Klaus Dehne ist einer, den sich die jungen Leute in der Berliner Koloniestraße im Wedding nicht freiwillig zum Freund machen. Zum Gegner allerdings wollen sie ihn auch nicht. Langsam schlendern sie auf ihn zu, wenn er sie ruft. „Was treibt ihr?“ – „Nichts“, antworten sie und weichen seinen eisblauen Augen aus. In den Hauseingängen rumhängen, auf dem Bolzplatz die Wut rauslassen, eine Bierdose die Straße hochkicken, ein paar Mädchen ohne Kopftuch „Schlampen“ hinterherbrüllen – was soll das schon sein?
„Hausaufgaben gemacht?“, fragt Dehne. „Nee“, antworten sie. „Kommt ihr vorbei und zeigt’s mir?“ – „Später.“ – „Wann?“, will der Hausmeister des Wohnblocks, in dem sie leben, wissen.
Dehnes Fragen sind kurz. Und selbst, wenn einer „Alter, fick‘ dich“ antwortet, bleibt er am Ball. „Hast du keine andere Sprache?“ Auf so was sind die Jugendlichen im Soldiner Kiez nicht vorbereitet. Um abzulenken, fängt einer aus der Truppe an, auf seinen Kumpel einzuboxen. Alles noch Spiel. „Chalas, wenn ich mit euch spreche“, sagt Dehne. Chalas: lass‘ das – arabischer Grundwortschatz Dehnes. Französisch, Serbokroatisch und etwas Türkisch spreche er auch.
Schon 13 Jahre ist Dehne Hausmeister in der Koloniestraße 22/22 a. Dort leben 278 Menschen: Türken, Polen, Griechen, Italiener, Thais, Russlanddeutsche. „Echtes Multikulti“, meint er. Darunter sind 48 Schulpflichtige, von denen statistisch gesehen ein Viertel die Schule abbrechen wird. Ein in den 70er Jahren hochgezogener Bau mit zwei Innenhöfen ist es. Im feuchten Berliner Winter ist Dehne im Keller anzutreffen, um Überschwemmungen Herr zu werden. „Nicht Hausmeister, Facility-Manager bin ich“, sagt der 64-Jährige.
Das Gebäude liegt im Soldiner Kiez im Berliner Wedding, einem Stadtteil, in dem die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent liegt. Hässlich ist die Ecke nicht, Sozialwohnungen wechseln mit 100-jährigem Altbaubestand ab, und versteckt hinter den Vorderhäusern fließt die Panke. Dennoch: Die Gegend ist seit Jahren in Verruf.
Ein Leben an der Bruchkante
Klaus Dehne ist der „heimliche Bürgermeister“ dieser Ecke. So jedenfalls nennen ihn die Leute. „Dass du nie aufgibst“, sagt der Wirt vom Eulenhorst, der letzten Alt-Berliner Kneipe in der Koloniestraße. Umkränzt von Girlanden wacht ein ausgestopfter Uhu über die Gäste. Von Weisheit allerdings keine Spur.
Einen Stock möchte einer der Gäste nehmen, zehn Zentimeter dick, und draufschlagen. Er stellt sein Bier ab, um es vorzumachen. Mit beiden Händen umschließt er den imaginären Knüppel und haut in die Luft. „Bis man sie vom Boden abkratzen muss. Gesindel, Lumpenpack.“ Warum nur ist der Gast so außer sich? „Weil Zwölf-, Dreizehnjährige in die Kneipe kommen, Stinkbomben werfen, die Gäste beschimpfen, ,Du Fotze, du Hure, du Arsch. Ich fick deine Mutter‘. Schön ist das nicht“, sagt der Hausmeister.
Den Eulenhorst gibt es nicht mehr. Dehne jedoch ist nicht weggezogen, als ihm die Hausverwaltung ein doppelt so großes Objekt im nobleren Tempelhof anbot. Er bleibt, weil ihn das Leben an der Bruchkante zwischen Zivilisation und Untergang fasziniert. Es hat was mit ihm zu tun.
Dehne hat den Niedergang der Gegend verfolgt. Arbeitslosigkeit, Ladensterben, Drogen, Perspektivlosigkeit. „Am Ende kann sich noch nicht mal der türkische Gemüsehändler halten.“ In der Koloniestraße ist es so weit. Der Soldiner Kiez blutet im Gesundbrunnencenter aus, einem Shopping-Klotz, zwei U-Bahn-Stationen nach Süden.
Dass die Atmosphäre im Kiez weit entfernt ist von Beschaulichkeit, das ist dem Berliner Senat auch aufgefallen – als es zu spät war. Mit einem „Quartiersmanagement“ sollte Abhilfe geschaffen werden. Immerhin hat das erreicht, dass Künstler in leer stehende Läden ziehen konnten. Auch ein Einwohnerverein wurde gegründet. Dehne ist der Vorsitzende. Die Mitglieder wurden zu Konfliktmediatoren ausgebildet. Streit schlichten ohne Eskalation. Dehne will Meister darin sein.
