Ein Hauch von Bohème, mondäne Literatursalons oder ein wildes Nachtleben – all das sucht man in der Künstlerkolonie in Wilmersdorf vergebens. Die Siedlung wirkt beschaulich, ja fast bieder. Nur das Klavierspiel und die Singübungen, die manchmal aus den Wohnungen zu hören sind, weisen auf die besondere Bewohnerschaft hin.
„Jeder, der hier mal eine Woche lang gewohnt hat, bekommt eine Gedenktafel“, sagt Günter Rüdiger scherzhaft. Wer durch die Siedlung spaziert, wird tatsächlich überall Gedenktafeln und Stolpersteine sehen. Sie erinnern an berühmte Persönlichkeiten, die hier einst gewohnt haben – meist bevor sie richtig Karriere machten, denn die Wohnungen sind eher bescheiden. Etwa der Schauspieler und Regisseur Ernst Busch, der Lyriker Peter Huchel oder der Philosoph Ernst Bloch. Viele von ihnen wurden von den Nazis, denen die „Rote Tintenburg“ von Anfang an ein Dorn im Auge war, ins Exil getrieben oder ermordet. Ein Mahnmal auf dem Ludwig-Barnay-Platz (ehemals Laubenheimer Platz), dem zentralen Platz der Siedlung, erinnert an die politisch Verfolgten der Künstlerkolonie.
Künstler haben Vorrang
Günter Rüdiger, der mit seiner Frau Tanja Arenberg das Zimmertheater Steglitz betreibt, ist Mitte der 1980er Jahre eingezogen: „Ich war Mitglied der Bühnengenossenschaft und habe mich in die Liste für eine Wohnung eingetragen, damals musste man nicht lange warten.“ Bis heute hat die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA), die die drei Wohnblöcke Ende der 1920er Jahre errichtet hat, ein Belegungsrecht. Nur wenn es aus den Reihen der Künstler keine Interessenten gibt, kommen auch andere zum Zug. Der soziale Grundgedanke für den Bau der „KüKo“ war: günstiger solider Wohnraum für Kunstschaffende, die nur eine kleine Gage beziehungsweise Rente erhalten. „Viele Schriftsteller und Schauspieler haben damals möbliert zur Untermiete gewohnt, weil sie sich nichts anderes leisten konnten“ erklärt die Schauspielerin Tanja Arenberg, die sich viel mit der Geschichte der Siedlung beschäftigt hat und auch Führungen anbietet. Freiberufler ohne Verdienstbescheinigung standen schon früher ganz am Ende der Warteschlange.
Dass die rund 550 Wohnungen dann 1994 unter dem damaligen Bürgermeister Klaus Wowereit privatisiert wurden, sei „ein Verbrechen gewesen“, sagen viele. In der Folgezeit wechselten die Namen der Eigentümer so häufig, dass es schwer fiel, den Überblick zu behalten: von der Gehag an die Veba (später Viterra), dann Deutschbau, Deutsche Annington und schließlich Vonovia. Es gibt viel Ärger mit dem umstrittenen Wohnungsunternehmen, angefangen vom Vorhaben, die großzügigen, mit alten Bäumen bestandenen Innenhöfe mit Tiefgaragen zu bebauen über gesperrte Keller wegen angeblicher Asbestbelastung bis hin zu einer geplanten überteuerten Modernisierung. Obwohl die Wohnungen nach Angaben der Vonovia für Kunstschaffende zu einem reduzierten Mietpreis vermietet werden, konnte der Berliner Mieterverein für mehrere von ihnen wegen Verstoßes gegen die Mietpreisbremse eine Mietsenkung durchsetzen. Nur in einem sind sich alle in dem Viertel einig: Die Wohnungen sind wunderbar. Das findet auch Martina Gebhardt, die 2016 hierher gezogen ist. Die Musikerin und Komponistin konnte sich damals mehrere freie Wohnungen anschauen, ebenso wie ihre Nachbarin, die Tänzerin Heike Franziska Bartsch. Heute, so sagen beide, kommt man nur noch über Beziehungen an eine Wohnung. Die Warteliste sei sehr lang, bestätigt die Vonovia. Das war nicht immer so. Um die Jahrtausendwende war die Nachfrage eher verhalten.
Für die Vonovia ist die KüKo ein Prestigeobjekt. Von einem Rückkauf durch das Land Berlin, wie ihn der Bezirk 2019 ins Gespräch brachte, will man nichts wissen.
