1927 zogen die ersten Mieter in den wohl berühmtesten Wiener Gemeindebau ein: den Karl-Marx-Hof. Das Mammutgebäude im Norden der Stadt bot 5500 Menschen würdige Wohnbedingungen mit fließend Wasser und eigenem WC in jeder Wohnung – eine Revolution in Zeiten großer Wohnungsnot.
Kurt Treml kommt verspätet zum verabredeten Treffpunkt vor seinem Büro, in dem er einmal in der Woche Mieterprobleme zu lösen hilft. Der 77-Jährige ist Mieterobmann eines Wiener Sozialwohnungsbaus mit einer durchlaufenden Fassadenlänge von 1,1 Kilometer – Weltrekord.
Treml hatte sich im Aufzug verfangen, in den sein Rollstuhl kaum hineinpasst. Behindertengerecht ist die Wohnanlage nicht. Dennoch: Der Karl-Marx-Hof bedeutete für Treml und alle anderen, die in den Anfangstagen des Gemeindebaus dort eingezogen sind, eine Revolution der Wohnverhältnisse: Jede Wohnung mit fließend Wasser und eigenem WC. Mit Waschküche, Kindergarten, Grünflächen, Mütterberatungsstelle, Zahnklinik und Läden auf dem Gelände. Plus sozialdemokratischem Parteilokal, natürlich. Wer noch kein Roter war, sollte es möglichst werden.
192 Euro Miete für 52 Quadratmeter Wohnfläche plus vier Quadratmeter Loggia zahlt Treml heute. Sein „Marxl-Hof“ war für ihn wie eine Familie, nicht bloß, weil er hier seine Frau kennengelernt hat: „Wenn man im Hof war und Durst hatte, hat man gerufen, dann ist irgendwo ein Fenster aufgegangen und eine Milchkanne mit Wasser wurde heruntergereicht. Einer kannte den anderen.“
Der Hof, geplant vom Architekten und Otto-Wagner-Schüler Karl Ehn, besteht aus einem zurückgesetzten „Superblock“ mit einem vorgelagerten Platz, an dessen beiden Seiten sich je zwei Höfe anschließen. Riesige halbrunde Portale führen in die geschützte „Halböffentlichkeit“ des Hofinnern. Von dort lassen sich über 98 Stiegen 1382 Wohnungen erreichen. Wohnungen für jeden Bedarf, das war schon damals geplant: Vom „Ledigenzimmer“ etwa für entlassene Dienstmädchen oder ausgemusterte Soldaten der Monarchie bis hin zur Arbeiterfamilie mit mehreren Kindern. Nur 18 Prozent des Grundstücks wurden bebaut, der große Rest – 156.000 Quadratmeter – blieb Freifläche, auch das eine Revolution.
Die Wohnbausteuerpolitik im „Roten Wien“
Finanziert wurden die Wiener Gemeindebauten im „Roten Wien“ der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts durch eine Wohnbausteuer, die der Finanzpolitiker Hugo Breitner erfunden hatte: Hohe Abgaben waren für die Haltung von Reitpferden, Automobilen oder für die Beschäftigung von Hauspersonal zu zahlen. Der Sozialdemokrat Breitner drückte es so aus: „Die Betriebskosten der Schulzahnkliniken liefern die Besitzer der vier größten Wiener Konditoreien, die Schulärzte werden durch die Nahrungsmittelabgabe des Sacher bezahlt, das städtische Entbindungsheim wurde aus den Steuern des Stundenhotels erbaut und seine Betriebskosten deckt der Jockey-Club mit den Steuern aus den Pferderennen.“
Zwischen 1923 und 1934 entstanden im Rahmen des Wiener Gemeindebaus über 60.000 Wohneinheiten für mehr als 220.000 Menschen. „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen“, prophezeite Wiens Bürgermeister Karl Seitz bei der offiziellen Eröffnung des Karl-Marx-Hofes im Jahre 1930.
Der Baugrund, eine morastige Wiese an einem alten Donauarm, befeuerte die Häme der klerikalen und rechten Presse gegenüber dem Großunternehmen. Auf das Absinken und den Einsturz des Rohbaus und damit der ganzen Wiener Wohnbaupolitik wartete man genüsslich.
