Der Kreuzberger Mehringplatz steckt in einer Abwärtsspirale. Das soziale Klima wird rauer, Vandalismus und Kriminalität sind Alltag. Die Jugend-, Bildungs- und Kultureinrichtungen, die etwas dagegen ausrichten könnten, sind schlecht ausgestattet, sitzen in maroden Gebäuden und haben eine ungewisse Zukunft. Mieter:innen resignieren vor der Verwahrlosung ihrer Wohnhäuser. Sanierungsvorhaben stocken, weil Geld fehlt und Planungen einem ständigen Hin und Her unterliegen.
Jahrelang war der Mehringplatz eine Baustelle. Die BVG musste die Tunneldecke der U-Bahn abdichten und dafür den ganzen Platz aufreißen. Die anschließende Neugestaltung sollte mit einer kreisrunden Grünfläche an die barocke Stadterweiterung erinnern, als der Platz als „Rondell“ angelegt wurde. Nachdem die Bauzäune entfernt wurden, trat ein, was die meisten vorausgesagt hatten: Die Menschen gingen nicht außen herum, sondern bahnten sich ihren Weg geradeaus über die Grünanlage. Ein breiter Trampelpfad bildete sich heraus, auf dem kein Gras mehr wächst.
Auch sonst läuft so einiges nicht rund am Rondell. Alarmierende Presseberichte und Reportagen schildern mal sachlich, mal sensationsheischend den Niedergang des Viertels. Auch die Gebietsvertretung des Sanierungsgebiets Südliche Friedrichstadt, ein ehrenamtliches Bürgergremium, stellt eine „Abwärtsspirale der baulichen und sozialen Missstände“ fest, die sich „verstetigt und verschärft“. „Akute Probleme sind Gewalt, Kriminalität, Drogenkonsum und -handel, Vandalismus sowie steigende Respektlosigkeit und Verlust von Hemmschwellen im Kontext des sozialen Miteinanders“, heißt es in einer Resolution der Gebietsvertretung, die im Juli einstimmig gefasst wurde. Die Kiez-Engagierten fordern eine Veranstaltung mit entscheidungsbefugten Senats- und Bezirkspolitikern, um konkrete Abhilfe zu beschließen. Eine Reaktion gibt es darauf bislang nicht.
Besonders dramatisch ist die Lage in der Friedrichstraße 1-3, die die Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung KMA und ein Nachbarschaftszentrum mit Kiezkantine beherbergt. Das Gebäude ist seit Jahren marode. Wegen des undichten Daches sind mehrere Räume nicht mehr benutzbar, das Obergeschoss darf nur noch von sieben Menschen gleichzeitig betreten werden, weil der Brandschutz fehlt. Seit der Aufstellung des Sanierungsgebiets im Jahr 2011 steht die Herrichtung des Gebäudekomplexes in der Kostenplanung des Bezirks, doch bewilligt wurden die Maßnahmen nicht.
Die Jugend: Kein Geld, ohne Perspektive, aber voller Wut
Der Quartiersrat, das Bürgergremium des Quartiersmanagements, hat deshalb im Juni einen Offenen Brandbrief zur Rettung der Friedrichstraße 1-3 an den Senat geschrieben. Im Gebiet sind viele Familien auf die Einrichtungen in diesem Haus angewiesen, denn sie wohnen allzu oft mit vielen Personen in zu kleinen Wohnungen. „Zahlreiche Kinder und Jugendliche im Gebiet verbringen daher ihren gesamten Alltag außerhalb der Wohnung – ohne Geld, ohne Perspektive, voller Wut“, schreibt der Quartiersrat. Seine Forderung: „Kein Aufschieben mehr! Sofortige Einleitung der Sanierungsmaßnahmen, bevor noch ein größerer Schaden entsteht – am Gebäude und in der sozialen Struktur des Gebiets!“ Der Appell hatte zumindest insofern Erfolg, dass nun für die dringendsten Reparaturen rund 1,7 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden – Baubeginn ist im nächsten Jahr. Die komplette Sanierung des Gebäudes kostet aber schätzungsweise 25 Millionen Euro.
Eine unendliche Geschichte entspinnt sich um die Parkhaus-Ruine an der Franz-Klühs-Straße. Sie sollte schon längst abgerissen und einem neuen Wohn- und Geschäftshaus gewichen sein. Doch der Eigentümer möchte höher bauen als der Bezirk es erlaubt. So verschandelt nicht nur das bröckelnde Beton-Ungetüm weiterhin die Umgebung. Auch der sich daran anschließende Supermarkt musste im Sommer 2023 schließen. Für Anwohner:innen, die weniger mobil sind, ist der Lebensmitteleinkauf seither schwierig geworden.
