Der 7. November 1962 war „ein wichtiger Tag für Berlin“, so der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt. An diesem Tag legte er zusammen mit Walter Gropius im Süden von Neukölln den Grundstein für die Satellitenstadt Britz-Buckow-Rudow, die heutige Gropiusstadt. Wenn es Menschen gegeben habe, die an der gesicherten Zukunft der Stadt gezweifelt hätten, dann müssten sie jetzt wissen, dass sie sich geirrt haben, so Brandt in seiner Rede. Der Beweis für die Zukunftsfähigkeit Berlins: Die Gropiusstadt feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen.
Begonnen hat die Geschichte der Gropiusstadt 1955, als beim Bau der Siedlung Britz-Süd das angrenzende freie Feld in den Blick von Karl-Heinz Peters fiel. Peters, damals Vorstand der Wohnungsbaugesellschaft Gehag, hatte nicht nur die Idee, dort eine neue Siedlung zu bauen, er gewann für die Planung auch den renommierten Architekten Walter Gropius. Geplant waren zunächst 8000 bis 9000 Wohnungen. Gropius‘ erster Plan von 1960 sah für Britz-Buckow-Rudow (BBR) deshalb noch deutlich geringere Baumassen vor. 80 Prozent der Wohngebäude sollten weniger als acht Geschosse haben, nur einzelne Gebäude würden mit 14 bis 17 Stockwerken herausragen. In den folgenden Abstimmungsverfahren forderte der Senat aber wesentlich mehr Wohnungen. Gebaut wurden schließlich 18.000 Wohnungen, davon 70 Prozent in Hochhäusern. Dazwischen sind Flächen für Einfamilien- und Reihenhäuser eingestreut.
Gropius geht auf Distanz
Neben der Gehag wurden noch fünf weitere gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften sowie private Bauherren an der Planung beteiligt. Dadurch kam es zu weiteren Veränderungen am Gesamtplan, von dem sich Walter Gropius schon bald distanzierte. „Ich muss gestehen, dass dieses Unternehmen das enttäuschendste ist, mit dem ich je zu tun hatte, da der Kontakt mit den Siedlungsträgergesellschaften fast auf den Nullpunkt gesunken ist“, schrieb Gropius 1966 verbittert an die Berliner Bauverwaltung. Obwohl vom ursprünglichen Konzept nur die groben Grundzüge übriggeblieben waren, gab man der Siedlung BBR kurz vor ihrer Fertigstellung 1972 auch offiziell den Namen Gropiusstadt. Im Volksmund ist sie schon von Anfang an so genannt worden.
„Gropius hat erfreulicherweise einige der Objekte auch im Detail geplant“, erläutert Michael Abraham, Vorstand der Baugenossenschaft Ideal. Dazu gehören das Ideal-Hochhaus, das mit 30 Stockwerken Berlins höchstes Wohnhaus ist, und das danebenliegende halbkreisförmige Gropiushaus. „Aber auch andere namhafte Architekten waren beteiligt. Dadurch entstand eine Vielfalt, die es in Großsiedlungen selten gibt“, so Abraham.
Trotz der vielen Beteiligten, die zu Gropius‘ Leidwesen ihre Finger im Spiel hatten, ist die Qualität des Unterfangens nicht ganz auf der Strecke geblieben. „Die Gropiusstadt ist eine der wenigen Großsiedlungen, für die es eine städtebauliche Vision gab“, lobt heute Frank Bielka, Vorstand der Wohnungsbaugesellschaft Degewo.
Durchgängige Grünzüge entlang der U-Bahn-Trasse und am Wildmeisterdamm geben der Gropiusstadt einen grünen, luftigen Charakter, die städtische Infrastruktur wurde nicht vergessen und mit der U7 hatten die knapp 50.000 Einwohner von Anfang an eine gute Anbindung an die Innenstadt. Die grundsätzliche Kritik am Prinzip Trabantenstadt entlud sich daher in den 70er Jahren am Märkischen Viertel, wo all diese Vorzüge fehlten.
Kein ganz freiwilliger Umzug
Probleme gab es natürlich auch in der Gropiusstadt. Weil der Stadtteil fast komplett im Sozialen Wohnungsbau errichtet wurde, waren die Erstbewohner zum großen Teil „zugewiesen“. Viele waren Umsetzmieter aus dem Wedding, Nord-Neukölln und Kreuzberg, deren Altbauwohnungen im Zuge der Kahlschlagsanierung abgerissen worden waren. Vom neuen Wohnkomfort mit Bad, Zentralheizung und Aufzug waren sie zwar begeistert, doch da sie nicht ganz freiwillig hierher gezogen waren, hatten sie es schwer, am äußersten Rand der Stadt in einem ganz anderen Ambiente heimisch zu werden. „Reichlich Langeweile“, stellte die Bild-Zeitung 1967 dort schließlich fest. „Denn alles, was ein bisschen großstädtisches Leben in diese Stadt mit der Einwohnerzahl von Celle bringen würde, muss man mit der Lupe suchen. Noch nicht einmal Berlins ,Nationalheiligtum‘, die Eckkneipe, ist zu finden.“ Zwei Jahre später berichtete die Berliner Morgenpost, dass die Ärzte hier eine für Deutschland neue Krankheit registriert hätten, die sie „Neubau-Neurose“ nannten.
