Berlin im Jahre 2030. Die U-Bahn ist sauber, pünktlich und sicher. Die Außenbezirke sind bestens an den öffentlichen Personenverkehr (ÖPNV) angeschlossen, nachts verkehrt dort ein elektrisch betriebenes Sammeltaxi zum BVG-Tarif. Pendler nutzen ab den Park & Ride-Haltepunkten, die überall in der Stadt eingerichtet wurden, die S-Bahn oder sie steuern ihren Arbeitsplatz über eine komfortable Fahrradschnellstraße an. In allen Wohnvierteln gibt es Carsharing-Stationen und einen Lastenrad-Verleih. Private Pkw müssen außerhalb des Wohngebiets in Quartiersgaragen abgestellt werden.
Dass diese Vision Wirklichkeit wird, ist unwahrscheinlich. Zwar sind sich alle einig, dass es so nicht weitergehen kann. Nicht nur der Klimawandel, auch der knapper werdende Raum in der Stadt zwingen zum Umdenken. Doch ein stadtweites schlüssiges Konzept für eine sozial gerechte Verkehrswende ist derzeit in Berlin nicht zu erkennen.
Berlin hat als einziges Bundesland eine gesetzliche Grundlage für die Verkehrswende: das Mobilitätsgesetz. Doch drei Jahre nach der Verabschiedung ist die Bilanz enttäuschend. Der Verein Changing Cities, der das Gesetz mitverhandelt hat, sagt: im bisherigen Tempo würde der Senat bis zu 200 Jahre brauchen, um die Ziele umzusetzen. Gerade einmal 1,4 Prozent der bis 2030 geplanten Radwege an Hauptstraßen wurden bislang gebaut – inklusive der provisorischen Pop-up-Radwege. Bisher ist keine einzige Radschnellverbindung entstanden, und intelligente Lösungen für die zunehmenden Pendlerströme sowie den Wirtschaftsverkehr sind auch nicht in Sicht. „Auf der Straße ist nichts angekommen, die ersten drei Jahre wurden vergeudet“, kritisiert Ragnhild Sørensen, Sprecherin von Changing Cities.
Ein weiteres Ärgernis: Carsharing-Angebote gibt es vor allem in der Innenstadt, nicht aber in den Außenbezirken, wo sie am meisten benötigt werden. „Der Senat könnte das den Betreibern zur Auflage machen, statt sie die Rosinen herauspicken zu lassen“, meint Sørensen. Changing Cities ist aus der Initiative „Volksentscheid Fahrrad Berlin“ hervorgegangen und versteht sich als treibende Kraft hinter einer „Verkehrswende von unten“.
Denn es ist die Zivilgesellschaft, die den Senat vor sich hertreibt, unter anderem mit dem Volksbegehren „Berlin autofrei“. Dessen radikale Forderung: Autos weitgehend aus der Innenstadt zu verbannen und nur noch zwölf, später sechs private Pkw-Nutzungen pro Jahr zuzulassen. Anfangs belächelt, hat die Initiative mittlerweile erstaunlich großen Rückhalt. Anderen geht das eindeutig zu weit. Sich Autofahrten genehmigen lassen zu müssen ist zweifellos eine massive Beschneidung persönlicher Freiheitsrechte.
Berlin ist keine Autostadt. In kaum einer anderen Metropole leben so viele Menschen ohne eigenen Pkw. Zwar nimmt auch hier die Zahl der zugelassenen Pkw zu, aber das ist vor allem auf den Bevölkerungszuwachs zurückzuführen. Mit 336 Autos pro Tausend Einwohnern Anfang 2021 liegt die Hauptstadt innerhalb Deutschlands nach wie vor auf dem vorletzten Platz, was die Pkw-Dichte pro Person betrifft. Zum Vergleich: in Hamburg sind pro tausend Einwohner 436 Pkw zugelassen, in Hannover sogar 512. Dass das Auto in der Stadt zurückgedrängt werden muss, wenn man die Klimaschutzziele erreichen will, bestreitet kaum jemand. 30 Prozent der gesamten Kohlendioxid-Emissionen in der Europäischen Union werden durch Autos verursacht. Zudem steht das Auto die meiste Zeit herum und belegt wertvollen Platz – weswegen auch die Umstellung auf E-Autos alleine nicht die Lösung ist.
Geht es auch ohne Verzicht und Verbote?
