Der geschwungene „Bata“-Schriftzug ist weltbekannt. Tomas Bata versorgte die halbe Menschheit mit preiswerten Schuhen. Sein mährisches Heimatstädtchen Zlín verwandelte der Patriarch zwischen 1910 und 1930 dabei in eine dynamische Industrie- und Gartenstadt. Heute ist es wieder ruhiger. Doch mit seinen knapp 80.000 Einwohnern bleibt Zlín ein Sonderfall funktionalistischer Architektur – auch wenn die Schuhindustrie fast ganz abgewandert ist.
Man kann mit Fug und Recht sagen, dass Herz und Seele dieser Stadt im gläsernen Aufzug Tomas Batas in Haus 21, der ehemaligen Verwaltungszentrale der Firma, zu vermuten sind. Die Sonne taucht den außenliegenden Fahrstuhl, gleichzeitig Tomas Batas Büro, in ein gleißendes Licht. Von hier aus konnte der Chef auf Knopfdruck, ohne seinen Platz am Schreibtisch zu verlassen, in jede der 17 Etagen fahren, kontrollieren, dirigieren.
Batas klimatisiertes Fahrstuhlbüro, ausgestattet mit Waschbecken, Telefon und Weltkarte, steht heutzutage still im Erdgeschoss – ein Ausstellungsstück. Zlín ist ja auch nicht mehr Schuh-Welthauptstadt. Aber vieles erinnert noch daran, dass der Schuhmacher Tomas Bata im Alter von 20 Jahren damit begann, diese verschlafene Kleinstadt dazu zu machen. Die Stadt „amerikanisierte“. Warum sollte das, was er in Detroit, an den Fließbändern der Automobilfabriken Henry Fords, gesehen hatte, nicht auch im alten Europa funktionieren? Nicht mit Autos – mit Schuhen, mit preiswerter Massenware. 1894 gründete er seine Firma, seitdem ließ ihn der Gedanke, Schuhe industriell zu fertigen, nicht mehr los.
In wenigen Jahrzehnten wurde er zum Weltmarktführer, der die Maschinen liebte und seine Arbeiter schätzte, ihnen Häuser baute, Krankenhäuser, Kinderkrippen, Kinos, ihnen sauberes Trinkwasser brachte und einen privaten Garten – Gärtnern ist gesund, macht müde und ist somit konterrevolutionär, dachte der Chef, der zeitweise auch noch Bürgermeister seiner Stadt war. Natürlich dachte er zuallererst an seine Firma. Ein überall in Zlín – damals Teil des Habsburgerreichs, heute Tschechische Republik – plakatiertes Motto gab den Takt vor: „Dem Menschen das Denken, der Maschine die Plage.“
Das modernste Gebäude Europas in den 30ern
Der Mann war ein fürsorglicher Tyrann, ein Nationalheld, einer, der sich nicht vorstellen konnte, dass etwas wichtiger sein könnte, als dass ein immer größerer Teil der Menschheit in Bata-Schuhen umher läuft. Zu diesem Zweck reiste er rastlos umher, um von Zlín aus Satelliten seiner Schuhfabrik aus dem Boden zu stampfen, in Modulbauweise wie zu Hause: Batadorp in den Niederlanden, Batawa in Kanada, Bataville in Lothringen, Batanagar in Indien.
In der Zentrale, in Zlín, legte Vladimir Karfik Hand an. Batas tschechischer Chefplaner hatte mit Frank Lloyd Wright und Le Corbusier zusammen gearbeitet. Karfiks Meisterstück: das frühere Verwaltungsgebäude, eben jenes Haus 21. Vor ein paar Jahren mit Liebe fürs Detail und fürs Material restauriert, strahlt es wieder in altem Glanz: 77 Meter hoch seinerzeit, 1939 das höchste und modernste Gebäude Mitteleuropas.
Teile der Stadtverwaltung sind in Haus 21 heute untergebracht. Reges Treiben auf den Fluren, ein hölzerner Paternoster dreht gemütlich seine Runden. Ein Expresslift hält auf Höhe der Dachterrasse. Hier wartet Karel Havlis, lange Jahre oberster Stadtplaner von Zlín, nun Dozent an der Architekturfakultät der Universität Brünn, 100 Kilometer weiter westlich.
Auf dem Dach von Haus 21 pfeift der Wind, doch der Rundblick ist einmalig: Im Talgrund das alte Zentrum und das neue, die Fabrik. Das alte Zentrum mit Kirche, Rathaus und bescheidenem Marktplatz legt Zeugnis ab vom Zlín vor dem Bata-Boom. Daneben das neue Zentrum mit dem Großen Kino aus dem Jahr 1929 mit seinen 2580 Plätzen, zwei Warenhäusern, dem „Hotel Moskva“.
Havlis deutende Hand wandert weiter. Zur Siedlung gleich unterhalb der bewaldeten Hügel, die Zlín einrahmen. Arbeiterhäuschen in langen, sanft geschwungenen Reihen, backsteinfarbene Würfel, alle einzelstehend mit Gärtchen: „Letná, das älteste Einfamilienhaus-Viertel, aus dem Jahr 1922“, sagt Havlis, „die kalte Luft aus dem Wald ist wie eine kleine Spülmaschine – optimal für die Gesundheit der Bewohner und das Mikroklima.“
Letná ist eines von fünf Wohnvierteln, die Bata für seine Arbeiter bauen ließ. 1922, als Letná entstand, waren es 2440, neun Jahre später schufteten knapp 20000 Arbeiter in Zlín, man nannte sie „Batamänner“.
