Wer öfter mit der S-Bahn Richtung Norden fährt, kennt das markante Backsteinensemble, das zwischen den Stationen Gesundbrunnen und Wedding auftaucht. Doch kaum einer weiß, dass sich hier um 1900 eines der größten und fortschrittlichsten Obdachlosenasyle seiner Zeit befand. Die Wiesenburg, wie sie schon bald im Volksmund genannt wurde, ist ein spannendes Kapitel Berliner Sozialgeschichte – und bis heute ein ganz besonderer Ort.
Wer das 12.500 Quadratmeter große Areal in der Wiesenstraße 55 betritt, wähnt sich in einer anderen Zeit. Vorne steht ein dreistöckiges Wohnhaus mit Klinkerfassade und idyllischem Garten, daneben befindet sich ein imposantes Eingangsportal. Während das Mietshaus, das sogenannte Beamtenwohnhaus, in gutem Zustand ist, sind große Teile des Geländes völlig verfallen. Vom Obdachlosenasyl, das hier 1896 eröffnet wurde – übrigens nach rekordverdächtiger elfmonatiger Bauzeit – sind nur Ruinen übrig geblieben. Die Wartehalle und die Schlafsäle sind zwar noch in den Grundmauern erhalten, wegen Einsturzgefahr jedoch abgesperrt.
Mit seinen hygienischen Standards und seiner hochmodernen technischen Ausstattung hob sich die direkt an der Panke gelegene Wiesenburg wohltuend von den städtischen und kirchlichen Obdachloseneinrichtungen jener Zeit ab. Zudem ist sie ein eindrucksvolles Zeugnis bürgerschaftlichen Engagements. Initiiert und erbaut wurde sie von einem Kreis wohlhabender, liberal oder sozialdemokratisch gesinnter Berliner Bürger, darunter viele Juden.
Kein Zutritt für die Polizei
in einer Zeit dramatischer Wohnungsnot, hatten sie den „Berliner Asyl-Verein für Obdachlose“ gegründet. Einflussreiche Persönlichkeiten wie der Industrielle August Borsig, der Arzt Rudolf Virchow und der Sozialdemokrat Paul Singer gehörten zu den Gründungsmitgliedern. Während Obdachlose damals als öffentliches Ärgernis galten, sahen die Vereinsmitglieder in ihnen Menschen, die Hilfe brauchten. Wohnungslosigkeit, so ihre Überzeugung, ist kein persönliches Verschulden, für das man sich schämen müsste, sondern eine Folge der massiven sozialen Missstände im Zuge der Industrialisierung. Die vom Verein betriebenen Unterkünfte, darunter ein Frauenasyl in der Dorotheen-, Ecke Wilhelmstraße, reichten schon bald nicht mehr aus. Daher entschloss man sich, einen Neubau im Wedding zu errichten. Finanziert wurde er überwiegend über Spenden. Vier Millionen Reichsmark in Gold konnte die private Initiative sammeln. Architekt Georg Töbelmann entschied sich dafür, den Komplex von der Wiesenstraße abzurücken, um eine Ansammlung der Obdachlosen auf öffentlichem Straßenland zu vermeiden. Zu den baulichen Besonderheiten gehört die Stahlträgerkonstruktion in den Schlafsälen, ein Motiv aus der Industriearchitektur.
Die Wiesenburg bot zunächst 700 Männern Platz. 1907 folgte ein Erweiterungsbau mit 400 Betten für Frauen. Für eine Nacht konnte hier jeder ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit bekommen. Nach dem Namen oder Ausweispapieren wurde nicht gefragt, die Polizei erhielt keinen Zutritt. Hygiene war oberstes Gebot. Es gab Badesäle und Desinfektionsräume, wo sich die Obdachlosen waschen konnten und eine Wäscherei, wo sie ihre Kleider reinigen konnten. Die Decken wurden täglich gewaschen und in einer speziellen Vorrichtung getrocknet. Eine Schneiderei und eine Bibliothek gehörten ebenfalls zur Ausstattung. Nur eins fehlte: der sonst übliche Betsaal. „Das Obdachlosenasyl sorgte sich um die Gesundheit der Bedürftigen, nicht um deren moralische Erziehung“, heißt es in der Denkmaldatenbank der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.
Doch schon bald geriet der Asylverein in finanzielle Schwierigkeiten. Es kamen nicht mehr genug Spenden zusammen, was auch mit dem wachsenden Antisemitismus zu tun hatte. Zwar konnte der Asylbetrieb noch bis 1933 aufrechterhalten werden, allerdings in geringerem Umfang. Teile des Geländes wurden gewerblich genutzt, etwa durch eine Armee-Konservenfabrik und später durch einen Betrieb, der Vergaser für Flugzeugmotoren herstellte.
Bis 1933 diente die Wiesenburg der jüdischen Gemeinde als Heim. Dann schlossen die Nazis das Asyl. Während des Zweiten Weltkriegs wurden hier Hakenkreuzfahnen gedruckt. 1944/45 wurde die Wiesenburg bei Bombenangriffen schwer beschädigt.
