Was bringt eine in Stockholm geborene Deutsche und eine Sizilianerin dazu, „Wohnzimmerforschung“ in der Karl-Marx-Allee/Frankfurter Allee, der Allee der Kosmonauten und demnächst im Hansaviertel zu betreiben? Die Interviews und Fotos mit Erstbewohnern der drei architektonischen Vorzeigeobjekte dokumentieren wichtige Aspekte Berliner Stadtgeschichte. Ihre „Urban Art Stories“ werden gerade mit großem Erfolg in vier rumänischen Städten ausgestellt.
„Wenn ich gleich diesen Raum verlasse, wird sich die riesige Allee da draußen anders anfühlen, weil sich hinter den Fenstern Geschichten auftun“, schrieb Friederike ins Gästebuch der Ausstellung „Leben hinter der Zuckerbäckerfassade“, die am 7.Januar 2003, exakt 50 Jahre, nachdem der erste Mieter in die Stalinallee gezogen war, in einem ehemaligen Herrenmodegeschäft in der Frankfurter Allee eröffnet wurde. Die Journalistin Ylva Queisser hatte 20 Bewohner der einstigen sozialistischen Prachtstraße interviewt, die eines gemeinsam haben: Sie wohnen hier, seit die Häuser stehen. Lidia Tirri fotografierte die Mieter und deren Wohnungen – in einigen ist seit 1953 nichts verändert worden.
Eine Wohnung als Losgewinn
Armin Dürr, er wohnte zwischen 1953 und 1963 im Block E-Süd, bevor er in den Block G-Nord gezogen ist, erzählt, wie die begehrten Wohnungen in der Stalinallee vergeben wurden. Er war damals Schriftsetzer bei der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ und leistete 300 Schichten im „Nationalen Aufbauwerk“, wie es damals hieß – nach der Arbeit, an den Wochenenden, im Urlaub. Für 100 Schichten gab es ein Los, jedes dritte Los war ein Hauptgewinn – eine Wohnung in der Stalinallee. Was er nicht wusste: Pro Person gab es nur ein Los … Aber er hatte Glück – sein Los gewann. Für seine 89-Quadratmeter-Wohnung mit Innenbad, damals noch selten, zahlte er 89 Mark Miete – Heizung, Fahrstuhl und Warmwasser inklusive! „Wir hatten nie die Absicht, hier wegzuziehen“, sagt er heute.
Vor dem Einzug Schwerstarbeit
Auch die meisten anderen Interviewten sind nach wie vor zufrieden mit ihrer Wohnung, auch wenn die Mieten heute ein Mehrfaches der ursprünglichen betragen. Noch schätzungsweise 20 Prozent der Mieter sind „Urbewohner“. Für sie sind die Häuser im Zuckerbäckerstil längst Heimat geworden – was wohl ganz normal ist, wenn man, um einziehen zu dürfen, erst einmal 100 Schichten Schwerstarbeit beim Enttrümmern leisten musste. Da nahmen und nehmen die Mieter auch in Kauf, dass in den 70er Jahren die Fliesen gleich reihenweise von den Fassaden fielen und auch das Geld für dringende Sanierungen in den Wohnungen fehlte. Anfangs gab es noch Pförtner, auf den Dachgärten wurden Hausfeste gefeiert. Das Haustelefon ist in manchen Blöcken noch heute in Betrieb. „Auf dem Grünstreifen in der Mitte hätte man abends Gänse hüten können“, erinnert sich Charitas Urbanski, eingezogen am 15. Januar 1953. Heute ist die Allee zwar eine der meistbefahrenen Magistralen der Stadt, aber noch immer nicht die Flaniermeile, als die sie einst konzipiert worden war. „Die Stalinallee war die Verheißung des Lebens einer neuen Gesellschaft als Gemeinschaft“, schreibt der Architekt Bruno Flierl im Vorwort zum Katalog der Ausstellung. Irene Henselmann, Witwe des Stalin-Allee-Architekten Hermann Henselmann, die heute wieder im ehemaligen „Haus des Kindes“ in der „letzten großen Avenue Europas“ wohnt, beklagt wie viele andere Mieter gerade diesen Verlust an Gemeinsamkeit.
