Früher waren Heime „reine Aufbewahrungsstätten“. Gelegentlich teilten sich 30 Kinder einen Raum. Mittlerweile hat sich die Auffassung von Heimerziehung grundlegend gewandelt. Heute dominieren dezentrale Einrichtungen, in denen die Kinder im Schnitt zwei Jahre in familiären Wohngruppen leben. Die Angebote reichen von Jugendwohngemeinschaften bis zu intensiv durch pädagogische und psychologische Fachkräfte betreute Einrichtungen. In Berlin gibt es 190 Kinderheime mit über 5000 Plätzen, die zu 95 Prozent belegt sind.
Stolz zeigt Erhan* seine Urkunden und Medaillen, die die Wände seines kleinen, hellen Zimmers schmücken und von seinen sportlichen Erfolgen berichten: Streetdance-Meisterschaften, Tischtennis, Kickboxen. Auf dem Schreibtisch verteilt sind Fotos vom letzten Ostsee-Urlaub und der Weihnachtsfeier mit der Heimgruppe.
Seit drei Jahren wohnt der 16-jährige Realschüler im evangelischen Kinderheim Elisabethstift in Hermsdorf. An die Zeit davor erinnert er sich nicht gerne. Die Mutter war alkoholabhängig und lebte von Erhans Vater getrennt. „Sie lag nur noch betrunken auf dem Sofa und kümmerte sich um nichts mehr“, sagt Erhan. Die ältere Schwester holte ihn schließlich aus der verwahrlosten Wohnung und ging mit ihm zum Jugendamt, das eine Unterbringung im Elisabethstift veranlasste.
Das 181 Jahre alte Kinderheim verfügt über 130 Plätze für Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 18 Jahren, verteilt auf verschiedene Wohnungen. Erhan wohnt mit drei weiteren Jugendlichen in einer sogenannten Verselbstständigungsgruppe, die nur noch stundenweise von Erziehern betreut wird. In der großen Wohnung haben alle ihr eigenes Zimmer: zweckmäßig und dennoch wohnlich, mit Schrankwand, Regalen, Tisch und Bett aus Kiefernholz – durch Spenden finanziert. Die Habseligkeiten der meisten Kinder sind überschaubar: ein paar Bücher, Kuscheltiere, Popstar- und Tierposter, vielleicht eine Musikanlage. Anfangs lebte Erhan in einer rund um die Uhr betreuten Regelgruppe mit sechs Kindern im Alter von neun bis zwölf Jahren. Drei Erzieher arbeiten dort im 24-Stunden-Rhythmus. Dieses Team ändert sich in der Regel nicht, und die Kinder haben so ihre engen Bezugspersonen. Alltägliche Dinge – Hygiene, Ordnung, pünktliches Aufstehen, zur Schule gehen – müssen viele erst von Grund auf lernen. „Wenn unsere Kinder in eine Verselbstständigungsgruppe wechseln, haben sie bewiesen, dass sie mit Freiheiten umgehen und sich an Strukturen halten können“, erklärt Helmut Wegner, Geschäftsführer und Leiter des Elisabethstifts. In der Gruppe kochen die Jugendlichen selbst, kümmern sich um ihre Wäsche, putzen und kaufen ein, denn sie haben mittlerweile auch gelernt, Geld zu verwalten. „Ausgehzeiten“ sind generell altersgestaffelt. „In der Verselbstständigungsgruppe ist um 22 Uhr Schluss“, so Wegner.
Mittlerweile besucht Erhan seine Mutter wieder regelmäßig am Wochenende. Er hofft, dass sie ihre Sucht endlich dauerhaft in den Griff bekommt. Grundsätzlich wird die Zusammenarbeit mit den Eltern als wichtig angesehen, denn das oberste Ziel ist die Rückkehr der Kinder in die Familien – es sei denn, die körperliche und seelische Unversehrtheit des Kindes ist dort nicht gewährleistet.
Soziale Verwaisung
Erhans Schicksal ist beispielhaft. Fast alle Kinder, für die eine Heimunterbringung die einzige Chance ist, sind „Sozialwaisen“. Sie kommen aus Familien, die seit mehreren Generationen von Sozialhilfe leben. Ihre Eltern haben häufig Suchtprobleme und sind mit der Erziehung schlichtweg überfordert. Auch psychische Erkrankungen der Eltern belasten die Entwicklung der Kinder. Heimeinweisung gilt, auch wegen der hohen Kosten, als letzte Maßnahme der Jugendhilfe. In Zeiten knapper Kassen müssen die Einrichtungen sehr gut wirtschaften und sind mehr und mehr auf Spenden angewiesen. „Die Ausgaben für alle Hilfen der Erziehung sind in den letzten fünf Jahren um 130 Millionen Euro gekürzt worden“, so Ute Schönherr, Referatsleiterin von der Senatsjugendverwaltung. Im Zuge dessen wurden die Heimplätze in Berlin von 6300 auf 5000 reduziert. Immerhin liegen die Kosten für einen Platz zwischen 90 und 180 Euro pro Tag, abhängig von Therapieangebot und Betreuungsaufwand.
