Ein Volksbegehren gegen Nachtflüge über Berlin wird es nicht geben, aber der Widerstand gegen den Lärm um den neuen Großflughafen ist ungebrochen. Er regt sich längst nicht mehr nur im Süden, sondern mehr und mehr auch im Norden, über dem derzeit eine wahre Schalllawine niedergeht. Erste Entschädigungsforderungen sind beim Berliner Senat eingetroffen. Berechtigt, erklärt ein Jurist – keine Chance auf Erfolg, antwortet ein Lärmschutzbeauftragter.
Gescheitert? Manfred Thüring schüttelt bestimmt den Kopf: „Erfolgreich gescheitert“, verbessert er. 150.000 bis 160.000 Stimmen gegen einen regulären Luftverkehr am Himmel über Berlin zwischen 22 und 6 Uhr – das sollte der Politik zu denken geben. „Und wenn der neue Flughafen öffnet und es kommt, wie wir befürchten“, so prophezeit der Mitbegründer der Bürgerinitiative Spandauer Süden (BISS), „dann werden noch viel mehr Leute aufwachen.“ Denn geflogen werden soll mit Inbetriebnahme des neuen Berliner Großflughafens (BER) bis 23.30 Uhr und bereits ab 5.30 Uhr.
„Das sind immerhin durchschnittlich 77 Flugbewegungen in den umstrittenen nachtruhegeschützten Stunden“, ergänzt Herbert Rinneberg, Mitorganisator der Initiative gegen Nachtflüge. Hinzu kommen die Flugbewegungen, die ohnehin auch in den Ruhestunden starten und landen dürfen: Rettungs- und Katastropheneinsätze, Nachtpostflüge und genehmigte Sonderflüge beispielsweise. Dabei ist gerade in dieser Zeit die Ruhe für einen gesunden Schlaf notwendig.
Bestimmungen nicht nachvollziehbar
Nicht von ungefähr ist der Nachtschutzbereich um den Flughafen deutlich größer als die Tagschutzzone. In beiden Bereichen haben 25.500 Wohnungen und damit etwa 40.000 Brandenburger und Berliner Anspruch auf passiven Schallschutz: Lärmschutzfenster, ein gedämmtes Dach beziehungsweise gedämmte Außenwände oder auch spezielle Lüfter, die Frischluftzufuhr ermöglichen, ohne dass die Fenster geöffnet werden müssen. Allerdings können erst einmal nur Eigentümer solche Ansprüche selbst anmelden. Mieter müssen ihre Forderungen nach Schallschutzmaßnahmen gegenüber ihrem Vermieter geltend machen.
Wie hoch die Lärmbelastung um den neuen Großflughafen sein darf, hatte der Planfeststellungsbeschluss von 2004 festgelegt: 55 Dezibel (dB) in Innenräumen. Dies entspricht der Lautstärke eines normalen Gespräches. Weil ein höherer Lärmpegel die Kommunikation stört, soll dieser Pegel am Tag nicht überschritten werden. Anders in der Nacht: Hier lässt der Planfeststellungsbeschluss sechs Lärmüberschreitungen zu. „Dass eine ungestörte Kommunikation damit höher eingestuft wird als ein ungestörter Nachtschlaf“, findet selbst Peter Lehmann, Leiter der Stabstelle Schallschutz beim BER-Airport, „eigentlich nicht nachvollziehbar.“
Es hätte noch schlimmer kommen können: Warum nicht auch für den Tag einführen, was für die ruhegeschützte Nacht gilt? Eine solche „Auslegung“ des Planfeststellungsbeschlusses würde enorme Kosten sparen: rund 600 Millionen Euro. Am 19. April diesen Jahres reichte die Flughafengesellschaft einen sogenannten Klarstellungsantrag ein: Die 55 dB sollten auch am Tag sechsmal übertroffen werden dürfen. Acht Wochen später beschied das Brandenburger Oberverwaltungsgericht (OVG): Eine solche „Umdeutung“ sei nicht zulässig. Die Flughafenbetreiber waren nicht einverstanden, legten Widerspruch ein und zogen vor das Bundesverwaltungsgericht.
Noch kann niemand genau sagen, wie hoch die Lärmbelastung wirklich sein wird: „Berechnet wurden die Maximalpegel der häufigsten Flugzeugtypen in Abhängigkeit von der Überflughöhe“, so der pensionierte Physiker Rinneberg. Wie groß der Lärm tatsächlich ist, hängt jedoch noch von vielen anderen Faktoren ab.
