Es gibt Lebensumstände, die Menschen aus ihrer Bahn werfen. Eine Verhaftung zum Beispiel. Oder eine psychische Erkrankung. Ihnen wird der Boden unter den Füßen weggezogen – buchstäblich, weil sie meist auch ihre Wohnung verlieren. Um in die Gesellschaft zurückzufinden braucht es Unterstützung. Denn vielen fehlen dazu allein die Kraft und die Mittel.
„Mit einer Verhaftung ist dein bisheriges Leben von einem Tag auf den anderen beendet“, erklärt Max L. Für ihn liegt dieser Tag vier Jahre zurück. Das Gespräch mit dem ausgebildeten Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten findet am Telefon statt, denn Max L. sitzt in einer Brandenburger Justizvollzugsanstalt (JVA). In einem Brief an den Berliner Mieterverein (BMV) hatte er seine Lage geschildert: „Ich werde voraussichtlich im August 2022 aus der Haft entlassen und verfüge nicht über eine Wohnung.“ Zwar sei er noch immer amtlich in Lichtenberg gemeldet, doch dort ist seine Wohnung im März 2017 zwangsgeräumt worden.
„Mein Vermieter hatte mir seinerzeit noch etwas Aufschub gewährt“, erklärt der 34-Jährige. „Aber aus dem Gefängnis heraus konnte ich keine Verbindlichkeiten mehr bedienen.“ Sein Antrag auf die Übernahme von Mietkosten durch das Sozialamt ist aufgrund der langen Haftzeit abgelehnt worden.
Diese Möglichkeit, geregelt im Sozialgesetzbuch (SGB) XII (§ 35/36), hat zeitliche Grenzen: Die Hilfe zur Überbrückung der Notlage wird für ein halbes bis maximal ein Jahr gewährt. Vermieden werden soll hauptsächlich, dass schon Kurzzeitstrafen zu Wohnungslosigkeit führen. „Bei längeren Haftstrafen gibt es das nicht“, erklärt Anja Seick von der Freien Hilfe Berlin.
Seit 30 Jahren engagiert sich der Verein und berät in der JVA Moabit regelmäßig Strafgefangene. Schwerpunkte sind Probleme mit Wohnen und Wohnungslosigkeit. „Manch einer verdrängt das und sagt sich: Wenn ich erst wieder in Freiheit bin, wird das schon werden“, so Anja Seick. „Dann versuchen wir, unseren Klienten die bittere Realität vor Augen zu halten.“ Die Bewerbung um eine der wenigen verfügbaren und bezahlbaren Wohnungen kostet nicht nur Zeit und Kraft, sie erfordert auch eine Bewegungsfreiheit, die höchstens aus dem offenen Vollzug heraus möglich ist. Die Freie Hilfe – einer von drei Trägern, die sich in Berlin um Strafgefangene kümmern – unterstützt bei der Beschaffung der notwendigen Unterlagen, der Beantragung von Wohnberechtigungsscheinen, der Erstellung von Bewerbungsmappen und den Verhandlungen mit Vermietern. Etwa zehn Prozent verlassen das Gefängnis ohne eine Wohnung, weiß die Sozialarbeiterin. Einigen gelingt es, erst einmal bei Verwandten oder Freunden unterzukommen. Die anderen werden in Heimen untergebracht oder landen auf der Straße.
Verfestigte Armut ist das größte Risiko
Wenn Menschen ihre Wohnung nicht mehr halten können und auch keine neue finden, hat das meistens finanzielle Ursachen, die sich nicht ohne Hilfe lösen lassen, meint Ekkehard Hayner aus der Geschäftsstelle der „Gebewo Soziale Dienste“: „Verfestigte Armut mit ihren sozialen, gesundheitlichen und psychischen Folgen ist das größte Risiko.“ Der Träger der freien Wohlfahrtspflege verfügt über rund 80 Wohnungen, die an Wohnungslose mit Betreuungsbedarf vermietet werden. Zu denen, die wirtschaftlich auf ganz schwachen Füßen stehen und die häufig verschuldet sind, zählen nicht nur viele Inhaftierte, sondern auch psychisch Erkrankte und Drogenabhängige. Wer beispielsweise an Depression leide, so Hayner, dem falle es schwer, Hilfe zu holen – oder gar seine Ansprüche durchzusetzen: „Eigentlich sind unsere Ämter zur Beratung verpflichtet“, ergänzt er. „In der Praxis sieht das allerdings häufig anders aus.“ Man müsse schon wissen, was man wolle, was einem zustehe und gut vorbereitet auf dem Amt erscheinen.
