Seit einiger Zeit wird über die Beschlagnahmung leerstehender Wohnungen zur Unterbringung von Obdachlosen diskutiert. Nicht nur Mietaktivisten, auch Berlins Sozialsenatorin und einige Bezirksstadträte hatten sich jüngst dafür ausgesprochen. Die gesetzliche Grundlage kann das allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) liefern.
Ende Oktober hatten Obdachlose und Initiativen das größtenteils leerstehende Haus Habersaathstraße 40-46 in Mitte besetzt. Gerade in der Corona-Pandemie könne es nicht angehen, dass Menschen in überfüllten Unterkünften leben müssen, während Wohnungen „massenhaft leerstehen“, sagte Valentina Hauser von der Gruppe „Leerstand Hab-ich-saath“. Die Wohnungen müssten sofort beschlagnahmt werden.
Der Bezirk Mitte hatte zunächst zugesagt, diese Möglichkeit zu prüfen, ruderte dann aber zurück. Die Beschlagnahme einer Wohnung sei zwar grundsätzlich gemäß ASOG möglich, aber nur als „ultima ratio“. Es handele sich um einen gravierenden Eingriff in das Eigentum, der nur angewendet werden dürfe, wenn die Behörden keine andere Möglichkeit der Unterbringung haben. Weil in Berlin aber immer ein Platz in einem Wohnheim angeboten werden könne, sei die Beschlagnahmung unverhältnismäßig und somit rechtswidrig, so Mittes Bezirksstadtrat Ephraim Gothe (SPD). Er berief sich dabei auf ein Gutachten, das die Fraktion der Linken im Abgeordnetenhaus 2019 erstellen ließ. Auch bei einer Mahnwache vor dem Roten Rathaus Ende Januar 2021 forderte ein breites Bündnis die Beschlagnahmung von „unnötig leerstehendem Wohnraum“.
Das ASOG regelt die Zuständigkeiten und Aufgaben von Polizei und Ordnungsbehörden. Weil unfreiwillige Obdachlosigkeit nach dem Gesetz eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, gehört dazu auch die Unterbringung von unfreiwillig Obdachlosen. Die Beschlagnahmung von Wohnraum ist dort explizit vorgesehen – allerdings nur als Übergangslösung, bis die akute Gefahrenlage abgewendet ist – maximal für sechs Monate. Der Eigentümer muss diese Einweisung dulden.
Solange ein Bett in einem Hostel als ausreichend gilt, sind Beschlagnahmungen also de facto ausgeschlossen. Nicht das ASOG müsse geändert werden, sondern die Unterbringungsregeln, sagt daher Taylan Kurt, Bezirksverordneter von Bündnis 90/Die Grünen in Mitte. Der Senat, so fordert Kurt, müsse die Ausführungsvorschrift so ändern, dass eine Unterkunft als abgeschlossene Wohneinheit definiert wird, mit eigener Küche und eigenem Bad.
„In der Obdachlosenpension gibt es immer noch Betten“
Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) erklärt, dass die Beschlagnahmung von Wohnraum kein Tabu sein dürfe, insbesondere wenn Menschen aus vulnerablen Bevölkerungsgruppen oder Familien mit Kindern von Zwangsräumung bedroht sind. Damit bezieht sie sich allerdings auf die zweite Komponente des ASOG, der Wiedereinweisung in die Wohnung im Falle einer Kündigung. Auch wenn eine Kündigung rechtswirksam ist, können die Bezirke in besonderen Notfällen gegen den Willen des Vermieters anordnen, dass die Mieter in ihrer Wohnung bleiben dürfen, bis eine andere Lösung gefunden ist. Doch auch dieses Instrument lehnen die Bezirksämter immer wieder ab mit dem Argument, es gebe noch Betten in der Obdachlosenpension. Dass dies selbst schwerkranken oder kinderreichen Familien zugemutet wird, hält man beim Berliner Mieterverein für nicht akzeptabel.
Birgit Leiß
Richter auf Visite im Obdachlosenheim
Vor 40 Jahren war man in Berlin wesentlich mutiger. So entschied das Oberverwaltungsgericht, dass die Unterbringung eines Ehepaares mit fünf Kindern und einem weiteren, zu erwartenden Säugling in einem Raum von knapp 50 Quadratmetern kein geeignetes Mittel zur Abwehr der Obdachlosigkeit sei (OVG Berlin vom 13. März 1980 6 S 7/80). Die Familie war aus ihrer Viereinhalbzimmerwohnung zwangsgeräumt worden. Das Bezirksamt hatte sie aber zunächst in die Wohnung wieder eingewiesen, hob den Bescheid aber einen Monat später wieder auf und bot eine Unterkunft in einem Wohnheim an. Das sei nicht menschenwürdig, befanden die Richter und ordneten die Wiedereinweisung in die gekündigte Wohnung gemäß ASOG an.
bl
16.10.2021