Vor 75 Jahren, am 8. Mai 1945, war in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende. Doch das Elend in den Städten war nicht vorüber. In Berlin waren 55 Prozent der Wohnungen zerstört oder beschädigt. Wie lebte es sich in den Trümmern?
Nach dem Ende der Kampfhandlungen glich Berlin einem Trümmerfeld. Besonders die Innenstadtbezirke waren nach den Bombardierungen und dem Straßenkampf der letzten Kriegswochen weitgehend zerstört. Kaum vorstellbar, dass hier noch Menschen wohnen konnten. Doch Berlin war am Ende des Krieges immer noch von schätzungsweise zweieinhalb Millionen Einwohnern bevölkert.
Die während des Krieges aus den Städten evakuierten Menschen strebten zurück – trotz der dort herrschenden Unterkunftsschwierigkeiten und Versorgungsprobleme. Die Hauptstadt steuerten auch viele Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten an. 1946 hatte Berlin schon wieder drei Millionen Einwohner. Die geltende Zuzugssperre wurde unterlaufen, obwohl man als illegal nach Berlin Gekommener weder Anspruch auf eine Wohnraumzuweisung noch auf die überlebenswichtige Lebensmittelkarte hatte. Eine annähernd ausreichende Ernährung gewährleistete ohnehin nur die Karte der Stufe I für Schwerarbeiter. Der Schwarzmarkt blühte.
Strom-, Gas und Wasserversorgung waren in großen Teilen der Stadt zusammengebrochen. Über Monate versorgten sich die Berliner mit Wasser aus den Straßenpumpen. Und auch wo noch Wasser aus der Leitung kam, musste es abgekocht werden – zum Erhitzen fehlte jedoch der Brennstoff. Aufgrund der schlimmen hygienischen Verhältnisse breiteten sich im Sommer 1945 Ruhr und Typhus aus. Rund 3000 Menschen fielen den Seuchen zum Opfer.
Im Winter machte der Brennstoffmangel den Menschen erst recht zu schaffen: Über 1100 Tote forderte eine wochenlange Kältewelle im Winter 1946/47, Tausende erkrankten an einer Lungenentzündung, und über 60.000 Menschen hatten ernste Erfrierungen. Auf der verzweifelten Suche nach Brennholz haben die Berliner in den Parks die Bäume gefällt. Der Tiergarten wurde fast vollständig abgeholzt.
Bunker, Fabriken, Kasernen: Gewohnt wurde überall
Die Wohnungsfrage gehörte zu den drängendsten Problemen der Stadt. Als eine der ersten Maßnahmen überhaupt ordnete der neue Magistrat am 18. Juni 1945 an, freie und unterbelegte Wohnungen zu beschlagnahmen und dort Wohnungssuchende einzuweisen. Als unterbelegt galt eine Wohnung, in der weniger als eine Person pro bewohnbarem Raum lebte. Davon gab es allerdings nicht mehr viele, denn die meisten Inhaber einer größeren Wohnung hatten bereits ausgebombte oder geflüchtete Verwandte bei sich aufgenommen. Die Regel waren vielmehr überbelegte Wohnungen. Außerdem mussten im April 1946 über 110.000 Menschen in notdürftig hergerichteten Lauben und Baracken, in Kellern oder auf Dachböden hausen. Auch Luftschutzbunker, Kasernen und Fabrikhallen wurden zu Wohnzwecken umfunktioniert – das sprichwörtliche Dach über dem Kopf war die Hauptsache.
Vor 25 Jahren – zum 50. Jahrestag des Kriegsendes – wusste der damalige Spandauer Bezirksleiter des Berliner Mietervereins, Georg Przybyl, dem MieterMagazin noch aus eigener Erfahrung von den Wohnverhältnissen direkt nach dem Krieg zu berichten. Ihm und seiner Frau wurde ein Zimmer zur Untermiete zugewiesen. Der Hauptmieter war davon nicht begeistert, konnte sich aber nicht dagegen wehren. Wegen des weiter geltenden Preisstopps von 1936 zahlten die Untermieter nur 30 bis 40 Mark im Monat. Zum Vergleich: Ein Brot war doppelt so teuer. Ein Zimmer abzugeben und Küche und Bad mit fremden Leuten zu teilen, führt verständlicherweise zu Reibereien. Der Hauptmieter der Przybyls versuchte, sie mit kleinen Schikanen zum „freiwilligen“ Auszug zu bewegen. „Er nahm einfach die Sicherungen mit, wenn er die Wohnung verließ. So konnten wir uns nichts kochen und kein Licht machen“, erzählte Frau Przybyl. Erst 1956 konnte das Ehepaar eine eigene Wohnung anmieten.
