Vor 30 Jahren, zwischen dem 22. und 25. August 1992, wütete im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen ein Mob von bis zu 3000 Leuten gegen ein von Asylbewerbern und vietnamesischen Vertragsarbeitern bewohntes Haus, ohne dass Polizei und Politik die Bewohner schützten. Es war der massivste Pogrom in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und hat das Vertrauen von Zugewanderten und Einheimischen in den deutschen Staat nachhaltig erschüttert.
Das Sonnenblumenhaus – benannt nach einem auffälligen Fassadenmosaik – ist ein elfgeschossiger Plattenbau mit sieben Aufgängen. Zwei der Aufgänge gehörten seinerzeit der Seehafen Rostock GmbH, die hier zu DDR-Zeiten vietnamesische Vertragsarbeiter untergebracht hatte. Nach der Wende wurde ein Aufgang zur Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) des Landes Mecklenburg-Vorpommern umgewandelt. Die Asylbewerber sollten hier kurzzeitig aufgenommen und dann auf andere Unterbringungsorte im Land verteilt werden. Die Kapazität reichte jedoch nicht aus. Notgedrungen kampierten viele Schutzsuchende auf der Wiese vor dem Haus. Eine Verbesserung der unwürdigen Situation, etwa durch das Aufstellen von mobilen Toiletten, lehnte die Stadt ab. „Je besser wir die unterbringen, um so größer ist der Andrang neuer Asylbewerber am nächsten Tag“, sagte Rostocks Innensenator Peter Magdanz (SPD). Die lange geplante Verlegung der ZASt in eine leerstehende Kaserne wurde immer wieder verschoben.
Aus Kreisen der Parteien DVU und NPD tauchten in hohen Auflagen Flugblätter auf, die ultimativ forderten, die ZASt bis zum 23. August zu räumen. Ansonsten wolle man „das Asylantenproblem selbst in die Hand nehmen“.
Am Abend des 22. August, einem Samstag, versammelten sich bis zu 2000 Menschen vor dem Sonnenblumenhaus. Imbissbuden und Bierstände wurden aufgebaut. Etwa 200 Randalierer skandierten „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“, „Sieg heil!“ und begannen die Fenster der ZASt mit Steinen einzuwerfen. Die viel zu schwachen Polizeikräfte wurden gewaltsam zurückgeschlagen. Am nächsten Tag trafen bekannte Rechtsextremisten aus ganz Deutschland in Rostock ein. Am Abend gingen die Ausschreitungen unter dem Gejohle der Umstehenden weiter.
„Jubel, als Menschen um ihr Leben bangen“
Am Montag, dem 24. August wurde die ZASt evakuiert. Am Abend herrschte Volksfeststimmung. Nun richteten sich die Angriffe gegen den von Vietnamesen bewohnten Aufgang. Mit Molotow-Cocktails wurde das Erdgeschoss in Brand gesetzt, während sich rund 120 ehemalige Vertragsarbeiter, einige Wachleute, der Ausländerbeauftragte der Stadt und ein Fernsehteam des ZDF im Haus aufhielten. Der alarmierten Feuerwehr versperrten die Zuschauermassen absichtlich die Zufahrt. Die Polizei zog sich zeitweise völlig zurück und überließ die Bewohner ihrem Schicksal. Sie konnten sich aus dem brennenden Haus nur mit Mühe über das Dach vor dem Tod retten, nachdem sie zwei verriegelte Türen aufgebrochen hatten. „Tausende jubeln, als Menschen um ihr Leben bangen“, fasst der Rostocker Politikwissenschaftler Thomas Prenzel zusammen.
Nach drei Tagen hatten die Rechten ihr Ziel erreicht. Die ZASt war geräumt, die Vietnamesen wurden außerhalb untergebracht. Keiner von ihnen erhielt irgendeine Entschädigung oder auch nur eine offizielle Entschuldigung. Die allermeisten wurden abgeschoben.
Verstörend war nicht nur, wie offen die Rechtsradikalen ihren rassistischen Menschenhass ausgelebt haben und wie viele Bürger Mordanschläge als Volksbelustigung feierten, sondern auch die Reaktionen der Politik. Ministerpräsident Berndt Seite (CDU) und CDU-Generalsekretär Peter Hintze wollten Linksradikalen und Autonomen eine Mitschuld in die Schuhe schieben. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) behauptete, die Ausschreitungen seien von der Stasi angezettelt und gelenkt worden. Die Union nutzte den Pogrom sogar als Argument für die Einschränkung des Asyls: „Die Vorfälle der vergangenen Tage machen deutlich, dass eine Ergänzung des Asylrechts dringend erforderlich ist, weil die Bevölkerung durch den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird“, sagte Berndt Seite.