Doch geht das wirklich nur über Verzicht, Verteuerung und Verbote? Klar ist, dass die Autofahrer jahrzehntelang Privilegien genossen haben, die ihnen nun weggenommen werden sollen. Das schmerzt. Autofahren ist bequem – vor allem, wenn der kostenlose Parkplatz vor der Haustür bereit steht. Das ist unsozial, weil er von der Allgemeinheit finanziert wird. Die meisten Experten sind sich einig, dass es Push- und Pull-Faktoren geben muss. Das heißt: Die Benutzung des eigenen Autos muss gegenüber dem Fuß-, Rad- und öffentlichem Verkehr unattraktiver werden. Gleichzeitig müssen die Menschen auch die Vorzüge einer neuen Mobilität erkennen. „Man überzeugt Menschen, wenn man ihnen Alternativen anbietet und wenn sie durch die Veränderungen einen Gewinn an Lebensqualität erfahren“, erklärt Anne Klein-Hitpaß vom Deutschen Institut für Urbanistik (hierzu unser Interview). Bei einer Studie des Umweltbundesamtes aus dem Jahre 2015 wünschten sich 82 Prozent der Befragten, dass ihre Wohnsituation es erlaubt, dass sie kaum noch auf ein privates Auto angewiesen sind. Sichere Schulwege, weniger Verkehrslärm, Grün statt Blech – das wollen im Grunde alle. Es gehe nicht darum, den Leuten etwas wegzunehmen, betont die Sprecherin von Changing Cities: „Wer am Wochenende mit den Kindern an den See fahren will, kann das auch weiterhin tun. Aber muss es unbedingt das eigene Auto sein, das sechs Tage lang nutzlos herumsteht?“
Die autogerechte Stadt der 1960er Jahre zurückzubauen würde auch Platz für den Wohnungsneubau schaffen, erklärte Architekturprofessor Eike Roswag-Klinge kürzlich in einem RBB-Beitrag. Wenn sechsspurige Straßen inklusive großzügiger Parkflächen auf dem Mittelstreifen nicht mehr benötigt werden, könnte man auf diesen bereits versiegelten Flächen Wohnungen errichten.
„Viele haben bisher gar nicht selber erfahren, was alles möglich ist im öffentlichen Raum“, sagt Kai Siefke. Modellversuche wie die autofreie Friedrichstraße findet er zwar gut, aber die Umsetzung sei verbesserungswürdig. Seine Idee: In wechselnden Straßen für jeweils vier Wochen die Parkplätze herausnehmen und die Straße lebenswert gestalten. Die Anwohner entscheiden gemeinsam mit der Verwaltung, dem Quartiersmanagement und anderen Akteuren vor Ort, was auf der Straße umgesetzt werden soll. Vielleicht eine Boule-Bahn? Mini-Gärten? Oder eine Grüne Treppe, auf der man zusammen Fußball gucken oder Anwohnerversammlungen abhalten kann? „Das ganze Umfeld soll dazu einladen, sich dort aufzuhalten“, so Siefke. Für sein ehrenamtlich entwickeltes Projekt „Wandernde lebenswerte Straßenräume“ hat Siefkes Partnerin Katja Pfeiffer, die Architektin ist, transportable Stadtmöbel entworfen. Und wo sollen die Autos in dieser Zeit hin? „Man könnte mit nahegelegenen Parkhäusern sprechen, oft stehen die halb leer“, sagt Siefke. Für Mobilitätseingeschränkte könne es Ausnahmen geben, die Befahrung der Straße in Schrittgeschwindigkeit soll erlaubt sein. Es werde sicherlich Bedenken wegen Lärm geben, vermutet der Anwohner aus Prenzlauer Berg. Darauf könne man reagieren, beispielsweise indem man den Bereich für die Jugendlichen weg von den Wohnhäusern verlagert. Das Modellprojekt, das ganz bewusst auch in den Außenbezirken umgesetzt werden soll, will Siefke wissenschaftlich begleiten lassen.
Kiezblocks blockieren den Durchgangsverkehr
Temporäre Spielstraßen, Kiezblocks, Begegnungszonen – es gibt immer mehr solcher Verkehrsexperimente, nicht nur in Berlin übrigens. Die Straße einmal in der Woche – meist sonntags – zur autofreien Spielstraße zu machen, setzte sich in der Pandemie durch. Nicht alle wurden gut angenommen. Die Idee zu den Kiezblocks, von denen es in Berlin mittlerweile 48 gibt, stammt aus Barcelona. Dort war es die Verwaltung, die etwas gegen die enorme Luftverschmutzung tun musste und daher weitgehend autofreie Quartiere einrichtete. Es ist zwar möglich, mit dem Auto in das Gebiet zu fahren und als Anwohner seinen Pkw dort abzustellen, aber der Durchgangsverkehr bleibt draußen. Die„Superblocks“, wie sie in Barcelona heißen, haben tatsächlich dafür gesorgt, dass die Luft besser wurde.