Trend zur Dezentralisierung
Die dezentrale Betreuung ist politisch gewollt, nicht zuletzt, da sie kostengünstiger ist. Der Senat zahlt für eine 170 Quadratmeter große Wohnung für eine betreute Wohngemeinschaft mit sechs Kindern maximal 1150 Euro warm. Die Einrichtungsaufsicht der Jugendverwaltung prüft, ob alle Auflagen wie zwei Bäder, ein zweiter Fluchtweg oder gesicherte Balkone erfüllt sind. „Es ist nicht leicht, entsprechende Wohnungen zu finden“, sagt Helmut Wegner. Probleme mit Nachbarn und Vermietern sind Alltag. Wegner ist froh, wenn eine Wohngruppe auf Mieter trifft, die „ein soziales Herz haben“. Auf dem Gelände in Hermsdorf sei es einfacher. „Man kennt sich und die Nachbarn sind etwas nachsichtiger.“
Vera Kluge, Leiterin des „Kinderheims Pawel Kortschagin“ in Buch, sieht die seit den 90er Jahren vorangetriebene Dezentralisierung überwiegend positiv: „Die Jugendlichen leben in ganz normalen Mietshäusern, in ganz normalen Wohnungen. Wir wollen den jungen Menschen das Leben so nahe bringen, wie es ist, sie sollen dort ihr soziales Netz bilden.“ In der alten Villa in Buch, mit großem Garten, Basketballplatz und allerlei Klettergerüsten, ist eine Krisengruppe für Notsituationen untergebracht, in die Kinder vorübergehend ziehen, wenn sie zum Beispiel von der Polizei aufgegriffen wurden. Als die 16-jährige Katja* vor drei Jahren hierher kam, brauchte sie intensive pädagogische Betreuung. Deshalb lebt sie nun in einer sogenannten Erziehungsstelle, das heißt im Haushalt einer Erzieherin, die sie mittlerweile „Mama“ nennt. In ihre Herkunftsfamilie möchte Katja nie wieder zurück, denn dort hat sie „die Hölle“ erlebt. „80 Prozent unserer Mädchen haben sexuellen Missbrauch und Gewalt erfahren“, erklärt Vera Kluge. In solchen Fällen ist Elternarbeit oder gar eine Rückführung in die Familie äußerst schwierig. Die kleinen Kinder haben dann zumindest die Chance, von Pflegefamilien aufgenommen zu werden. Massiv geht die Heimleitung gegen Gewalt, Alkohol, Drogen und Schulschwänzen vor. Strafen werden allerdings nicht gerne verhängt, und das wissen die Jugendlichen. „Wir können mit ihnen reden oder sie bei Kinobesuchen ausschließen, doch manchmal stoßen wir an unsere Grenzen.“ Dann bleiben nur noch Einrichtungen mit entsprechendem pädagogischen Ansatz, falls die Kinder nicht weglaufen und „untertauchen“.
Nicole Lindner-Verweyen
* Namen von der Redaktion geändert
MieterMagazin 10/07
Kinderheim Elisabethstift in Hermsdorf
alle Fotos: Rolf Schulten
Kinderheim Elisabethstift in Hermsdorf, Esszimmer
Kinderheim Elisabethstift in Hermsdorf,
Erhan in seinem Zimmer
Bucher Kinderheim „Pawel Kortschagin“: Basketballplatz
Bucher Kinderheim „Pawel Kortschagin“: Mittagessen in der Regelgruppe
Bucher Kinderheim „Pawel Kortschagin“: Tierhaltung ist den Kindern erlaubt
Vom Waisenhaus zur Wohngemeinschaft
Waisenhäuser entwickelten sich aus den Findel- und Armenhäusern des Mittelalters. Sie wurden in der Neuzeit zu Fürsorgeerziehungsheimen, in denen bis zu mehrere hundert verwaister Kinder unter strafvollzugsähnlichen Bedingungen lebten. Auch straffällige, geistig oder körperlich behinderte oder psychisch kranke Kinder und Jugendliche wurden aus dem öffentlichen Leben verbannt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde mangelnde Konformität als Verwahrlosung interpretiert und mit Maßnahmen der Fürsorgeerziehung bestraft. In der frühen Nachkriegszeit wurden die Konzepte der Heimerziehung weitgehend bruchlos übernommen. Die Anstalten existierten – häufig mit demselben Personal – weiter. Die Kritik an herabwürdigenden Erziehungsmethoden und zunehmende Kenntnis über Misshandlungen, Zwangsarbeit und Folter führte in den 70er Jahren zu grundlegenden Veränderungen der Konzepte in der Heimerziehung.
nlv
21.12.2016