Als 1978 die ersten Plattenbauten in der Allee der Kosmonauten in Marzahn bezugsfertig waren, sahen viele Städteplaner diese „aufgetürmten Zeugnisse augenscheinlicher Normalität“ (Simone Hain, Architektur- und Planungshistorikerin) als reine Bedarfsbefriedigung, aber auch als Gegenmodell zum Märkischen Viertel und zur preußischen Fluchtlinienstadt. Für die Mieter war es zumeist die Erlösung aus einem langjährigen Altbautrauma – fünf Treppen Hinterhof mit Außenklo. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung der DDR lebten zum Schluss in Großsiedlungen, etwa 42 Prozent der Plattenbauten gehörten zur Wohnungsbauserie (WBS) 70.
Ylva Queisser und Lidia Tirri hatten keine Probleme, auch in der „monumental hervorgehobenen Allee der Kosmonauten“ (Simone Hain), Erstbewohner für ihre Studie zu finden. Viele der Mieter leben mittlerweile über ein Vierteljahrhundert in der „Platte“. Mehr oder weniger verdiente Bürger erhielten damals „Auszeichnungswohnungen“, „aber es wohnten hier auch welche, die es wirklich nötig hatten“, resümiert Ursula Günter.
Balkone wie Gartenlauben
„Der Wohnungsschnitt in den Neubauten war überall gleich und deswegen passten alle unsere Sachen aus der Wohnung in Rostock rein“, erinnert sich Gerda Kriszunewicz. Es gab Hausgemeinschaftsleitungen, Grillfeste auf der Wiese, finanziert aus der Hauskasse, Kinderfeste, Partykeller, Holzvertäfelungen und Balkone, die wie Gartenlauben aussahen. Trotz gelegentlichem „Betonblock-Rappel“ (Wilfried Klenner) sind die Wohnungen für viele noch immer das „Himmelreich“ (Irmgard Steinbach). „Wir haben beschlossen, dass wir hier alt werden“, konstatieren Renate und Reinhard Ladwig unisono. Und das nicht nur wegen der phantastischen Sonnenuntergänge – die Wohnungen sind nach wie vor „bezahlbar und praktisch, und sie gehören einfach zu den Dingen, an denen man hängt, so hässlich sie auch oft dargestellt werden“ (Gerda Marin).
Die beiden Projekte wurden von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert. Jetzt ist Lidia Tirri auf der Suche nach Sponsoren für eine Fortsetzung. Als nächstes will sie Erstbewohner aus dem Hansaviertel fotografieren. Das 1953 bis 1957 errichtete Viertel gilt als Musterbeispiel für moderne Architektur und Stadtplanung der 50er Jahre, für die „Nachkriegsmoderne West“. In den 36 Einzelbauten und Ensembles gibt es mittlerweile auch zahlreiche Eigentumswohnungen. Die Interviews sollen Journalisten aus verschiedenen Ländern führen. Das längste Interview in der Frankfurter Allee dauerte sechs Stunden. Ob die Bewohner im eher idyllisch-geruhsamen Hansaviertel auch so viel zu erzählen haben?
Rainer Bratfisch
MieterMagazin 11/05
Zuckerbäcker-Fassaden der Karl-Marx-Allee
Foto: Paul Glaser
Hinter den Zuckerbäcker-Fassaden der Karl-Marx-Allee: Foyer im Block C
Fotos: Lidia Tirri
Karl-Marx-Allee: Mieterin Erika Richter wohnt seit 51 Jahren in der Frankfurter Allee (damals Stalinallee)
„Die Wohnungen sind praktisch und bezahlbar“: Dreizimmerwohnung in der Allee der Kosmonauten
„Die Wohnungen sind praktisch und bezahlbar“: Mieterin Gerda Marin in der Allee der Kosmonauten
Die Projekteim Internet:
www.b-wohner.de
Die Ausstellung „Leben hinter der Zuckerbäckerfassade“ wurde bisher in Berlin, Biella (Italien), Kopenhagen, Shanghai und Peking gezeigt; „Allee der Kosmonauten – Einblicke und Ausblicke aus der Platte“ lief in Berlin und Kopenhagen und tourt derzeit durch vier Städte in Rumänien.
Lidia Tirri sucht noch Interviewpartner aus dem Hansaviertel(Erstbezug).
Kontakt:
Thickestraße 41,
10115 Berlin,
Tel. 27594566,
mobil: 01605082156
21.12.2016