Als die Mauer fiel, wurde Berlin vom Symbol des geteilten Deutschlands zum Testfall für das Zusammenwachsen zweier Lebenswelten, die fast 30 Jahre lang in direkter Nachbarschaft entstanden waren. Im Rahmen einer Studie ist das Institut für soziale Stadtentwicklung (IFSS) der Frage nachgegangen, ob die Wiedervereinigungsgeschichte eine Erfolgsgeschichte war und traf dabei neben den Fakten auf sehr unterschiedliche Interpretations- und Bewertungsmuster, die in beiden Teilen Deutschlands entstanden und deshalb selbst ein Teil der Vereinigungsgeschichte sind.
„Niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten“, hatte Walter Ulbricht noch am 15. Juni 1961 vor Journalisten gesagt. „Mir ist nicht bekannt“, fügte der damalige DDR-Staatsratsvorsitzende hinzu, „dass eine solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen …“. Zwei Monate später wusste man: Es waren noch Kapazitäten frei. Im August desselben Jahres begann die Errichtung jener Grenzanlage, die anfänglich aus Stacheldraht, später aus Beton die beiden Stadthälften 28 Jahre lang teilte.
Sowohl in der Hauptstadt des neuen Arbeiter- und Bauernstaates wie im „Schaufenster des Westens“ war der Wohnungsbau die Renommiermeile im Kampf der Wirtschafts- und Sozialsysteme. Die Devise hieß deshalb: Metern – nicht trotz, sondern wegen der Mauer. Seit Beginn der 50er bis zum Ende der 80er Jahre entstanden in West-Berlin 465.000 öffentlich geförderte Mietwohnungen. Im Ostteil, der Hauptstadt des Arbeiter- und Bauernstaates, wurden im gleichen Zeitraum 320.000 Wohnungen staatlich errichtet – für die bevölkerungsmäßig kleinere Stadthälfte eine stolze Leistung: gebauter Beweis für die „Überlegenheit des Sozialismus“.
Was in den Chroniken der Nachwende als freie Wohnungsmarktwirtschaft der staatlich regulierten Planwirtschaft gegenübergestellt wird, waren in Wahrheit zwei auf unterschiedliche Weise durchregulierte städtische Wohnungsmärkte. Und das Erbe dieses Systemwettbewerbs – das gilt für beide Stadthälften – ist mindestens so sehr historische Last wie Errungenschaft. Die erdrückende staatliche Verschuldung des Berliner Haushalts stammt zu einem großen Teil aus der Förderung des Sozialen Wohnungsbaus made in West-Berlin. In Ost-Berlin waren die Finanzierungslasten dagegen in einem gesamtstaatlichen Schuldenberg versteckt, der als Erblast der deutschen Einheit in den Bundeshaushalt übernommen wurde.
Das qualitative Erbe des Systemwettbewerbs wiegt jedoch mindestens so schwer wie das fiskalische. Die Großsiedlungen in Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen hängen heute als Empfänger eines staatlich finanzierten Abriss- und Aufwertungsprogramms zum Stadtumbau am gesamtdeutschen Tropf. Die West-Berliner Zwillingsbrüder der etwas früheren Großsiedlungs-Ära in Spandau, Reinickendorf, Neukölln und anderswo gehören ebenfalls zu den Sorgenkindern der Gesamt-Berliner Stadtentwicklung und beklagen wie die östlichen Großsiedlungen zunehmende Leerstände, Abwanderung und Attraktivitätsverlust.