Ein drastisches Bild zeichnet auch das 1981 erschienene Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Die Autorin Christiane F. ist in der Gropiusstadt aufgewachsen. Sie beschreibt die Siedlung als unmenschliche Betonanhäufung, in der Kindern das Spielen auf den Rasenflächen verboten ist und Jugendliche kaum Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung haben. Der Gropiusstadt gab sie damit eine Mitschuld an ihrem Abgleiten in die Drogensucht.
In den 80er Jahren gab es erstmals leer stehende Wohnungen in der Siedlung. Der damalige. Bausenator Klaus Franke dachte 1985 sogar über einen Teilabriss einiger Häuser nach. Stattdessen wurden jedoch große Summen in Nachbesserungen an den Häusern und den Freiflächen investiert.
Um die Jahrtausendwende geriet das soziale Gefüge in eine Schieflage, Neuköllns Baustadtrat Thomas Blesing bemängelte, dass einige Vermieter bei der Wohnungsvergabe nicht auf die soziale Mischung geachtet hätten. Der Senat entschied deshalb, die Belegungsbindung abzuschaffen und die Fehlbelegungsabgabe nicht mehr zu erheben, um Menschen mit höheren Einkommen den Zuzug zu ermöglichen beziehungsweise das Bleiben in der Gropiusstadt schmackhaft zu machen.
„Dann ging es wieder aufwärts mit der Gropiusstadt“, ist Thomas Blesing vom Erfolg der Maßnahmen überzeugt. Heute leben hier rund 35 000 Menschen, darunter nicht wenige Erstbewohner. „Die Wohnungen sind vom Schnitt her immer noch modern. Das waren schon gute Architekten“, sagt Degewo-Vorstand Frank Bielka. „Jeder, der mit offenen Augen durch die Gropiusstadt geht, sieht, dass das ein Stadtteil mit Zukunft ist.“ Durch die – wann auch immer – bevorstehende Eröffnung des nahen Flughafens BER mit seinen neu entstehenden Arbeitsplätzen erwartet Bielka einen weiteren Entwicklungsschub. Die Degewo plant deshalb sogar Neubauten in der Gropiusstadt. „Wir haben vor, ab 2014 am Zwickauer Damm Wohnungen zu errichten“, kündigt Frank Bielka an. „Wir sehen hier Potenzial für bis zu 400 Wohnungen.“
Jens Sethmann
Bauhausgründer als Namensgeber
Walter Gropius gilt als einer der Begründer der modernen Architektur. Er wurde 1883 in Berlin geboren. Nach einem Architekturstudium in München und Charlottenburg machte er sich 1910 als Industriedesigner und Architekt selbstständig. Sein erster bedeutender Bau war das 1911 zusammen mit Adolf Meyer entworfene Fagus-Werk in Alfeld (Leine). Die flächige Glasfassade des Fabrikgebäudes erregte damals großes Aufsehen.1919 wurde er Direktor der Hochschule für Bildende Kunst in Weimar, die er mit der Kunstgewerbeschule zum „Staatlichen Bauhaus“ fusionierte. Die stilprägende Schule wurde 1925 nach Dessau verlegt, wo sie in ein von Gropius entworfenes Gebäude zog. 1928 gab Gropius die Leitung des Bauhauses ab und widmete sich vor allem Wohnbauprojekten, unter anderem der Großsiedlung Siemensstadt.Nach der Machtergreifung der Nazis emigrierte er in die USA, wo er Professor an der Harvard University wurde. Ab Mitte der 50er Jahre engagierte er sich wieder in Berlin, wo er 1957 mit seiner Firma The Architects Collaborative (TAC) ein Wohnhaus im Hansaviertel entwarf und 1959 mit der Planung der späteren Gropiusstadt beauftragt wurde. Deren Fertigstellung erlebte er nicht mehr. Er starb 1969 in Boston. Das Bauhaus Dessau gehört seit 1996, das Fagus-Werk seit 2011 zum Weltkulturerbe.
js
MieterMagazin 9/12
Die Gropiusstadt überzeugte ihre Bewohner von Anfang an: grün, großzügig und mit guter Infrastruktur
Fotos: Sabine Münch
Zur Feier des ersten halben Jahrhunderts haben die Gropiusstädter ein umfangreiches Festprogramm auf die Beine gestellt.
www.qm-gropiusstadt.de
Walter Gropius im Jahr 1919
Foto: Louis Held
30.03.2013