Viele Berliner versuchten sich in den Kleingartenkolonien häuslich einzurichten. Schon vor dem Krieg wurde in den Lauben verbotswidrig gewohnt, was die Bauämter wegen der Wohnungsnot zähneknirschend dulden mussten. Nach dem Krieg wurde in den Kolonien das Dauerwohnen zur Regel. Im Bezirk Pankow befanden sich im Jahr 1946 etwa 34 Prozent aller Wohnräume in Lauben und Behelfsheimen. Im größten zusammenhängenden Kleingartengebiet am Wilhelmsruher Damm – wo später das Märkische Viertel entstand – verzeichneten die Lebensmittelkartenstellen 1947/48 ganze 10.000 gemeldete Einwohner.
Kältewinter in der Nissenhütte
Ein berüchtigtes Wohnprovisorium der Nachkriegszeit war die „Nissenhütte“: ein bewohnbares Tonnengewölbe aus Wellblech. Der kanadische Ingenieur Peter Norman Nissen hatte sie im Ersten Weltkrieg als mobile Truppenunterkunft erfunden. Ab 1945 wurden Nissenhütten vor allem in den britischen, aber auch in den amerikanischen Besatzungszonen als Notunterkünfte genutzt. Eine Nissenhütte war 11,50 Meter lang, 5 Meter breit und im Scheitelpunkt 3,20 Meter hoch. Sie war für die Unterbringung einer Familie gedacht, konnte aber durch eine dünne Zwischenwand für zwei Familien geteilt werden. Fenster gab es nur in den hölzernen Stirnwänden. Auf Fußbodenbretter wurde verzichtet. So waren die Hütten sehr fußkalt. Auch eine Wärmedämmung der Wände gab es nicht. Wasseranschlüsse fehlten. Für je zehn Nissenhütten wurde eine Sanitärbaracke mit Toiletten, Waschbecken und einem Herd zum Wäschewaschen aufgestellt.
Das Hochbauamt Tiergarten äußerte in einem Bericht über die Aufstellung der ersten 45 Nissenhütten an der Wullenweberstraße im September 1946 Bedenken: „Die Bewohnbarkeit der Baracken leidet in der Qualität durch das Fehlen geeigneter Materialien, um eine normale Wärmehaltung zu gewährleisten. Vor allem aber ist die doppelwandige Wellblechaußenhaut ohne Wärmeisolierung gänzlich unzulänglich.“ Der Kältewinter 1946/47 sollte dem Amt recht geben. Die kleinen Öfen schafften es kaum, die Raumtemperatur über null Grad zu halten, und in den Waschbaracken froren die Leitungen ein. Die Bewohner wussten sich nicht anders zu helfen, als die Fäkalien ins Gelände zu kippen.
Eine verbesserte Version der Nissenhütte sah gemauerte Stirnwände vor, ein gedämmtes Tonnengewölbe, zusätzliche Fenster in den Seiten und ein eigenes Klosett. Die Kosten pro Hütte stiegen dadurch von 5000 auf 8150 Mark. Die Miete lag zwischen 35 und 40 Mark.
Im britischen Sektor Berlins wurden insgesamt 800 Nissenhütten an 20 Standorten aufgestellt. Die größten Barackensiedlungen befanden sich am Bahnhof Beusselstraße und an der Heerstraße mit jeweils mehr als 100 Hütten. Die letzten Nissenhütten wurden 1968 abgerissen.
Jens Sethmann
Kein Feuer, kein Licht, kein Wasser
Der Maler und Grafiker George Grosz schilderte in einem Brief, wie die Familie seiner Tante Lisbeth nach Kriegsende am Savignyplatz hauste: „Sie frieren erbärmlich und hungern. Hungerödeme brechen aus – man ist immer schläfrig, seit vorigem Mai keinerlei Fette. Wunden und Eiterbeulen blühen aus an Beinen, im Genick usw. und heilen nicht zu. Man zieht sich nicht mehr an oder aus. Sitzt dösend und schläfrig mit angezogenen Beinen und mit stinkenden Wolllumpen gegen die schneidende Kälte. (…) Kein Feuer, kein Licht. Kein Wasser, keine Seife mehr. Gestank allüberall. (…) Haus Savignyplatz steht nur noch halb. Fenster mit Kistenbretter vernagelt und mit Wolllumpen verstopft, kein Papier zu haben. Papierreste und alles, was sich eventuell verheizen läßt, wandert in einen winzigen Kanonenofen.“
js
22.09.2020