Desinteresse an den Fakten
Wer glaubt, dass man sich im Jubiläumsjahr des Mauerfalls bei der Bilanzierung von den systemgefärbten Brillen der Vergangenheit getrennt hat, sieht sich schnell getäuscht. Das Interesse am öffentlichen Austragen der eigenen Vorurteile steht in einem merkwürdigen Kontrast zum Desinteresse an den Fakten. Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) berichtete jüngst, dass die Anfragen an das DIW heute „in größerer Zahl aus dem Ausland kommen als aus dem wiedervereinigten Deutschland“. Immer noch wird eine exodusähnliche Geschichte vom Zug ins gelobte Land erzählt: von Brüdern und Schwestern, die aus sozialistischer Knechtschaft heimgekehrt sind ins demokratisch und marktwirtschaftlich verfasste liberale Elternhaus. Und wehe, wenn die Heimgekehrten unter dem vereinten Dach nach jener Hand schlagen, die sie nunmehr füttert. Für den Journalisten Roger Willemsen gab es zwei Selbstbeschreibungen, die den Neuankömmlingen im Westen angeboten wurden: „Verriet er die alten Ideen nicht komplett, war er ein Betonkopf – tat er es doch, war er ein Wendehals.“ Dabei gibt es gute Gründe, die einfachen Weltbilder hüben wie drüben zu korrigieren, denn auch das Erfolgsmodell „freie Marktwirtschaft“ hat in der Wirtschaftskrise reichlich Risse bekommen. So manchem CDU-Politiker, der zurzeit mit kapitalismuskritischer Sozialrhetorik daherkommt, hätte man in West-Berlin vor dem Mauerfall noch zugerufen: Geh doch rüber! Kurzum, einfache Weltbilder sind auch bei einer wohnungspolitischen Bilanz für das wiedervereinigte Berlin denkbar ungeeignet: Kaum ein angeblicher Erfolgs- oder Negativposten, der nahtlos in die vorgefügten Schablonen Ost-West passen würde.
Nehmen wir die Bevölkerungsentwicklung, ein einfach zu quantifizierender, anschaulicher und deshalb beliebter Gradmesser für Positiv- oder Negativentwicklungen von Städten und Regionen. Der Architektursoziologe Harald Bodenschatz bezeichnet die erste Periode nach dem Mauerfall bis 1995, in der „das Wachstum Berlins grenzenlos zu sein schien“, als „Rauschperiode“. Tatsächlich ist diese Boomphase auch an einem – in der Rückschau moderaten – Bevölkerungszuwachs ablesbar. Von 1991 mit 3,45 Millionen stieg die Bevölkerung auf 3,47 Millionen im Jahr 1995. Regierungssitz- und Hauptstadtentscheidung sowie das Um- und Ausland machten Berlin zum Magneten. Auch wenn es sich bei diesem Zuwachs wahrlich um keine Bevölkerungsexplosion handelte, wurde er in Wachstumsprognosen zu metropolitanem Größenwahn gesteigert und von Berlins damaligem Bausenator Nagel in ebenso megalomane Bauprojekte übersetzt.
Aber bereits 1995 endete die Euphorie, während der Wohnungsbau – leicht verzögert – 1998 sein jähes Ende fand. Bodenschatz nennt diese Zeit die „Ernüchterungsperiode“. Die Bevölkerungszahl sank hauptsächlich aufgrund einer über Fördergebietsgesetzgebung und Eigenheimzulage staatlich unterstützten Wanderung ins Umland bis 2000 auf 3,38 Millionen. Berlin wird zum einig Volk von Randwanderern, allerdings sind dabei die Ostbezirke führend. Bis 2006 gab es auch deshalb eine „Stagnationsperiode“ (Bodenschatz), weil Politik, Medien und Investoren endlich entdeckten, dass die Bevölkerung demografisch bedingt schrumpfen wird und Berlin allenfalls durch Zuwanderung zusätzliche Bewohner gewinnt.
Ein Erbe der späten DDR
Erst danach wurde der Stillstand von einer neuen Wachstumsphase abgelöst. Sieht man hinter die Triebfedern dieses neuerlichen „Aufschwungs“, so entdeckt man neben einer verstärkten Zuwanderung aus dem Ausland die Spätfolgen von deutschlandweit einmalig hohen Geburtenzahlen, die es in der DDR der 80er Jahre dank einer kompromisslosen Familien-und Geburtenförderung gegeben hat. Dieses Honecker-Erbe spült heute eine sehr hohe Zahl junger, großstadtorientierter Erwachsener in die Hauptstadt, und die Sanierungs- und Szenegebiete von Friedrichshain-Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Mitte profitieren davon. Während man sich die Aufwärtsbewegung der Szenegebiete gerne als Erfolg der Stadterneuerung ans Revers heftet, werden die Spätfolgen der DDR-Familienförderung weitaus weniger beachtet.