In Berlin sind es die Anwohner, die sich dafür stark machen. Begegnungszonen wiederum gibt es in Berlin zwei: die Maaßenstraße in Schöneberg und die Bergmannstraße in Kreuzberg. Hier wurde der Straßenraum verkehrsberuhigt und mit Sitzgelegenheiten versehen, um ihn sicherer und attraktiver für Fußgänger zu machen. Es gibt sehr viel Kritik an diesen Experimenten. Hässliche Betonquader oder Metallbänke aufzustellen, mache aus einer Straße noch keinen angenehmen Aufenthaltsort, sagen einige. Vor allem die Bergmannstraße, an der seit über zehn Jahren für viel Geld herumgedoktert wird, gilt nicht gerade als gelungenes Beispiel. Manche sagen, es sei eine Minderheit, die besonders laut schreit. „Klar gibt es auch Verlierer“, räumt Ragnhild Sørensen ein. Der Weinhändler verliert vielleicht Kunden, wenn diese nicht mehr direkt vor dem Geschäft den Kofferraum voll laden können. „Aber für die Mehrheit ist es ein Riesen-Gewinn“, ist man bei Changing Cities überzeugt.
An den Pollern scheiden sich die Geister
In Friedrichshain-Kreuzberg, das sich als Vorreiter der Verkehrswende sieht, werden fast wöchentlich Straßen mit Pollern versehen oder Parkplätze zu Schankterrassen umgewidmet. Am neuerdings autofreien Lausitzer Platz sind die Meinungen geteilt. Stadtplatz statt Parkplatz – für Jonas Lähnemann, der direkt am Platz wohnt, ist das eine rundum tolle Sache. Sein siebenjähriger Sohn kann nun alleine auf dem Platz skaten oder radfahren. „Ich weiß gar nicht, wie ich Lockdown und Homeoffice anders überstanden hätte“, sagt der Vater. Dabei hatte der Bezirk ursprünglich Bedenken, dass die Nordseite des Platzes, die als erstes autofrei wurde, nicht genutzt wird. „Aber sie wurde von Anfang an angenommen“, sagt Lähnemann. Die Argumente der Kritiker, dass es doch bereits einen Spiel- und Bolzplatz auf dem Karree gebe, lässt er nicht gelten: „Überall in der Stadt ist die Spielplatzfläche kleiner als die Parkplatzfläche.“ Für ihn ist der Lausitzer Platz ein schönes Beispiel dafür, was passiert, wenn ein solcher Teil des Straßenraums den Anwohnern zurückgegeben wird. „Die Familien haben davon extrem profitiert, es ist einfach ideal, die Kinder vor der Haustür spielen zu lassen.“
Doch viele Autofahrer fühlen sich an den Rand gedrängt. Oft wird der Kampf ums Auto sehr ideologisch geführt. Eindrückliches Beispiel: das Samariterviertel. Seit hier vor zwei Jahren Poller aufgestellt wurden, sind die Fronten verhärtet: hier die Anwohnerinitiative, die das Ganze initiiert hat, dort die Arbeitsgruppe „Verkehr und Vernunft im Samariterkiez“, die sich gegen die Pol(l)arisierung wehrt. Dahinter steckt auch ein Konflikt zwischen den neu Zugezogenen in den schicken Neubauten und den Alteingesessenen. „Niemand will, dass hier gerast wird, aber einfach Poller aufzustellen, das kann’s ja wohl nicht sein“, sagt Björn Weidner von der AG. Der Verkehr werde lediglich in die Frankfurter Allee verdrängt. Das sei geradezu asozial, weil dort eher die finanziell Schlechtergestellten wohnen. Beide Seiten berichten von Diffamierungen und persönlichen Angriffen. „Wir werden niedergebrüllt und als Autofetischisten oder sogar Nazis beschimpft“, empört sich Björn Weidner, der seine Kinder meist mit dem Rad zur Kita bringt. Für den Wochenendeinkauf muss es aber auch mal das Auto sein. Die Alternativvorschläge der AG zur Verkehrsberuhigung, etwa Schwellen statt Poller, seien im Verkehrsausschuss gar nicht angehört worden. Weidner sagt: Wenn eine Mehrheit im Kiez den Umbau will, würde er das akzeptieren. Aber eine echte Bürgerbeteiligung habe es nie gegeben. Von rund 10.000 Einwohnern hätten sich gerade einmal 300 an einer Online-Befragung beteiligt. Davon waren 130 für die Poller. Die AG hat inzwischen 1400 Unterschriften dagegen gesammelt.