Das sogenannte Geschützte Marktsegment ist ein Kontingent von circa 1400 Wohnungen, die vor allem von den Berliner kommunalen Wohnungsbaugesellschaften bereitgestellt werden. Bewerben können sich laut einem Informationsblatt Menschen, die „… zum Beispiel aufgrund von Mietschulden kurz vor der Räumung ihrer Wohnung stehen, oder aber bereits wohnungslos sind und sich auf dem Wohnungsmarkt nicht selbst versorgen können.“ Zum Gespräch ins zuständige Bezirksamt, das über die Anspruchsberechtigung entscheidet, sind diverse Unterlagen mitzubringen: gültige Personalpapiere, Wohnberechtigungsschein, Nachweise über sämtliche Einkünfte, laufende Ausgaben, vorhandene Schulden – ohne Hilfe oder Begleitung ist das vielen Berechtigten gar nicht möglich.
„Um in Wohnungsnotlagen rechtzeitig reagieren zu können, brauchen wir den raschen Austausch von Informationen und ein tragfähiges Netzwerk“, erklärt Mario Hilgenfeld vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU). Das sollte neben Vermietern auch zuständige Behörden wie das Jobcenter, sozialpsychiatrische Dienste oder Jugendämter verknüpfen und Pflegestützpunkte für Menschen mit Demenz einbeziehen.
Frühzeitige Intervention verhindert das Schlimmste
„Wer seine Wohnung vermüllen lässt, die Nachbarn beschimpft, den Briefkasten nicht mehr leert, der wird schnell zu einer Belastung für andere Bewohner im Haus“, so der Wohnungswirtschaftler. Eine frühzeitige Intervention und Hilfe durch Sozialarbeiter oder Träger der Wohlfahrtspflege kann das Schlimmste verhindern – etwa eine Kündigung des Mietvertrages.
Im Arbeitskreis Soziales Management beim BBU treffen sich regelmäßig Mitarbeiter verschiedener Wohnungsunternehmen, um über ein praxisnahes Vorgehen in solchen Fragen oder in Notfällen zu beraten – sie arbeiten dabei mit Hilfeeinrichtungen und sozialen Trägern zusammen. Der Erhalt einer Wohnung, davon ist Mario Hilgenfeld überzeugt, ist nicht nur die sozialere, sondern auch die kostengünstigere Lösung.
Daran scheinen große private Vermieter allerdings kaum interessiert zu sein. Ein Sozialmanagement wie das der kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen haben sie in aller Regel nicht. Die Deutsche Wohnen hat nach der Übernahme der GSW deren gut organisiertes Netz komplett abgeschafft, berichten frühere GSW-Mitarbeiter.
Dabei sind für Menschen wie Max L. solche Angebote lebenswichtig. An das Ende seiner Haft denkt er mit gemischten Gefühlen: „Viele werden hier mit einer blauen Mülltüte in der Hand entlassen…“
Rosemarie Mieder
Gescheiterte Resozialisierung kommt teuer
In deutschen Großstädten fehlen für die Versorgung der über 2,6 Millionen Haushalte unterhalb der Armutsgrenze fast 1,5 Millionen Wohnungen mit bezahlbaren Mieten. Menschen in Untersuchungs- und Strafhaft sind von dieser Versorgungslücke besonders betroffen, da viele nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um nach ihrer Haft auf dem angespannten Wohnungsmarkt wieder eine Mietwohnung zu finden. So bezeichneten nach einer Erhebung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe 36,7 Prozent der Inhaftierten Wohnen und Wohnungsverlust als ihr drängendstes Problem. Bei inhaftierten Frauen sind es sogar 43,6 Prozent. Diese Sorgen haben nicht nur Langzeitinhaftierte, sondern auch Menschen, die nur für wenige Monate ins Gefängnis müssen. Denn obwohl es rechtlich möglich ist, dass Mietkosten mitunter bis maximal ein Jahr vom Sozialamt übernommen werden, scheitern viele Kurzzeithäftlinge am Antragsprozedere oder auch am Ermessen der zuständigen Stellen. Deshalb forderten kirchliche Wohlfahrtsverbände in einem Positionspapier einheitliche Verwaltungsvorschriften und die Abschaffung strenger Einzelfallprüfungen. Gescheiterte Resozialisierung und der Anstieg von Wohnungslosigkeit kämen deutlich teurer als die Übernahme von Mietkosten für einen begrenzten Zeitraum.
rm
www.berlin.de/lageso/soziales/geschuetztes-marktsegment
22.09.2020