Wahrhaft vereint sind Berlins Stadthälften im Prozess der kollektiven Alterung. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung, die auch den Wohnungsmarkt und die bauliche Zukunft der Stadt prägen wird. Die erst 20 Jahre junge Metropole Berlin ist zwischen 1992 und 2007 kollektiv um 3,5 Jahre gealtert. Allerdings waren die Bezirke davon sehr unterschiedlich und aus unterschiedlichen Gründen betroffen. Am geringsten war der Anstieg zwischen 1990 und 2007 in Treptow-Köpenick (0,5 Jahre), in Pankow (1,1) und in Friedrichshain-Kreuzberg (1,4). Während das Durchschnittsalter jedoch in Friedrichshain-Kreuzberg bei 37,2 Jahren liegt, beträgt es in Treptow-Köpenick 42 Jahre. Gemessen an diesem Durchschnittsalter sind Charlottenburg-Wilmersdorf und Steglitz-Zehlendorf (beide 45,4 Jahre) die ältesten Bezirke Berlins. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist dagegen mit 37,2 Jahren der jüngste, ein Beleg für die bekannte Einsicht, dass Urbanität bislang immer jung war. Neben der Bestandsaufnahme gibt die Dynamik der Altersentwicklung Auskunft über die Attraktivität und die Perspektiven der Bezirke. Der ursprünglich sehr junge Bezirk Marzahn-Hellersdorf weist den stärksten Anstieg im Durchschnittsalter auf. Während dort das Durchschnittsalter zwischen 1999 und 2007 um 11,8 Jahre angestiegen ist, waren es in Friedrichshain-Kreuzberg 1,4 Jahre und in Mitte 1,9. Auch im – gemessen am Durchschnitt – ältesten Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf ging die Alterung zwischen 1992 und 2008 mit 2,6 Jahren langsamer vonstatten als in der Gesamtstadt. Im Fall Marzahn ist die Alterung das Ergebnis einer dynamischen Abwanderung der Jüngeren, im Fall des Quartiers der „Wilmersdorfer Witwen“ ein Resultat des geruhsamen ortsansässigen Älterwerdens. Hält man sich allerdings an die populäre Meinung „Wo die Jugend ist, da ist Zukunft“, dann liegt die Zukunft im Osten – unzweifelhaft eine Provokation, denn einer solchen Bewertung dürfte sich eine insgesamt alternde Gesellschaft zunehmend weniger anschließen.
In den Szenegebieten von Friedrichshain, Mitte und Pankow wird die kollektive Alterung dadurch gebremst, dass die „Jugend der Welt“ endlich jenem Ruf der Hauptstadt gefolgt ist, den die DDR zur Zeit des Eisernen Vorhangs immer wieder in den sozialistischen Teil der Welt gesendet hatte. Dass man ihm heute im Ausland gerne folgt, liegt allerdings weniger an inszenierter Jugendlichkeit als daran, dass die französische und britische Jugend mit Berlin eine ebenso pulsierende und bunte wie vergleichsweise preiswerte Metropole mit bezahlbaren Lebenshaltungskosten vorfindet: kulturelle Vielfalt, die man sich leisten kann.
Türkische Berliner überwiegend im Westen
Die multikulturelle Mischung der Bevölkerung gehörte vor der Wende zu den wichtigsten stadtbildprägenden Unterschieden zwischen den beiden Stadthälften. Seit der Wende hat sich einiges verändert. Die Metropole Berlin ist bunter geworden, aber dies gilt nicht für beide Stadthälften gleichermaßen und die Farben sind sehr verschieden verteilt. Der Anteil der Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit ist trotz Einbürgerung von 385.900 Menschen im Jahr 1992 auf rund 470.000 gestiegen. Fragt man jedoch, ob sich in punkto multikultureller Mischung eine deutliche Annäherung zwischen Ost und West entwickelt hat, so lautet die Antwort: nein! Der Anteil der Ausländerbevölkerung in den alten östlichen Stadtbezirken hat sich zwar von rund 2 Prozent im Jahr 1999 auf 4,3 Prozent mehr als verdoppelt. Aber die nunmehr 90.100 Ausländer in den alten östlichen Stadtbezirken machten auch 2008 lediglich 19 Prozent der Ausländerbevölkerung in ganz Berlin aus.
