Bei Grabungen auf dem Petriplatz wurde eines der ältesten Relikte der mittelalterlichen Doppelstadt Cölln/Berlin geborgen: ein Holzbalken aus dem Jahr 1183. Auch an anderen Stellen kommen Funde zutage, die Berlins Vergangenheit erhellen. Die Spreestadt beschäftigt sich zunehmend mit ihrer verschütteten Geschichte.
Wer vom Spittelmarkt über die Gertraudenstraße Richtung Rotes Rathaus geht, durchquert einen autogerecht ausgebauten Stadtteil, der von Hochhäusern flankiert wird. Dass hier auf der Fischerinsel vor über 800 Jahren die Doppelstadt Cölln/Berlin entstanden ist, wissen wenige – historische Spuren sind an diesem Ort rar. Als bei Bauarbeiten am Petriplatz Teile der alten Stadt Cölln freigelegt wurden, rückte die verschollene Geschichte der Stadt aber schlagartig ins Rampenlicht. Dort, wo heute gegraben wird, stand früher das Zentrum Cöllns: das alte Rathaus, eine Lateinschule, das Gymnasium, verschiedene Wohn- und Geschäftshäuser sowie die Petrikirche und der zugehörige Friedhof.
Seit März 2007 werden am Petriplatz im Vorfeld der geplanten städtebaulichen Neuordnung archäologische Grabungen durchgeführt. Schon bei der Entsiegelung der Parkplatzoberfläche kamen die gut erhaltenen Fundamente der Cöllnischen Lateinschule wieder zum Vorschein, die 1730 bis auf die Grundmauern abgebrannt ist. Nach dem Brand wurden die Schulkeller als Kalkgruben benutzt und später zugeschüttet. Aus den verfüllten Kellern wurden jetzt Tausende von Gegenständen aus der Zeit vor 1730 geborgen: Teller, Glasflaschen, Metallobjekte, Münzen, Kämme, Bürsten und vieles mehr.
Besinnung auf die Anfänge
Jenseits der Schulmauern wurden Keller und Brunnen der frühen Bewohner Cöllns ausgegraben. Anhand der Jahresringe konnte eine Holzplanke aus einem dieser Keller auf das Jahr 1183 datiert werden. Dies ist ein wichtiger Hinweis, dass hier bereits vor der ersten urkundlichen Erwähnung Cöllns – und damit auch des heutigen Berlin – eine Siedlung bestand. Auch in dieser Umgebung wurden viele Gebrauchsgegenstände wie Spindelteile, Kämme, Töpfe und Werkzeuge gefunden. Die vielgestaltigen Funde haben einen regen Besucherverkehr und großes fachwissenschaftliches Interesse angestoßen. Eine Bauzaunausstellung informiert über die Geschichte des Ortes, über wichtige Funde sowie über die städtebaulichen Planungen für den Bereich.
„Eine Stadt erhält ihren unverwechselbaren Charakter durch ihre jeweilige Geschichte“, betont Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. Die aktuellen Ausgrabungen des Landesdenkmalamtes Berlin würden daher die künftige Stadtgestaltung maßgeblich beeinflussen. Das bisherige städtebauliche Konzept des Petriplatzes wird überarbeitet. Ziel ist es, die archäologischen Spuren in die Neugestaltung einzubeziehen und den Kernbereich der mittelalterlichen Doppelstadt wieder erkennbar zu machen. Der Petriplatz soll ungefähr in seiner historischen Abgrenzung als Stadtplatz gestaltet werden. Um Besuchern die Fundamente der aufeinander folgenden Kirchenbauten zugänglich zu machen, werden Teile der Platzfläche abgesenkt.
Neue Aufschlüsse über die Geschichte von Alt-Cölln werden zudem von den aktuellen Grabungen im Bereich des früheren Dominikanerklosters am anderen Ende der Brüderstraße auf dem Schlossplatz erwartet. Ursprünglich ein Kernbestandteil der mittelalterlichen Stadt, wurde die Dominikanerkirche nach der Reformation als Domkirche aufwendig ausgestattet und diente bis zum Abriss im Jahr 1737 als Grabkirche der Hohenzollernfürsten. Kirchenfundamente mit zahlreichen Gruften sind bereits großflächig freigelegt. Auch hier informiert eine kleine Ausstellung über die Geschichte und Bedeutung des Ortes.