Man sieht: Die Verkehrswende in den Kiezen ist ein äußerst kontroverses Thema. Es bringt nichts, nur die Autofahrer zu verteufeln. Oft wird vergessen, dass nicht jeder Fahrrad fahren kann oder möchte. Oder dass in den Außenbezirken die Anbindung nicht immer perfekt ist. Auch in den neu entstehenden Stadtrandquartieren muss noch einiges getan werden, um die Verkehrswende voranzubringen. Vorbild müsste beispielsweise die Seestadt Aspern in Wien sein, wo der U-Bahn-Anschluss für das neue Gebiet fertig war, bevor die ersten Bewohner einzogen. Oder warum nicht eine kostenlose BVG-Jahreskarte für Neu-Mieter von Stadtrandsiedlungen, wie es beispielsweise die Gartenstadt Drewitz in Potsdam macht (hierzu unser Kasten). Statt Zuschüsse für den Kauf von E-Autos schlägt Changing Cities eine Prämie für alle Haushalte vor, die ohne Auto leben.
Die A 100 – Sinnbild eines Widerspruchs
Vollends unglaubwürdig macht sich der Senat, wenn er sich auf der einen Seite die Verkehrswende auf die Fahnen schreibt und auf der anderen Seite den Bau der A 100, Deutschlands teuerster Autobahn, vorantreibt. Auch wenn bereits Hunderte von Millionen Euro ausgegeben worden sind: Eine Abkehr von diesem Mammutprojekt ist dringend geboten. Das fordern längst nicht nur Aktivisten, sondern auch Stadtplaner und Verkehrsexperten.
Birgit Leiß
Leuchtturmprojekte mit Lerneffekt
Wenn es um innovative Mobilitätskonzepte im Wohnquartier geht, müsste Berlin eigentlich Vorreiter sein: keine Stellplatzpflicht wie in vielen anderen Kommunen und ein vergleichsweise geringer Anteil an Haushalten mit eigenem Auto. Dennoch taucht in der „Gute-Beispiele-Datenbank“ des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) nur ein Vorzeigeprojekt aus Berlin auf: das Fahrradloft in Lichtenberg. Der Neubau in der Lückstraße wurde von einer Baugruppe konzipiert. Mit einem Aufzug, der auch groß genug für ein Lastenrad ist, geht es direkt auf den überdachten Zweitbalkon der Wohnung, wo man sein Rad sicher abstellen kann. Elektrische Türöffner erleichtern den Transport. Außerdem gibt es im Haus eine Fahrradwerkstatt und ein gemeinschaftlich genutztes Lastenrad. Der Name sei eine Anspielung auf das Carloft in Kreuzberg, wo man sein Auto mit hochnehmen kann, erzählt Architekt und Bewohner Lars Göhring.
Immerhin: In den letzten Jahren tut sich etwas. So hat die städtische Wohnungsbaugesellschaft Howoge kürzlich in Adlershof ein autofreies Wohnquartier mit 314 Wohnungen fertiggestellt. In den Johannisgärten sorgt eine Quartiersgarage am Rande der Siedlung dafür, dass das Wohngebiet selber frei vom Autoverkehr bleibt. Der Aspekt der Autofreiheit spiele für Wohnungssuchende zwar keine große Rolle, sagt Sprecherin Annemarie Rosenfeld. „Sind die Mieter aber eingezogen, werden die Vorteile schnell offenbar: Kinder spielen ungefährdet im Quartier, und das Entstehen einer guten Nachbarschaft wird gefördert.“ Angesichts dieser Vorteile würden die Bewohner den weiteren Fußweg zum Auto gern in Kauf nehmen.
Beim größten Neubauquartier des Wohnungsunternehmens Gewobag, der „Waterkant“ in Spandau, soll ein „Mobility Hub“ den rund 2000 Mietern Alternativen zum eigenen Pkw anbieten. Damit werden öffentliche Verkehrsmittel und verschiedene Sharing-Angebote miteinander verknüpft. Per App können die Mieter das Passende buchen.
