Eine für Berliner Wohnverhältnisse ungewöhnliche Kontinuität legt Alfred Stratmann an den Tag: 1934 ist er in der Lychener Straße 74 geboren, im so genannten „Bullenwinkel“, wo er heute noch lebt – Weltkrieg, Mauerbau und Wende hin oder her. In seinem Kiez kennt er jeden Apfelbaum, und wenn er dort seine Runde macht, lässt er sich gern auf ein Schwätzchen mit dem türkischen Gemüsehändler um die Ecke ein – darüber, wie dessen Laden früher ausgesehen oder wie sich die Stargader Straße im Lauf der Zeit verändert hat.
Ungewöhnlich ruhig ist es in diesem Eckchen der Lychener Straße, so als wäre es beim großen Bauboom in den 90ern irgendwie vergessen worden. Fernab der hippen Hektik im Szenekiez rund um den Helmholtzplatz steht hier noch das eine oder andere unsanierte Haus. Im „Bullenwinkel“ geht das Leben einen sehr viel beschaulicheren Gang als an anderen Orten in Prenzlauer Berg. Auf der Ecke hält sich neben der obligatorischen Cocktailbar mit Frühstücksangebot ein Kiezlokal, die „Berliner Bürgerstuben“, in deren Schaufenster ein Skatturnier angekündigt wird. Gegenüber der Hausnummer 74, in deren Hinterhaus Alfred Stratmann nunmehr seit 71 Jahren wohnt, dräut ein schmutzig-grauer Steinquader. Vor dem Krieg war darin die 23. Volksschule, die er als Kind besuchte, heute beherbergt das Grundstück ein Jugendzentrum und eine Musikschule.
„Das war für mich als Kind natürlich praktisch“, erinnert sich Stratmann, „dass die Schule genau gegenüber lag. Da war nur ein Haken dabei: Der Haupteingang war auf der Pappelallee. Hinten war die Turnhalle, das Wohnhaus vom Hausmeister und von ein paar Lehrern. Da sind wir als Jungs auf dem Heimweg natürlich durch die offene Türe und ab nach Hause. Wenn uns der Hausmeister erwischt hat, dann gab’s aber einen ‚Ratzefummel‘, eine Abreibung mit den Handknöcheln hinter dem Ohr, was ganz schön ziepte.“ Er hat es später oft bedauert, dass seine Schulbildung auf Grund der Kriegszeit so dürftig ausgefallen ist: Obwohl er offiziell bis zur 8. Klasse kam, hat er davon nur sechs Schuljahre besucht. „1943/44 gab es schon am Tage Fliegeralarm, da haben wir uns nur Schularbeiten abgeholt und diese dann zu Hause gemacht. 1945 fiel die Schule bis zum September ganz aus.“
Gute Erinnerungen hat Alfred Stratmann an das Kohlengeschäft im Vorderhaus der Lychener 74, in dem sich heute eine Fahrschule befindet. Unzählige Fuhren Kohle haben im Kopfsteinpflaster wortwörtlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Wenn es regnet, gibts da immer eine riesige Pfütze. Die ist sozusagen historisch bedingt. Der Kohlenhändler hatte einen Trecker und zwei oder drei Anhänger, die vor dem Haus beladen wurden. Der hat ja seine Kohlen wirklich vom Auto runter verkauft. Wir Jungs haben ihm geholfen, die Kohlen in die Kohlenkästen zu packen. Dafür haben wir Kaugummis gekriegt, die sein Sohn aus Amerika geschickt hat.“
1933, noch vor seiner Geburt, hatte die Mutter im Haus eine Portierstelle angenommen, die später vierköpfige Familie wohnte dafür mietfrei in der nur 29 Quadratmeter großen Eineinhalbzimmerwohnung im ersten Stock des Hinterhauses. „Freiraum gab es da nicht“, erinnert sich Stratmann. Da der Vater von der Front nicht zurückkam, war das finanzielle Auskommen der jungen Familie zumindest dadurch gesichert. Erst 1972 zog Stratmann ein Stockwerk höher und baute sich in Eigenleistung zwei kleine Wohnungen zu einer Dreizimmerwohnung aus, die auch eine kleine Werkstatt enthält. Bis Ende der 80er Jahre hatte die Mutter noch die Hauswartsstelle inne, 1991 ging diese auf den Sohn über: Hauswart aus Familientradition.