Wer zwischen Friedrichswerder und Alexanderplatz baut, ist verpflichtet, Archäologen hinzuzuziehen, sobald er Erdarbeiten vornimmt. Denn das Areal ist Bodendenkmalgebiet mit bekannten archäologischen Fundstellen. In der Regel befinden sich die historischen Spuren nicht tiefer als drei Meter unter dem Pflaster. Jenseits der alten Stadtgrenze, wo systematisch erst nach 1700 gebaut wurde, gibt es sogenannte Verdachtsflächen. „Wir haben Kartenmaterial, in dem verzeichnet ist, wo mit historischen Funden gerechnet werden kann“, erläutert Karin Wagner, Leiterin des Fachbereichs Archäologie beim Landesdenkmalamt. „Dort werden Bauherren von Fall zu Fall verpflichtet, Archäologen hinzuzuziehen.“
Doch beim Blick auf die Geschichte Berlins interessieren heute nicht nur frühere Jahrhunderte. „Bis vor 20 Jahren wurden neuere Funde nicht beachtet“, so Wagner. „Doch das Bewusstsein für die Bedeutung historischer Spuren hat sich seither geschärft.“ So werden etwa an der Bernauer Straße Reste der Berliner Mauer erstmals archäologisch gesichert. Projekte wie den Bau der U-Bahn-Linie 5, die unter anderem am Roten Rathaus und unter dem Schlossplatz verlaufen soll, begleitet das Landesdenkmalamt mit eigenen Fachleuten. In anderen Fällen werden zertifizierte Archäologen beauftragt.
Ein Blick in die Sozialgeschichte
Auch beim Bau der Tiefgarage am Alexanderplatz wurde ein externes Archäologiebüro hinzugezogen. Im Jahr 2008 haben Torsten Dressler und seine Mitarbeiter dort unter anderem rund 900 Gräber des ehemaligen St. Marien- und St. Nikolai-Friedhofes freigelegt. Unter der Straße zwischen dem Hotel-Hochhaus und dem ehemaligen DDR-„Haus des Reisens“ befand sich die Georgenkirche. Sie lag mitsamt Friedhof in frühen Zeiten noch vor den Toren der Stadt. „Die Fachleute waren von der enormen Zahl der Bestatteten überrascht“, so Dressler. „Abgesehen von den Funden am Petriplatz mit über 2000 Gräbern waren Archäologen bislang immer nur mit einer relativ kleinen Zahl von menschlichen Überresten konfrontiert.“ Dass der Friedhof am Alexanderplatz nur von 1708 bis 1802 genutzt wurde, verschafft zudem neue Einblicke in diese eng umrissene Epoche: Damals sind die Menschen im Durchschnitt sehr früh verstorben – mit etwa 35 bis 40 Jahren. „Anhand der Überreste ließ sich feststellen, dass ungünstige Lebensumstände sowie Mangelernährung hauptsächlich dafür verantwortlich waren. Die Erwachsenen hatten fast alle Karies, der zudem oft mit Abszessen und tödlich verlaufendem Wundbrand verbunden war“, erklärt Dressler. „Deformationen, Sehnenverknöcherungen und Knochenentzündungen lassen auch auf eine enorm hohe Arbeitsbelastung schließen.“ Stadtarchäologie legt somit nicht nur bauliche Relikte frei, sondern auch die gesundheitlichen und sozialen Umstände derer, die diese Relikte bewohnt haben.
Lars Klaaßen
MieterMagazin 10/09
Fischerinsel und Petriplatz sind das historische Zentrum der Hauptstadt
Illustrationen: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung
Die Funde liegen nie tiefer als drei Meter: archäologische Grabungen am Schlossplatz
Fotos: Christian Muhrbeck
Jeden Freitag wird eine archäologische und stadthistorische Führung durch Alt-Cölln angeboten. Die Teilnahme ist unentgeltlich: 14 bis 15.30 Uhr. Treffpunkt: Bauzaunausstellung an der archäologischen Grabung vor dem ehemaligen Staatsratsgebäude.
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Berlin beginnt auf der Insel
Die Stadt entwickelte sich Ende des 12. Jahrhunderts aus den beiden Kaufmannssiedlungen Cölln (auf der Fischerinsel) und Berlin (östlich der Spree). Das Jahr 1237 gilt als offizielles Jahr der Stadtgründung. Cölln wurde in diesem Jahr erstmals urkundlich erwähnt, Berlin folgte 1244. Im 17. Jahrhundert wurde die Stadt er-weitert. Wo die 1658 bis 1683 errichtete Befestigung Berlins verlief, ist heute noch in Straßen und Bauwerken erkennbar: Die Wall- und Oberwallstraße weisen mit ihren Namen darauf hin. Die Bahntrasse zwischen Jannowitzbrücke und Hackeschem Markt folgt dem Verlauf der Anlage. 1734 wurde die Stadtbefestigung abgerissen und durch eine 14,5 Kilometer lange Zoll- („Akzise“-)Mauer ersetzt. Bis 1841 blieb die Stadtfläche nahezu unverändert.
lk
06.06.2013