Ein anderer Unterschied fällt noch mehr ins Gewicht: Diejenige Bevölkerung, die aufgrund einer schlechteren Ausbildung und mangelhafter Deutschkenntnisse geringere Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen haben, wohnen nach wie vor der Wende im alten Westen. Nehmen wir die wichtigste Großgemeinde – die türkischen Bewohner – als Beispiel. Im Jahr 2008 wohnten rund 96 Prozent der insgesamt rund 111.300 türkischen Berliner in den (alten) westlichen Bezirken. Hinzu kommen gut 52.000 Eingebürgerte (Ende 2008), deren Herkunftsland die Türkei war. Nimmt man dagegen den alten Bezirk Prenzlauer Berg (ohne Pankow/Weißensee), so hat der Bezirk zwar eine Ausländerpopulation von 12 Prozent, aber lediglich 2 Prozent dieser Ausländerbevölkerung stammt aus der Türkei. In Kreuzberg waren es im Jahr 2008 dagegen 44 Prozent. Die Gesamtstadt, wie wir sie heute vor uns haben, bietet das Bild von zwei Typen der Fremdenmischung: eine traditionelle und fortgesetzt starke Konzentration der Ausländerbevölkerung mit erheblichen Integrationsschwierigkeiten im Westteil der Stadt und eine sehr viel geringere „neue“ Mischung von Deutschen und Ausländern in den Ostbezirken.
Während die ethnische Mischung wenig vorangekommen ist, hat das deutsch-deutsche Zusammenleben in Berlin gewonnen. Von den Zuzüglern in die alten Ostbezirke von Mitte, Alt-Pankow, Prenzlauer Berg und Friedrichshain kamen 1994 rund 4500 aus den alten West-Berliner Bezirken. Bezogen auf die Gebietsbevölkerung dieser Ostbezirke machten die Westimporte jährlich rund 2,3 Prozent aus. 2002 waren bereits 3,1 Prozent der Gebietsbevölkerung Ankömmlinge aus dem (alten) Westen. In der Gegenrichtung war die Mobilität nicht ganz so ausgeprägt. In den Altbezirken Wedding, Tiergarten und Kreuzberg machten die Zuzüge aus dem Osten 1994 rund 1 Prozent der Gebietsbevölkerung aus. Aber 2002 waren es bereits 1,9 Prozent – ein Drittel der Mobilität, die man in West-Ost-Richtung beobachten konnte. Die Tendenz ist steigend. Allerdings erklärt sich der Unterschied auch daraus, dass die Bevölkerungszahl in der Osthälfte um 40 Prozent kleiner war als die West-Berliner.
Vor allem die Ost-Berliner Szenegebiete in Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte haben in punkto Ost-West-Mischung Kronzeugenstatus. Für die Alteingesessenen gilt die Mobilität dagegen eher als Beweis für die Verdrängung der Ossis durch Besserverdiener aus dem Westen. Während die Stadterneuerungsgebiete von Mitte die Westinvasion bestätigen, stimmt sie für die Erneuerungsgebiete von Prenzlauer Berg nicht oder nur teilweise. Zwischen 1994 und 2002 stieg der Anteil der Zuzüge an der Gebietsbevölkerung von 5 auf 7 Prozent an. Aber 70 Prozent aller Zuzüge kamen in Prenzelberg aus den alten Ostbezirken. In Mitte dagegen stammten mehr als die Hälfte der Zuzüge des Jahres 2002 aus den alten Westbezirken.
Eine ganz andere Form von Verdrängung wird sichtbar, wenn man sich den Anstieg der Bevölkerung mit Bildungsabschlüssen ansieht, die zum Hochschulbesuch berechtigen. In Prenzlauer Berg hat zwischen 1991 und 1999 fast eine Verdoppelung von 18 auf 33 Prozent stattgefunden. Die Stadterneuerungsgebiete dort sind also Zuzugsgebiete der jüngeren Wendegewinner aus Ost und West gleichermaßen.
Die Gretchenfrage der Vereinigung liegt selbstverständlich woanders. Hat das Wohlstandsniveau im Osten endlich Weststandard erreicht oder hinkt es hinterher? Für das Bundesgebiet hält das DIW fest, dass die Einkommensangleichung nach der Wende zwar schnelle Fortschritte gemacht habe. Seit 2000 seien die Realeinkommen in beiden Landesteilen aber gesunken. Die Einkommen in Ostdeutschland sind davon besonders betroffen, weshalb der Abstand wieder etwas größer geworden ist. Die Einkommen Ost liegen heute bei etwa 80 Prozent des Westniveaus, „bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung sind es dagegen lediglich 70“ – ein Hinweis darauf, dass die Wirtschaftsleistung mit der Einkommensangleichung nicht Schritt gehalten hat. Beim Wohnen, einem Kernstück von Lebensqualität, sieht es jedoch anders aus: „Nur bei der Wohnung und bei Freizeit haben sich die Zufriedenheitskurven in Ost und West tatsächlich angenähert“, meldet das DIW. Der materielle Hintergrund der Wohnzufriedenheit ist vor allem in Berlin ablesbar. Der Ostabstand in der Pro-Kopf-Wohnfläche lag 1990 mit 13 Prozent hinter dem Westen und war damit geringer als im Bundesgebiet, wo er bei 25 Prozent lag.