Alfred Stratmann ist jedoch eines mit Sicherheit nicht, nämlich der nette beschränkte Kiezonkel von nebenan, der nie über seine Bezirksgrenzen hinausgekommen ist. Er ist in seinem Arbeitsleben viel gereist, über 30 Jahre arbeitete er für die DEFA-Wochenschau im Bereich Dokumentarfilm, zunächst als Tischler und Bühnenhandwerker, später hat er sich kontinuierlich hochgearbeitet, vom Vorarbeiter zum Bühnen- und Beleuchtungsmeister. Neben unzähligen Reisen in die Ostblockstaaten war er bei jedem politischen Großereignis der DDR dabei. „Parteitage oder irgendwelche Aufzüge zum Beispiel. Wenn Staatsgäste zu Besuch waren, haben wir die durch die DDR begleitet, Gagarin oder Fidel Castro. Wenn unsere Staatsmänner aber mal nach dem Westen gingen, durfte ich nicht mit, weil ich nicht verheiratet war.“ Anfang der 80er übernahm er zunächst die kommissarische Leitung der Abteilung Beleuchtung bei der DEFA, „daraus wurden dann zehn Jahre Abteilungsleiter.“ Als 1991 der staatliche Filmbetrieb abgewickelt wurde, ging Stratmann in den Vorruhestand.
Geerbte Hauswartsstelle
„Weil Mutter nun auch nicht mehr so konnte, fragte mich dann die Hauswirtin, ob ich nicht die Treppen im Haus machen wollte. In den letzten Jahren hatte ich Mutter ja ohnehin schon geholfen. Ich war zwar nie angestellt, aber es hat sich halt so eingebürgert, die Hauswartsstelle ist einfach von der Mutter auf den Sohn übergegangen.“ Das Haus ist seit gut 50 Jahren in Familienbesitz und zur mittlerweile über 80-jährigen Besitzerin Gläser hat er ein sehr gutes Verhältnis, denn sie sieht noch regelmäßig selbst nach dem Rechten. Die Tätigkeiten, die er heute noch ausführt – auf Grund seiner beruflichen Erfahrung zum Teil auch handwerkliche Leistungen – unterscheiden sich deutlich von den Aufgaben seiner Mutter in den Vorkriegsjahren. „Sie hat die Treppen gewischt und im Winter das Dauerlicht eingeschaltet und sonst eher Verwaltungsaufgaben wahrgenommen, wie Handwerker beaufsichtigen und die Mieten kassieren. Einmal in der Woche hat sie Sprechstunde gehabt, dann hat sie in der Küche gesessen und die Mieter kamen mit ihren Belangen. Sie hat auch eine richtige Portierschnauze gehabt. Die war nicht fein, wenn da mal was nicht geklappt hat. Trotzdem hat sie aber gute Zeiten mit den Mietern hier erlebt und auch mit den Leuten auf der Straße.“ Heute ist Alfred Stratmann derjenige, der den Kontakt zu den Mietern hält – und zu den Leuten auf der Straße, denn trotz der vielen Reisen hat er seinen Lebensmittelpunkt immer im Kiez gehabt. „In dieser Ecke bin ich mittlerweile derjenige, der hier am längsten lebt“, sagt er und sieht das irgendwie auch als Berufung an. Seit 2003 engagiert er sich beim Quartiersmanagement Helmholtzplatz. Er sitzt dort in der Kommission, die über die Gelder befindet, die an Kiezprojekte weitergegeben werden. Nach einem Unfall im vergangenen Jahr, der eine Hüftoperation nach sich zog, setzte er 2005 eine Weile aus mit seinen vielen Aufgaben. „Es juckt schon wieder in den Fingern“, bekennt er lachend, denn vom Stillsitzen hält Alfred Stratmann nicht viel.
Elke Koepping
Der Bullenwinkel
Der so genannte „Bullenwinkel“ bezeichnet die kleine Sackgasse am nördlichen Ende der Lychener Straße, wo diese auf die Ringbahnstraße stößt. Im Karree zwischen Pappelallee, Stargader Straße und Dunckerstraße gab es neben den Wohnhäusern um die Jahrhundertwende viele Kuhställe, die zum Teil noch bis in die 50er Jahre hinein existierten. Im „Bullenwinkel“ wurden regelmäßig Viehmärkte veranstaltet, da Fluchtmöglichkeiten für die Tiere wegen der Straßenbegrenzung eingeschränkt waren. Alfred Stratmann blickt übrigens heute noch aus seinem Küchenfenster auf die Mauern des seinerzeit größten Kuhstalls und Fuhrparks im Kiez, bei dem die Anwohner ihre Milchprodukte bezogen. Heute begrenzen die ehemaligen Stallmauern das Grundstück zur gegenüberliegenden Käthe-Kollwitz-Oberschule an der Dunckerstraße.
ek
MieterMagazin 10/05
Hier geht das Leben eine beschaulichere Gangart: im Bullenwinkel in der Lychener Straße
Foto: Elke Koepping
Mit Blechdampfer in Omas Garten: Alfred Stratmann als Steppke
Foto: privat
Viel unterwegs: Stratmann als Mitarbeiter bei der DEFA-Wochenschau
Foto: privat
„Es juckt schon wieder“: Kiez-Aktivist Stratmann 2005
Foto: Elke Koepping
Zum Weiterlesen
Bernt Roder und Bettina Tacke (Herausgeber), Prenzlauer Berg im Wandel der Geschichte, Leben rund um den Helmholtzplatz, Berlin 2004, 295 Seiten, 15,90 Euro, www.bebraverlag.de
02.08.2013