Der dritte Armutsbericht der Bundesregierung zeichnet nach Einschätzung vieler Wissenschaftler und Verbände ein geschöntes Bild. Unstrittig ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht.
Trotz Intervention des Wirtschaftsministers Michael Glos (CSU) enthält der „Armuts- und Reichtumsbericht“ einige brisante Fakten. Arbeits- und Sozialminister Olaf Scholz (SPD) hatte das Zahlenwerk überarbeiten müssen, weil es den Eindruck vermittle, „Deutschland würde verarmen“, so Glos. Hauptkritikpunkt: Der jüngste wirtschaftliche Aufschwung sei gar nicht berücksichtigt worden. Tatsächlich bezieht sich der Ende Juni 2008 verabschiedete Bericht auf Daten von 2002 bis 2005. In diesem Untersuchungszeitraum hat die Ungleichverteilung der Einkommen zugenommen. Im Klartext: Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Entgegen dem europäischen Trend stieg auch das Armutsrisiko der Erwerbstätigen – Dumpinglöhne und Minijobs haben dafür gesorgt. Insgesamt geht der Bericht aber nur von einem leichten Anstieg der Armutsquote von 12 auf 13 Prozent der Bundesbürger aus.
Zu ganz anderen Ergebnissen kommt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Hier hat man eine rasante Erhöhung ausgemacht: 18,3 Prozent der Bevölkerung seien mittlerweile arm. „Unser Vorteil ist, dass wir auf aktuellere Daten zurückgreifen können und die besagen eindeutig, dass der Aufschwung nicht bei den Einkommensschwachen angekommen ist“, sagt Dr. Markus Grabka vom DIW. Das Institut führt regelmäßig unter fast 11.000 Haushalten eine repräsentative Befragung durch. „Wir sind uns mit anderen Wissenschaftlern und Verbänden einig, dass die Kinderarmut das vorrangige Problem ist“, so Grabka. Der Anteil der armen Kinder ist nach Berechnungen des DIW von 23 auf 26 Prozent gestiegen. Der Armutsbericht behauptet dagegen für den gleichen Zeitraum 2003 bis 2005 einen Rückgang von 15 auf 12 Prozent. Unterschiedliche Datenquellen können diese Unterschiede nur zum Teil erklären. Von „statistischen Taschenspielertricks“ sprach der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge in der „Berliner Zeitung“. Die Zahl der Armen werde kleingerechnet.
Verbesserte Wohnsituation hat Kehrseiten
Auch die Wohnsituation spiegelt die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich wider. Während durchschnittlich 22,8 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens für die Bruttokaltmiete ausgegeben werden, sind es bei den einkommensschwachen Haushalten 42 Prozent. Nur zum Teil wird diese enorm hohe Belastung durch das Wohngeld abgefedert. Besserverdiener müssen dagegen nur rund 15 Prozent für die Miete ausgeben. Insgesamt habe sich die Wohnsituation dem Bericht zufolge kontinuierlich verbessert. Die Bruttokaltmieten seien mit einem Prozent jährlich nur moderat angestiegen. Hinsichtlich der Ausstattungsstandards gehörten Kohleöfen oder fehlendes Bad der Vergangenheit an. Der bauliche Zustand der bundesdeutschen Wohnungen habe sich ebenfalls verbessert, insbesondere in den neuen Bundesländern. Bei einer Befragung schätzten nur fünf Prozent der Bewohner ihr Mietshaus als stark renovierungsbedürftig ein. Die Pro-Kopf-Wohnfläche hat sich weiter erhöht und gleicht sich zwischen Ost und West allmählich an. Die Kehrseite der Medaille: Menschen mit niedrigem sozialem Status leben häufiger in Wohnungen mit erheblichen Mängeln, etwa feuchte Wände oder Schimmel, so der Bericht. Weil sich preisgünstige Wohnungen oft an stark befahrenen Verkehrsachsen befinden, sind deren Bewohner mehr Lärm und Schadstoffen ausgesetzt.
Als Schlüssel zur Bekämpfung der Armut sieht die Regierung Bildung und Beschäftigung. Im gleichen Bericht kann man währenddessen nachlesen, dass ein Job nicht unbedingt vor Armut schützt.
Birgit Leiß
MieterMagazin 9/08
Die Zahlen differieren, der Trend bleibt: Es gibt immer mehr Arme in Deutschland (hier: Sozialladenin Lichtenberg)
Foto: Christian Muhrbeck
Wer ist arm?
Nach der Definition der Europäischen Union gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des nationalen Durchschnittsnettoeinkommens verfügt. In Deutschland sind das 781 Euro bei einem Alleinstehenden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht die Grenze bei 50 Prozent. Dieser relative Armutsbegriff ist nicht unproblematisch, denn in sehr reichen Ländern zählen somit auch Menschen mit einem Einkommen von mehreren tausend Euro zu den Armen. Die Weltbank legt dagegen ein Warenkorb-Modell zu Grunde. Als arm gilt, wer weniger als einen Dollar am Tag an lokaler Kaufkraft zur Verfügung hat.
bl
13.06.2018