Nebenan, im Wohnblock Wilhelmstraße 2-6, laufen die Sanierungsarbeiten unter Hochdruck. Ständige Wasserrohrbrüche, überflutete Keller, Rattenbefall und kaputte Schließanlagen hatten die Mieter:innen so aufgebracht, dass sie 2019 die Initiative „Mehringplatz-West – Es reicht!“ gegründet und lautstark protestiert haben. Sie haben erreicht, dass die städtische Wohnungsbaugesellschaft Howoge im Jahr 2020 dem privaten Eigentümer das Gebäude abkaufte. Die Anfang dieses Jahres begonnene Strangsanierung wird von allen begrüßt und läuft im Zeitplan. Doch die Mieter:innen klagen über wenig Rücksichtnahme. Lärm, Dreck und Staub seien allgegenwärtig, und in der sechs- bis achtwöchigen Bauphase pro Wohnung wisse man nie, wann die Bauarbeiter kommen und gehen. „Die Leute sind runter mit den Nerven“, berichtet Mieterin Hendrikje Herzberg. „Das Hauptproblem ist die ungenügende Kommunikation mit der Howoge.“ Mit der Beratung der Mieter:innen hat die Howoge dieselbe Firma beauftragt, die auch die Sanierungsarbeiten geplant hat und überwacht. „Mieter sind hier nur ein Hindernis“, stellt Hendrikje Herzberg fest. Eigentlich ist es in Berliner Sanierungsgebieten seit den 1980er Jahren Standard, dass Mieterberatungen vom Eigentümer unabhängig sind.
Dass mit einem städtischen Wohnungsunternehmen nicht unbedingt alles gut wird, wussten die Mieter:innen schon von ihren Nachbar:innen auf der Ostseite des Mehringplatzes.
Massive Kritik an Mängelbeseitigung durch die Gewobag
In den rund 1000 Wohnungen der Gewobag häufen sich die Klagen über defekte Klingelanlagen, kaputte Türschlösser, ausgefallene Aufzüge und Verdreckung – und vor allem darüber, dass die gemeldeten Schäden nur sehr schleppend repariert werden. Die von der Gewobag beauftragte Hauswart-Firma ist für die Mieter:innen kaum erreichbar und selten sichtbar. Aus Resignation über die Zustände hat sich hier der Gewobag-Mieterbeirat aufgelöst, und bei der angesetzten Neuwahl fand sich niemand, der für das frustrierende Amt kandidieren wollte.
Ein herber Rückschlag wäre es für den Kiez, wenn die Zentral- und Landesbibliothek (ZLB) tatsächlich in das ehemalige Kaufhaus Galeries Lafayette ziehen sollte. Vor sechs Jahren hatte der Senat eigentlich entschieden, die ZLB bei der Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) am Halleschen Tor anzusiedeln. Das hätte dem benachteiligten Stadtteil sehr gut getan, doch nun muss die Bewohnerschaft sogar darum bangen, dass die für sie enorm wichtige AGB erhalten bleibt.
Jens Sethmann
Nicht Wohnungen, sondern soziale Infrastruktur im Blick
Im Jahr 2011 wurde die Südliche Friedrichstadt als Sanierungsgebiet festgelegt – das erste, das nicht hauptsächlich von Altbauten geprägt ist. Zentral ist die Wohnbebauung um den Mehringplatz, die um 1970 im Sozialen Wohnungsbau errichtet wurde. Zu den wenigen Altbauten, die den Krieg überstanden haben, gesellten sich die Neubauten der Internationalen Bauausstellung IBA 1984/87. Im Fokus der Sanierung liegt aber nicht der Wohnungsbestand, sondern die soziale Infrastruktur. Innerhalb von zehn Jahren sollte deren Modernisierung erledigt sein. Das war nicht zu schaffen. Der Bezirk hat mit Mühe eine Verlängerung des Sanierungsrechts bis 2026 erstritten und bemüht sich schon um weitere fünf Jahre Zeit – Ausgang ungewiss.
Wegen der schwachen Sozialstruktur wurde für den Mehringplatz im Jahr 2005 ein Quartiersmanagement eingerichtet. Damit können Gelder aus dem Programm Sozialer Zusammenhalt im Kiez eingesetzt werden. Doch die Beendigung des Quartiersmanagements im Jahr 2027 ist beschlossene Sache.
js
Sanierungsgebiet Südliche Friedrichstadt:
www.sanierung-suedliche-friedrichstadt.de
Quartiersmanagement Mehringplatz:
www.qm-mehringplatz.de
25.09.2024