Zeitweilig waren die Ost-Altbaumieten höher als im Westen
Bis 1999 ist die durchschnittliche Quadratmeterzahl in Ost-Berlin pro Kopf um 5,5 auf 36,2 Quadratmeter angestiegen, im Westen nur um 3,5 Quadratmeter. Damit gab es in weniger als zehn Jahren bei diesem Qualitätsindikator eine deutliche Annäherung zwischen Ost- und West-Berlin. Ähnliches gilt für die Ausstattung. Noch zum Zeitpunkt der Gebäude- und Wohnungszählung hatten knapp 40 Prozent der Ost-Berliner Wohnungen keine Sammelheizung und lediglich 23 Prozent der Wohnungen lagen in Gebäuden ohne Schäden. 5,1 Prozent der Wohnungen hatten kein Bad und 2,5 Prozent besaßen kein Innen-WC (rund 17.000 Wohnungen). Folgerichtig war, dass sich 1995 rund 70 Prozent der insgesamt 110.000 Wohnungen in förmlich festgelegten Sanierungsgebieten des Ostteils der Stadt befanden. Acht Jahre später, im Jahr 2003, lag die Zahl der Substandardwohnungen ohne Sammelheizung oder Bad bei 144.000 – dreimal so viel wie in den Westbezirken, aber deutlich geringer als zum Zeitpunkt des Mauerfalls.
Umsonst war dieser Qualitätssprung für die Ost-Berliner aber nicht zu haben. Zeitweilig lagen die Mieten von Altbauwohnungen, die vor 1918 gebaut wurden und Vollstandard hatten, im statistischen Schnitt über denen West-Berlins – ein Ergebnis der Tatsache, dass ein großer Teil dieser Wohnungen erst durch Modernisierung auf West-Berliner Normalniveau gebracht worden war. Nimmt man den Durchschnitt aller Nettomieten in Ost-Berlin über alle Baualtersgruppen hinweg, so liegen sie 40 Cent hinter denen des Westens – ein Abstand, der auch dem geringer gewordenen Einkommensunterschied zwischen Ost und West entspricht: Lag 1999 noch der Unterschied im Pro-Kopf-Nettoeinkommen bei 50 Euro, so war er bereits 2006 halbiert. Die meisten Haushalte, die ein Nettoeinkommen deutlich unterhalb von 900 Euro haben, wohnen allerdings in den Problemgebieten von Kreuzberg und Neukölln, die schon der „Monitor Soziale Stadt“ des Berliner Senats als Problemgebiete markiert hatte.
Man kann dem Fazit des Vorsitzenden des Berliner Mietervereins, Dr. Franz-Georg Rips zustimmen: „Beim Wohnen stehen sich Ost und West 20 Jahre nach Mauerfall näher als in allen anderen Lebensbereichen. Damit gibt es nach 20 Jahren Mauerfall in einem Kernbereich von Lebensqualität eine Positivmeldung.“ Aber man möchte denjenigen, die als Punktrichter beim Wettlauf Ost-West auftreten, auch zurufen: Kümmert Euch weniger um die Unterschiede von Ossis und Wessis als um diejenigen, die vor und nach der Wende erst gar nicht zum Rennen antreten konnten.
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„Berlin ist eine Metropole, die sich auch ein Mieter mit mittlerem Einkommen leisten kann.“ Diese Worte des Vorsitzenden des Berliner Mietervereins, Dr. Franz-Georg Rips, markieren eine Situation, die weder selbstverständlich, noch in der Bewertung unumstritten ist. Die Innenstadtmieten Berlins liegen nicht auf dem Weltniveau von Paris, ja sogar deutlich unter dem von München, Hamburg oder Stuttgart. Für die einen ist das ein Attraktivitätsfaktor und eine sozialstaatliche Errungenschaft, für die anderen ein Dorn im Auge einer verwertungsorientierten Wohnungsmarktwirtschaft.