Asyldebatte – ein Nährboden der Gewalt
Die Debatte um „Asylbetrug“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ wurde in der Bundesrepublik schon seit den frühen 1980er Jahren von konservativen Zeitungen und Parteien immer wieder angefacht. CDU und CSU forderten eine Änderung des Asylrechts, um „Scheinasylanten“ zurückweisen zu können. Profitiert haben davon die Rechtsaußen-Parteien DVU und Republikaner, die in mehrere Landesparlamente einzogen. Bei der West-Berliner Abgeordnetenhauswahl 1989 erreichten die Republikaner einen Stimmenanteil von 7,5 Prozent.
Nach dem Mauerfall war die „Asyldebatte“ im Osten ein guter Nährboden für rassistische Gewalt. Während viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren und die Wohnungsmieten rasch auf Westniveau anstiegen, kamen aus Rumänien und dem kriegsgeschüttelten Jugoslawien Geflüchtete, denen ein kriminelles Leben in Saus und Braus auf Staatskosten angedichtet wurde. Rassistische Einstellungen hatten einen großen Zulauf.
Der Rostocker Pogrom war nicht der erste. Im September 1991 attackierten Neonazis im sächsischen Hoyerswerda ein Vertragsarbeiterwohnheim und ein Geflüchtetenheim mit Steinen und Brandflaschen. Die Polizei griff kaum ein, während bis zu 500 Menschen teils Beifall klatschend dabeistanden. Nach drei Tagen wurden die Wohnheime evakuiert und die meisten Bewohner direkt abgeschoben. Die Neonazis bejubelten Hoyerswerda daraufhin als „erste ausländerfreie Stadt“.
Die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock waren Vorbilder für eine lange Reihe fremdenfeindlicher Angriffe in ganz Deutschland. Sie gipfelten in zwei tödlichen Brandanschlägen. Im schleswig-holsteinischen Mölln setzten Neonazis in der Nacht auf den 23. November 1992 ein von zwei türkischen Familien bewohntes Haus in Brand – zwei Kinder und ihre Großmutter starben, neun Bewohner wurden schwer verletzt. Am frühen Morgen des 29. Mai 1993 – drei Tage nachdem der Bundestag die umstrittene Einschränkung des Asylrechts beschlossen hatte – zündeten Rechtsextremisten in Solingen das Haus der türkischstämmigen Familie Genç an. Drei Kinder und zwei Frauen kamen in den Flammen um, 17 Bewohner erlitten zum Teil lebensgefährliche Brandverletzungen und Rauchgasvergiftungen.
Rostock, Hoyerswerda, Mölln und Solingen sind nur einige der Orte, an denen es zu solchen Angriffen kam. Allein 1992 wurden in Deutschland 28 Menschen von rechten Gewalttätern getötet. Insbesondere in vielen ostdeutschen Orten gaben Rechtsextreme auf der Straße den Ton an.
Jens Sethmann
Die Unverletzlichkeit der Wohnung
Angriffe auf Wohnhäuser bedrohen nicht nur Leib und Leben der Bewohnerinnen und Bewohner, sie nehmen ihnen auch die Sicherheit, in ihren privaten Räumen geschützt zu sein. Im Grundgesetz hat daher die Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13) einen hohen Stellenwert. Der Artikel schützt die Bürger vor allem vor unberechtigten Durchsuchungen und Lauschangriffen durch staatliche Stellen, verpflichtet den Staat aber auch dazu, zu verhindern, dass die Wohnungen der Bürger durch andere verletzt werden.
Aufsehen hatten im Herbst 2021 Gegner von Corona-Maßnahmen erregt, als sie in großen Gruppen mit Fackeln, Trillerpfeifen und Trommeln vor die Wohnhäuser von sächsischen und mecklenburgischen Landespolitikerinnen zogen. Die Aufzüge hätten – wenn sie als Demonstrationen angemeldet worden wären – von der Polizei verboten werden müssen. Auch wenn die Wohnung selbst nicht angegriffen wurde, verstoßen solche bedrohlichen Einschüchterungsversuche gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung, denn sie zielen eindeutig darauf ab, in der vermeintlich sicheren Wohnung Angst zu verbreiten.
Nach einem ähnlichen Muster verfährt auch eine Neuköllner Neonazi-Gruppe, die Häuser von Leuten, die sich gegen Nazi-Aufkleber und -Wurfzettel wehren, mit Hakenkreuzen beschmiert. Damit signalisieren die Nazis: Wir wissen, wo ihr wohnt. Das ist für die Betroffenen bedrohlich.
js
www.lichtenhagen-1992.de
30.08.2022