Als verschworene Gemeinschaft darf man sich das „Schwabing am Laubenheimer Platz“, wie es auch schon mal genannt wird, nicht vorstellen. Martina Gebhardt kennt nur einen Teil der Leute, die bei ihr im Haus wohnen. Künstler seien eben Einzelgänger, meint Günter Rüdiger, der Leiter des kleinsten Theaters Berlins: „Die wollen ihre Ruhe.“
Da die Wohnungen recht hellhörig sind, stört sich der eine oder andere auch an Geräuschen aus der Nachbarwohnung. Wer spätabends nach der Arbeit aus dem Theater nach Hause kommt, will morgens nicht durch laut geschmetterte Opernarien oder Klaviergeklimper geweckt werden. Tanja Arenberg kann das nicht verstehen. Sie findet: „Gerade wir als Künstler müssten doch füreinander Verständnis haben!“
Doch wenn es darauf ankommt, hält die KüKo zusammen. Das zeigte sich erstmalig in der NS-Zeit, als die Siedlung zum Unterschlupf für verfolgte Künstler wurde. Gegen die braunen Schlägertrupps, die den Bewohner:innen auf dem nächtlichen Nachhauseweg vom U-Bahnhof Breitenbachplatz auflauerten, bildeten die Schauspieler:innen und Schriftsteller:innen Schutztrupps. Einige versteckten auch politisch Verfolgte in ihren Wohnungen.
Der Kampfgeist ist geblieben
Aber auch in der jüngsten Vergangenheit zeigte sich die KüKo kämpferisch. Eine geplante Tiefgarage konnte verhindert werden – Tanja Arenberg kettete sich damals sogar an Bäume an – und auch der Versuch einer energetischen Modernisierung im Jahre 2014 scheiterte am Widerstand der Mieter:innen. Sie konnten nachweisen, dass die angekündigten Maßnahmen viel zu teuer und zudem unsinnig waren. Dass die Untere Denkmalschutzbehörde die Fassadendämmung bereits abgesegnet hatte, empört sie noch heute.
Als „Überbleibsel des sozialstaatlichen West-Berlins“, so beschreibt der Schriftsteller und Liedermacher Manfred Maurenbrecher – durchaus liebevoll – sein Viertel rund um den Ludwig-Barnay-Platz. Noch heute wohnen hier Menschen, die sich ohne die Sicherheit einer Festanstellung oder Top-Gagen durchs Leben kämpfen.
Birgit Leiß
Hungerburg und Widerstandsnest
Die drei Wohnblöcke zwischen Südwestkorso, Kreuznacher Straße und Steinrückweg wurden zwischen 1927 und 1930 auf Initiative der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) und des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller errichtet. Dank der 1924 eingeführten Hauszinssteuer konnte recht preisgünstig gebaut werden. Die Gestaltung der Architekten Ernst und Günther Paulus war an das Konzept der Gartenstadt angelehnt. Mit dem Verzicht der Hofbebauung war es eine bewusste Alternative zur Mietskasernenstadt.
„Hungerburg“ oder „Stempelburg“ wurde die KüKo damals wegen der vielen Arbeitslosen genannt. Viele hatten Mühe, ihre Miete aufzubringen. Zwangsräumungen konnten jedoch meist durch solidarischen Widerstand der Bewohnerschaft verhindert werden. Mieterräte wurden gegründet, die 1933 eine Mietsenkung um acht Prozent durchsetzen konnten.
Ab 1933 geriet die KüKo ins Visier von SA und Gestapo. Es kam immer wieder zu überfallartigen Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, so auch am 15. März 1933. Alle Literatur, die die Nazis für „kommunistisch“ hielten, wurde auf den Laubenheimer Platz getragen und angezündet. Es soll die erste Bücherverbrennung in Berlin gewesen sein.
1952 ging die Siedlung wieder zurück an die Gehag. 1990 wurde sie unter Denkmalschutz gestellt.
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Buchtipp: Manfred Maurenbrecher: Künstlerkolonie Wilmersdorf. Berlin 2016, be.bra-Verlag.
Maurenbrecher hat seine Kindheit in der KüKo verbracht und ist später in die Wohnung seiner Eltern zurückgezogen.
Der 1987 gegründete Verein Künstlerkolonie e.V. hat eine Website mit vielen Informationen zur Geschichte und zu (ehemaligen) berühmten Bewohnerinnen und Bewohnern der KüKo:
www.kueko-berlin.de
27.09.2023