Dazu kam es nicht, dafür geriet der Karl-Marx-Hof unter echten Beschuss. Im Februar 1934 brach ein Aufstand gegen den faschistischen Ständestaat los. Hinter den mächtigen Einfassungsmauern hatten sich die Kämpfer des sozialdemokratischen Schutzbundes verschanzt. Fünf Tage dauerte es, bis ihr Widerstand gebrochen war – durch schweren Beschuss von der Hohen Warte aus. Auf der nahe gelegenen Anhöhe hatten sich Bundesheer und Heimwehr postiert. 1934 – das Ende des Roten Wiens.
24 Stunden im Dienst der Nachbarn
„Auf Leute zu schießen, nur weil sie eine andere politische Meinung haben, ist doch Irrsinn.“ Ilse Hubinka erregt sich, wenn sie von dem Aufstand spricht und zeigt auf ein Eingangsportal am Zentralplatz, der heute „Platz des 12. Februar“ heißt. Hubinka, 58, ist eingefleischte Sozialdemokratin und Hausbesorgerin seit 29 Jahren. Ihre Dienstzeit, sagt sie, beträgt 24 Stunden am Tag, auch sonn- und feiertags: „Ja, es macht mir noch Spaß. Auch wenn die Mieter mich die ganze Nacht aus dem Bett klingeln können, damit ich ihnen die Wohnungstür aufmache. Das kostet 4,50 Euro vor Mitternacht und 5 Euro nach Mitternacht. Und bis 1998 wurde die Miete bei mir in bar eingezahlt. Bloß der Zusammenhalt der Mieter ist nicht mehr wie früher. Die Zeiten ändern sich halt.“
Die Zeiten ändern sich nicht nur wegen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Man kennt sich einfach nicht mehr und hat keinen Respekt mehr vor den Hausbesorgerinnen, beklagt Ilse Hubinka. Und man versteht sich nicht, buchstäblich. Wiener und „Neo-Österreicher“, wie sie hier heißen, Migranten mit österreichischem Pass, die dennoch in den Augen vieler immer Ausländer bleiben.
Hubinka steckt sich die nächste Zigarette an. Solange es noch geht, wird sie weiter arbeiten. Den Humor hat sie nicht verloren. Auf ihrem Grabstein soll einmal stehen: „Sie kehrt nie wieder.“
Alexander Musik
Interview mit der Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Strasser von der Universität Wien.
MieterMagazin: Gibt es ein spezielles Lebensgefühl im Karl-Marx-Hof?
Strasser: Das gibt es bei Menschen, die schon länger hier leben und vielleicht ihre Kindheit schon in dem Haus verbracht haben. Bei denen steckt manchmal auch noch eine politische Ideologie dahinter. Dann gibt es größer werdende Gruppen, denen der Hof einfach nur Wohnraum ist.
MieterMagazin: Wie zufrieden sind denn die Mieter nach Ihrer Einschätzung?
Strasser: Es gibt Sachen, die vom Baulichen bemängelt werden, zum Beispiel die Enge, dass die Wände hellhörig sind, die Lärmbelästigung im Hof stört, es gibt Generationenkonflikte und so weiter. Wir haben erlebt, dass junge Mütter den Wohnraum als kinderfreundlich schätzen. Alte Menschen schätzen, dass sie wenigstens im Hof jemanden treffen können. Außerdem ist es wichtig, dass die Wohnung bezahlbar ist, eine gute U-Bahn-Anbindung hat und dass man schnell im Grünen ist.
MieterMagazin: Für die Wiener Sozialdemokratie ist der Karl-Marx-Hof bis heute ein Symbol – doch das ist in Gefahr, weil immer mehr Bewohner rechts wählen …
Strasser: Ja, die Wählerschaft ändert sich mit den Bewohnern. Es gibt relativ viel offene Fremdenfeindlichkeit. Die Frage ist: Wie wird das aufgefangen, was bedeutet das bei der nächsten Wahl? Ich hab das einmal erlebt, da waren Bezirkswahlen, während ich hier geforscht habe. Da hat man gemerkt, warum die Partei Angst hat: Weil die Mieter wütend sind oder überfordert.
Die Fragen stellte Alexander Musik.
MieterMagazin 11/08
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alle Fotos: Alexander Musik
Ilse Hubinka ist seit 29 Jahren Hausbesorgerin – und eingefleischte Sozialdemokratin
Vier Fünftel der Wohnanlage bestehen aus Grün- und Freiflächen
Zum Weiterlesen:
Karl-Marx-Hof – Versailles der Arbeiter.
Herausgeber: Gerald und Genoveva Kriechbaum, Holzhausen Verlag, Wien
Die Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Strasser von der Universität Wien hat zehn Monate lang Feldforschung im Karl-Marx-Hof betrieben
09.07.2013