In der Hauptsache ist es der Ausfluss einer geringen Wohnkaufkraft, zu der nicht zuletzt die Vereinigung der beiden Stadthälften beigetragen hat. Das Berliner Durchschnittseinkommen liegt bei 68 Prozent des Hamburgers. Das preiswerte Mietniveau hat allerdings auch internationale Ausstrahlung. Die Innovativen, die Kreativen und die Jungen, um die jede Metropole ringt, gehören oft nicht zu den Einkommensstarken. Die Attraktivität, die Berlin für diese Gruppen besitzt, wäre ohne ein moderates Mietniveau aber nicht denkbar.
Anfällig für den Berlin-Charme waren allerdings nicht nur Kreative und Innovative, sondern auch die Vorkrise-Analysten von internationalen Immobilienmärkten. In diesen Kreisen galt der vereinigte Wohnungsmarkt Deutschlands und besonders Berlin als Revier für die Jäger des ungehobenen Schatzes. Der Immobiliensektor der vereinigten Republik, so hieß es, sei stark unterbewertet. In der Folge haben Renditeerwartungen in zweistelliger Größenordnung die Religionsgemeinschaft des „share-holder-values“ nach Deutschland und Berlin gelockt. In kürzester Zeit wurden attraktive Wohnungen, darunter auch Teile des edlen UNESCO-Erbes der 20er Jahre, zum Investitionsfeld jener neuen Investoren, die Franz Müntefering noch unfein als Heuschrecken bezeichnet hatte. Deren Hinterlassenschaft nach der weltweiten Banken- und Immobilienkrise sind hier Verdrängung, dort Desinvestition und ein nicht anhaltendes Verkaufskarussell.
Hinter dieser Verteidigungsfront ist die Ost-West-Frage zurückgetreten. Fragt man dennoch nach den Unterschieden im Mietenniveau zwischen den beiden Stadthälften, so wird deutlich, dass sich der Abstand von 1998 auf 2008 langsam von 10,5 Prozent auf 7,2 Prozent verringert hat. Die Ostwohnung war 1998 im Schnitt 52 Cent pro Quadratmeter billiger, während sie zehn Jahre später nur noch 41 Cent weniger kostet. Diese Abstandsmessung ist bereinigt um die Unterschiede in der Zusammensetzung des Wohnungsbestandes. Soll heißen: Es wurden nur nach Ausstattung, Baualter, Größe und Lage vergleichbare Wohnungen miteinander verglichen. Die Angleichung im Mietniveau ist im Großen und Ganzen von einer Angleichung im Qualitätsniveau begleitet worden, wobei die Durchschnittswerte zwischen den Berliner Stadtgebieten große Unterschiede – wie dem teuren Prenzlauer Berg und dem preiswerteren Kreuzberg – verdecken. Dass die rasche Angleichung dennoch ohne soziale Katastrophen abgelaufen ist, verdankt sich auch einer erkämpften und sehr umstrittenen Preisdämpfungspolitik, an der die Mieterorganisationen beteiligt waren. Eine bezahlbare Metropole entsteht nicht von selbst und sie ist politisch nicht umsonst zu haben.
ah
MieterMagazin 10/09
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Die Großsiedlungen sind städtebauliche Sorgenkinder – im Westen wie im Osten
(hier: Gropiusstadt im Westen)
alle Fotos: Christian Muhrbeck
Die Großsiedlungen sind städtebauliche Sorgenkinder – im Westen wie im Osten
(hier: Marzahn im Osten)
Dass die östlichen Stadterneuerungsgebiete ein niedriges Durchschnittsalter haben, liegt auch an der DDR-Geburtenförderung der 80er Jahre (oben: Mütter im Friedrichshainer Samariter-Kiez) – älter wird Berliner hüben wie drüben (unten: Senioren in Charlottenburg)
In der Stadterneuerung genossen die Ostbezirke in den vergangegen zwei Jahrzehnten eine deutliche Priorität – wodurch sich das Wohnen im Westen und Osten deutlich angenähert hat
(oben: Altbau in der Spandauer Vorstadt in Mitte, unten: Altbau in Wilmersdorf)
Die gesamte Studie
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20 Jahre Mauerfall – eine Studie
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06.06.2013