Was tun mit dem Erbe?
Ex-Stadtplaner Havlis ist ein wenig missmutig beim Rundgang über das Fabrikgelände. Was ihm fehlt, ist ein einheitliches Nutzungskonzept für seine alte Heimat und ein städtebaulicher Bezug zwischen dem riesigen Fabrikareal und dem kleinen alten Ortskern. Schuld daran, dass es nicht vorangehe, seien ungeklärte Besitzverhältnisse, es gebe da noch „viele offene Fragen aus der Zeit der ersten, schlechten Schritte der Privatisierung“. Manche Halle steht in der Tat leer, die Fassade vergammelt, im Erdgeschoss eines Gebäudes hat sich ein asiatischer Discounter eingerichtet, chinesische Schlagermusik plärrt durch den Raum.
Nebenan hat sich ein Ableger der Tomas Bata-Universität angesiedelt. Und tatsächlich werden auf dem Gelände auch noch Schuhe hergestellt, in bescheidenem Maßstab: Die Firma „Moleda“ hat sich auf Reitstiefel für den Export spezialisiert, das Unternehmen „Upman“ wirbt mit seinem Know-how bei der Herstellung von Goretex-Schuhwerk.
Zeit für eine Pause im neuen Zentrum. Im langgestreckten Flachbau, wo früher Hundertschaften von Batamännern (und -frauen) ihr Mittagessen einnahmen, neben dem Großen Kino, ist heute ein Restaurant, eingerichtet wie ein US-amerikanisches Steakhouse mit sozialistischer Grundierung. Zu greller Popmusik machen Schüler ihre Hausaufgaben, essen alleinstehende ältere Herren zu Mittag, spielen Freunde Karten, an den Wänden ein paar Schwarzweiß-Fotos aus der Bata-Zeit, die sich natürlich niemand anschaut.
Nach dem Essen steuert Karel Havlis seinen Wagen nach Letná hinauf, der ersten Arbeitersiedlung. Letná sollte die Annehmlichkeiten einer Stadt und die Vorzüge des Landes haben, schrieb Erdély 1932. Das Konzept ist noch heute nachvollziehbar: Letná verspricht attraktives Wohnen, auch wenn die Ein-, Zwei- oder Vierfamilienhäuser einen bescheidenen Grundriss haben. Ruhige Wohnstraßen statt Mietskasernen, im Garten sprießen Blumen und Gemüse, der Abstand zwischen den Häusern ist zu klein, als dass spätere Stadtplaner Plattenbauten in realsozialistischer Manier dazwischen setzen konnten, merkt Havlis lächelnd an. Obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg manche Bata-Häuser abgerissen wurden und gesichtslose, schlecht gealterte Wohnblocks an ihre Stelle traten – es herrschte Wohnungsnot.
Havlis fährt zurück ins neue Zentrum. In einem Park fällt ein Standbild Tomas Batas ins Auge. Lediglich „1876 – 1932“ steht unter seinem Namen. Am 12. Juli 1932, eines nebligen Morgens, zerschellten Tomas Bata und sein Pilot im Flugzeug am Schornstein der eigenen Fabrik – ein skurriler Tod, der auf eine vertrackte Weise zu dem Großauftrag passt, der Tomas Bata endgültig zum „Schuhkönig“ gemacht hatte. Der Auftrag kam vom Kaiser aus Wien: Die Soldaten der k.u.k.-Armee marschierten in Stiefeln aus dem Hause Bata in den Ersten Weltkrieg.
Alexander Musik
MieterMagazin 11/09
„Ungeklärte Besitzverhältnisse bremsen die Entwicklung“: Karel Havlis, Stadtplaner und Architekturdozent
alle Fotos: Alexander Musik
„Warum nicht Schuhe am Fließband herstellen wie Autos?“, Werksgelände der Firma Bata in Zlín
„Warum nicht Schuhe am Fließband herstellen wie Autos?“, Tomas Bata, Schuhfabrikant
Siedlung Letnà: Der Firmenpatriarch bescherte seinen Arbeitern ein attraktives Wohnen mit Gärten und ruhigen Straßen
Eugen Erdély: „Tomas Bata. Ein Schuster erobert die Welt“, Reprint von 1932, 191 Seiten, viele Abbildungen, Verlag interna, Bonn
Zum Thema
Ein Trainingsplatz für moderne Menschen
„Utopie der Moderne“ war ein internationales Symposion überschrieben, das sich im Mai 2009 in Zlín und Prag dem Phänomen Bat’a kulturwissenschaftlich näherte. Themenspaziergänge und Expertengespräche machten das Ineinandergreifen von Stadt und Unternehmen deutlich, zeichneten die Formung des neuen Industriemenschen nach. Gefragt wurde aber auch perspektivisch: Wie sehen Studenten heute ihre Stadt? Was erwarten sich Denkmalschützer? Wie soll Zlín künftig mit Leben gefüllt werden? Regina Bittner, Kulturwissenschaftlerin an der Stiftung Bauhaus in Dessau und Symposionsteilnehmerin, fasst das Phänomen Bat’a so zusammen: „Zlín war verräumlichte Zukunft – ein moderner Ort, ein Trainingsplatz für moderne Menschen.“
am
21.11.2021