Woanders in Europa hat man schon vor Jahren ganzheitliche Konzepte für Wohnquartiere umgesetzt, sowohl im Bestand als auch im Neubau. Solche Leuchtturmprojekte finden sich in der Datenbank des bundesweiten Netzwerks Wohnen und Mobilität des VCD vor allem in Österreich und in der Schweiz, aber auch in Städten wie München oder Köln. Mit der Gartenstadt Drewitz wurde beispielsweise ein Plattenbauviertel in Potsdam komplett umgekrempelt. Ein großer Parkplatz wurde zum Park – heute das Herzstück der Siedlung – und beim Einzug erhalten die Neumieter ein kostenloses Jahresticket für den ÖPNV. Weitere Mobilitätsbausteine sind Carsharing, eine ehrenamtlich betriebene Fahrradwerkstatt und ein Fahrradverleih. Trotz umfangreicher Bewohnerbeteiligung war die Akzeptanz zunächst gering, und es musste mehrfach nachjustiert werden. „Es ist ein Lernprozess, der Flexibilität erfordert“, heißt es bei der Arbeitsgruppe des VCD. Um Akzeptanz zu erreichen, müsse auf Anmerkungen und Wünsche der Bewohner reagiert werden.
bl
Best-Practice-Beispiele für intelligente Mobilitätskonzepte in Wohnquartieren:
https://www.vcd.org/artikel/gute-beispiele-aus-der-praxis/
Das Berliner Mobilitätsgesetz im Wortlaut:
www.berlin.de/sen/uvk/verkehr/verkehrspolitik/mobilitaetsgesetz/
„Konzepte ausprobieren und ehrlich evaluieren“
MieterMagazin: Wo immer eine Begegnungszone oder ein autofreier Platz eingerichtet wird, kochen die Emotionen hoch. Ist die Polarisierung unvermeidlich?
Anne Klein-Hitpaß: Es gibt immer sehr ähnliche Konfliktlagen. Diejenigen, die das befürworten, wollen mehr Grün und weniger Verkehr, die anderen haben Angst vor dem Wegfall von Parkplätzen. Unsere Scheu vor Veränderung ist eben meist größer als unsere Vorstellungskraft, was diese bewirken könnten. Weitere Bedenken: dass die Mietpreise in diesem Quartier steigen und es zu einer Aufwertung kommt. Tatsächlich kann man beobachten, dass die Immobilienwirtschaft die gestiegene Lebensqualität als Verwertungsinstrument nutzt. Aber das ist etwas, was man politisch lösen muss. Das Beispiel München, wo drei Quartiere mit Partizipation der Bewohnerschaft umgestaltet wurden, zeigt, dass die Zufriedenheit nach solchen Maßnahmen sehr hoch ist. Letztendlich profitieren alle davon, wenn die Aufenthaltsqualität in einem Quartier steigt. Und es ist eben ein Unterschied, ob da ein Baum steht, der das Stadtklima abkühlt oder ein Auto, das es weiter aufheizt.
MieterMagazin: Großer Widerstand kommt meist auch von den Gewerbetreibenden, aktuell etwa in der Friedrichstraße. Wie sind da die Erfahrungen aus anderen Kommunen?
Anne Klein-Hitpaß: Da gibt es gute Beispiele, etwa aus Wien. Dort hat man die Mariahilfer Straße, eine viel befahrene Einkaufsstraße, beruhigt. Auch hier gab es am Anfang heftige Debatten, doch bei einer Abstimmung war eine knappe Mehrheit dafür. Mittlerweile ist das Konzept so erfolgreich, dass Gewerbetreibende anderer Bezirke das für ihre Straße auch wollen und sich sogar an den Kosten für die Umbaumaßnahmen beteiligen. Ohne Autos flaniert es sich nun mal viel besser. Ich finde es wichtig, dass man solche Konzepte ausprobiert und danach ehrlich evaluiert. Entscheidend ist auch, alle Beteiligten mitzunehmen, wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass man nie alle überzeugen kann.
MieterMagazin: Genau daran hapert es, sagen viele Berliner. Es werde ihnen etwas übergestülpt. Wie sehen Sie das?
Anne Klein-Hitpaß: Oft sind es kleine Gruppen, die besonders laut aufschreien. Da gilt es, die „schweigende Mehrheit“ zu überzeugen. Aber eins ist klar: Maßnahmen, die stark in das Wohnumfeld der Menschen eingreifen, müssen vermittelt werden. Dass sich viele einen Wandel wünschen, zeigen die vielen Initiativen zur Einrichtung von temporären Spielstraßen, Kiezblocks und so weiter. Und immer öfter nehmen die Anwohner das Heft selber in die Hand.
Interview: Birgit Leiß
28.07.2021