichtet, dass die Ferienvermietung und der Verfall von Wohnraum reglementiert werden sollen – ein entsprechender Gesetzentwurf werde derzeit im Parlament beraten. Doch auch der Widerstand dagegen ist groß: Der Tourismus hat hier immerhin einen Anteil von rund 19 Prozent am Bruttoinlandsprodukt, fast dreimal so viel wie im Nachbarland Spanien.
Immerhin: Die Vergabe der fast auflagenfreien „goldenen“ Visa an Immobilieninvestoren ist – auch auf Druck der EU, die hierin ein Einfallstor für Geldwäsche-Aktivitäten befürchtete – im März ausgelaufen. Die sozialistische Regierung hat erkannt, dass die Investitionen weder Arbeitsplätze noch bezahlbaren Wohnraum für Einheimische schaffen. Wer saniert, muss künftig auch selbst in der Immobilie wohnen. Und neue Lizenzen zur Ferienwohnungsvermietung soll es nicht mehr geben – leerstehender Wohnraum kann sogar künftig von der Kommune zwangsvermietet werden.
Die Wohnungspolitik ist auch in Portugal ein Auf- und Ab – ein wenig wie die Gassen, aus denen wir von unserem Stadtrundgang hinaustreten. Luís führt uns in einen Nachbarschaftsladen, der uns die erhoffte Rettung des Alfama-Viertels mit einem Likör versüßt – mit Blick auf die beiden Kreuzfahrtschiffe, deren Touristen sich hierher aber vermutlich selten verirren.
Sebastian Bartels
Lissabon rüstet bei seinem Sozialwohnungsbestand auf
In Lissabons Altstadt besteht Abrissverbot, doch außerhalb müssen verwahrloste Häuser immer öfter weichen: so im Ortsteil Boa Vista, wo derzeit Reihenhäuser für ärmere Menschen aus den 1930er Jahren abgerissen werden, um Platz für städtische Sozialwohnungen zu schaffen.
In Boa Vista werden die geförderten Neubauten über Solarkollektoren verfügen, mit denen der Strom für Heizungen erzeugt werden soll. Erst im Februar stellte die Stadtverwaltung ihre Charta für den kommunalen Wohnungsbau vor, die eine Erhöhung und Verbesserung des kommunalen Wohnungsangebots vorsieht, den Abbau von Ungleichheiten beim Zugang zu Wohnraum und die Beseitigung „unwürdiger“ Wohnverhältnisse. Die Stadt verfügt nur über knapp 24.000 Sozialwohnungen, davon sind viele schlecht erhalten.
sb
29.06.2023