Als Filmkulisse beliebt
Noch heute begegnet man auf dem verwilderten Areal überall Spuren der Vergangenheit. Sogar einige Badewannen, in denen vor über 100 Jahren Obdachlose badeten, stehen noch herum. Kein Wunder, dass die Wiesenburg eine beliebte Filmkulisse ist. Bereits 1930 drehte Fritz Lang hier „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“. In den 1970er Jahren entstanden hier Szenen für Volker Schlöndorffs Kinofilme „Die Blechtrommel“ und „Lili Marleen“ von Rainer Werner Fassbinder.
Bewohnt ist heute nur noch das Beamtenwohnhaus. Früher waren hier Hausmeister, Koch und andere Verwaltungsmitarbeiter des Asyls untergebracht. Heute werden die acht Mietwohnungen unter anderem von der Familie Dumkow bewohnt. Ihre Geschichte ist eng mit der Wiesenburg verbunden. Anna-Christin Dumkow ist direkte Nachfahrin eines der Stifter und war bis zum umstrittenen Eigentümerwechsel die Verwalterin. Die Gewerbeeinheiten wurden zu günstigen Mieten an Künstler und Kreative vermietet.
Heute befinden sich hier unter anderem eine Tanzhalle, zwei Metallbetriebe, Ateliers und ein Musikstudio. „Wir sind ein langsam gewachsener Haufen“, sagt ihr Sohn Joachim Dumkow. Der 48-Jährige, genannt Joe Wiesenburger, wohnt seit seiner Geburt hier, als Kind waren die Ruinen für ihn ein einziger Abenteuerspielplatz. Der umtriebige Autor und Videokünstler hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Wiesenburg als Kulturoase bekannt wurde. Hier fanden Ausstellungen statt, Videos wurden gedreht und gelegentlich gab es Konzerte oder Theateraufführungen. Eine hippe Partylocation wollte man aber bewusst nicht werden – schon um keine Begehrlichkeiten zu wecken. Seiner Mutter liegen vor allem die Kinder am Herzen, mit den umliegenden Grundschulen hat sie immer wieder gemeinsame Projekte gemacht. Seit einigen Jahren gibt es inmitten der Ruinen ein „Grünes Klassenzimmer“. Ein Verein hat auf dem Gelände mehrere Bienenkörbe aufgestellt, wodurch die Kinder viel über Bienen lernen.
Ob all diese Aktivitäten auch weiterhin möglich sind, ist fraglich. Als die Wohnungsbaugesellschaft Degewo kurz nach dem Eigentümerwechsel Teile des Areals aus Sicherheitsgründen absperrte, sorgte das für mächtig Aufregung. „Spekulanten greifen nach der Wiesenburg“ hieß es gar im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Man wähnte einen der letzten „wilden“ Berliner Freiräume in Gefahr. Mittlerweile haben sich die Gemüter beruhigt. „Niemand muss seine Wohnung verlassen, auch die Ateliers bleiben“, betont man bei der Degewo. Man sei sich der Bedeutung dieses historischen, denkmalgeschützten Ortes bewusst. „Wir hoffen nur, dass man die weitere Entwicklung wie versprochen mit den bisherigen Nutzern abstimmt und nicht alles nach Schema F glattsaniert“, meint Joachim Dumkow.
Birgit Leiß
Wer ist Eigentümer der Wiesenburg?
Um die Besitzverhältnisse gab es einen jahrzehntelangen Rechtsstreit. Der 1961 reaktivierte „Berliner Asyl-Verein für Obdachlose“ sah sich als Rechtsnachfolger des ursprünglichen Gründervereins und verwaltete das Grundstück bis 2005. Dann wurde dem Verein die Gemeinnützigkeit aberkannt und das Amtsgericht Wedding erklärte das Land Berlin, genauer gesagt: die Senatsverwaltung für Finanzen, zum Rechtsnachfolger des Vereins und damit zum Eigentümer. Zum 1. November 2014 wurde der Komplex dann per Besitzeinweisungsvertrag an die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Degewo übertragen. Dort wird derzeit ein Nutzungskonzept erarbeitet. Man wolle den historischen Ort vor dem weiteren Verfall bewahren und ihn für nachbarschaftliche und soziale Aktivitäten im Quartier öffnen, heißt es bei der Degewo. Den Neubau von Wohnungen am Rande des Grundstücks will man nicht ausschließen.
bl
Gesittete Unterhaltung und Sauberkeit statt Moral
In der Wiesenburg begegnete man den Obdachlosen mit Respekt. Anders als in den meisten Einrichtungen der damaligen Zeit mussten sie weder beten noch wurden sie zur Zwangsarbeit herangezogen.
Noch heute hängt in dem Wohnhaus eine Tafel mit der Hausordnung. Kartenspielen, Tabakrauchen und Brandweintrinken ist ausdrücklich verboten, heißt es da. „Gesittete Unterhaltung“ ist bis zur Nachtruhe gestattet. Abends wird eine Suppe gereicht, morgens Kaffee nebst Schrippe. Als „anheimelnd“ beschrieb ein Zeitzeuge, der verarmte Maler Paul Grulich, die Verhältnisse: „Man sieht hier das Elend nicht in so unästhetisch anmutender Form. Auch sind die Kleider weniger zerfetzt, die Gesichter blicken minder stumpfsinnig drein. Man sitzt auf Bänken an blitzsauber gescheuerten Tischen.“
bl
28.12.2018