Dabei gibt es in seiner Biografie Episoden, wo die Eskalation als Ultima Ratio vorkommt. Er war Söldner in Afrika. Dehne, der Offizier, „mon capitaine“, spricht nicht gerne darüber. Zuletzt hat seine Neugier und sein Wissensdurst, nicht sein Ego, gelitten am Militär. Er war 29, als er den Dienst quittierte.
Erzieher, Respektperson und Vorbild
Ganz unwesentlich ist seine Offizierserfahrung allerdings nicht. Er weiß, was man tun muss, um die Oberhand zu behalten. Seine Autorität reicht aus, um Unruhestifter in die Schranken zu weisen, um schlagende Ehemänner zur Räson und Lärmmacher zur Einsicht zu bringen. Der Hausmeister ist in die Rolle eines Erziehers gerutscht. „Ich verlange Respekt vor Menschen und vor den Sachen“, sagt er. „Bei mir stellt niemand den Müll neben die Tonnen.“
Zusammenleben braucht Regeln, sagt Dehne. Dass es ihm, dem Hausmeister, zufalle, den Leuten das klarzumachen, nicht den Eltern, den Lehrern, daran ließe sich was ablesen. Was? Dass Fernsehstars keine Vorbilder sind und dass Jugendliche, denen man den schönsten Computer hinstellt, trotzdem gefrustet seien, meint er.
Dehne schafft es, den Leuten nahe zu kommen. „Ich hab so eine Ansprache“, sagt er. Es mag daran liegen, dass sein Leben eben auch nicht auf der Überholspur verlief. Als die Firma, in der er zuletzt war, Pleite machte, wurde er arbeitslos. „Ich bin fast draufgegangen. Mit 45 will einen niemand mehr.“ Deshalb hat er vor 17 Jahren den Job als Hausmeister angenommen. „Man kann aus allem was machen.“
In seinem Haus haben 18 von 70 Mietparteien eigenes Einkommen. Als Putzfrauen, Wachleute und so. Die anderen leben von Sozialhilfe, Rente oder Geld vom Arbeitsamt. „Wie kann die Politik zulassen, dass die Leute so abgeschnitten werden von der Gesellschaft?“, das fragt er sich manchmal.
Das Schicksal der jungen Leute bekümmert ihn auch. Kinder, die schon in der Schule wissen, dass sie keine Chance haben. Er schüttelt den Kopf. Die Generation ist verloren. Stellvertretend für die Jugendlichen gibt Dehne nicht auf, selbst wenn sie ihm die fünfzigste Absage zeigen. „Und dann das Gerede über Integration. Warum leben wir seit 40 Jahren nur nebeneinander her?“ Dehne selbst ist schon lange mit Marija, einer Serbin, liiert.
Vom Söldner zum Offizier zum Techniker zum Hausmeister – harte Ausschläge gibt es in Dehnes Biografie. Kommt noch dazu, dass er vermutlich ein Hochbegabter ist. Zumindest lassen es die drei übersprungenen Schulklassen und sein Abitur mit 17 vermuten. Nichts daraus gemacht? Dehne weiß, dass Rebellion sich mitunter gegen sich selbst richten kann. „Mein wichtigstes Potenzial war immer meine Neugier“, sagt er.
Waltraud Schwab
MieterMagazin 9/08
„Nicht Hausmeister, sondern Facility-Manager“
alle Fotos: Christian Muhrbeck
„Man kann aus allem was machen“
„Zusammen leben braucht Regeln“
Zum Thema
Hommage an die Berliner Vielseitigkeit
Der Text „Der heimliche Bürgermeister“ wurde der aktuellen Ausgabe des Magazins „Berlin Haushoch“ Band 2: „Wedding“ entnommen, herausgegeben von Alexandra Bald, Ana Lessing und Esra Rotthoff. Die Herausgeberinnen verstehen ihr jährlich erscheinendes Magazin als „Hommage an die Vielseitigkeit Berlins“. Die drei jungen Designerinnen beziehen ein Jahr lang ein Kiezbüro in dem Stadtteil, den sie unter die Lupe nehmen wollen und setzen dessen möglicherweise noch unbekannte Seiten mit viel Charme ins Bild, ergänzt durch Texte, die jeder für sich genommen als Liebeserklärung durchgehen.
Heft 1 („Marzahn“) ist bereits vergriffen. „Berlin Haushoch“ ist im Kunstbuchhandel für 6 Euro erhältlich.
ek
01.06.2020