In Tegel sollten eigentlich seit gut drei Monaten die Fenster auch nachts offen stehen können. Aber der Berliner Norden leidet schwer unter dem Versagen im Süden: „Seit Juni ist hier bei uns der Lärm extrem angestiegen“, klagt Petra Fuchs, eine Lehrerin aus Hakenfelde, einem Wohngebiet am Tegeler Forst nahe am Flughafen. Mit ihrem Mann war sie vor zweieinhalb Jahren hierher gezogen, weil klar war, dass und wann der Flugbetrieb enden würde. Inzwischen sind die Beiden zwar einiges an Fluglärm gewohnt, aber die jüngsten Belastungen überschreiten jedes erträgliche Maß. „Morgens um 6 Uhr geht das los und um 23.15 Uhr werden wir immer noch von einem Flieger geweckt, wir sind nur noch genervt.“
Noch bis zum 27. Oktober kommenden Jahres müssen sie den Krach aushalten – mindestens. „Da kommen ja Maschinen im Minutentakt, kreisen teilweise in 300 Metern Höhe – und das zwischen 22 und 23 Uhr“, weiß auch Frank Maciejewski, Mietrechtsexperte des Berliner Mietervereins aus eigenem Erleben.
Ein Schallschutzprogramm wie in Schönefeld, das den Krach in den Innenräumen begrenzen würde, hat es um Tegel herum nie gegeben. „Aber nach meinen Berechnungen können sich mindestens 3300 Menschen berechtigte Chancen auf Lärmschutz oder Entschädigung ausrechnen“, erklärt der Anwalt Dirk Streifler, der den ersten Antrag einer Anwohnerin bei der zuständigen Senatsumweltverwaltung eingereicht hat: den Antrag von Petra Fuchs. Der Jurist beruft sich dabei auf die Paragraphen 74 und 75 des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Diese betreffen Planfeststellungsbeschlüsse und Plangenehmigungsverfahren. Ist ein Planfeststellungsbeschluss erst einmal rechtswirksam, können eigentlich keine Entschädigungen mehr geltend gemacht werden – es sei denn, so heißt es im Gesetz, es treten nicht vorhersehbare Belastungen ein.
War die Verschiebung der Eröffnung von BER vorhersehbar? Hätte ein weit über die geplante Schließung hinaus betriebener Flughafen Tegel einkalkuliert werden müssen? Ist eine Belastung mit noch einmal 81 zusätzlichen Flügen pro Woche hinzunehmen?
„Es gibt inzwischen mehrere Anfragen“, bestätigt der Leiter der Stabstelle Schallschutz beim BER-Airport, Peter Lehmann. „Solche Forderungen sind auch nachvollziehbar, aber in Aussicht stellen kann ich nichts.“ Die Regelwerke für den Lärmschutz in Tegel, so Lehmann, gelten bis zu dessen Betriebsschluss. Und die sehen keinerlei Entschädigungszahlungen vor.
Zivilrecht bietet wenig Aussicht auf Erfolg
Ebenso gibt es kaum zivilrechtliche Möglichkeiten für Mieter, Mängel geltend zu machen und beispielsweise eine Mietminderung wegen erhöhten Fluglärms durchzusetzen. Frank Maciejewski vom Berliner Mieterverein: „Da werden sicher Einzelfälle geprüft werden, aber es wird schwer. Für die einen, weil schon vor ihrem Einzug Start- und Landekrach existierte. Und für die anderen, weil man ihnen unterstellt, sie hätten beim Abschluss ihres Mietvertrages wissen müssen, dass Fluglärm auf sie zukommt.“
Für Petra Fuchs ist eine solche Rechtslage nicht akzeptabel. Und sie fühlt sich allein gelassen: „Es gibt hier Nachbarn, die es nicht mehr ausgehalten und sich erst mal auf eigene Kosten Schallschutzfenster eingebaut haben.“ Und sie? „Wir sind jetzt zum Schlafen in den Keller gezogen.“
Rosemarie Mieder
MieterMagazin 11/12
„Wenn der neue Flughafen eröffnet wird, werden noch viel mehr Leute aufwachen“: Protestaktion im Berliner Süden
Fotos: Christian Muhrbeck
Jedes erträgliche Maß überschritten: Fluglärm in den Tegeler Einflugschneisen
Foto: Christian Muhrbeck
Die Flugrouten am künftigen BER stehen fest. Sie werden aktiviert, sobald der Flughafen Tegel geschlossen und zeitgleich der neue Airport BER in Betrieb genommen wird. In Berlin sind Gebiete im Südosten und Südwesten betroffen, beispielsweise Bohnsdorf, Schmöckwitz, Müggelheim, Baumschulenweg, Altglienicke und Rahnsdorf, aber auch Lichterfelde, Lankwitz und Zehlendorf.
Rat und Tat
Das Maß des Lärms
Lautstärke wird in Dezibel (dB) gemessen. Zwar ist das Empfinden für Geräusche und Lärm bei jedem Menschen etwas unterschiedlich, dennoch lassen sich verschiedene Lautstärken zuordnen.
10 Dezibel: Atmen, raschelndes Blatt
20 Dezibel: Ticken einer Armbanduhr
30 Dezibel: Flüstern
40 Dezibel: leise Musik
45 Dezibel: übliche Geräusche in der Wohnung
50 Dezibel: Regen, Kühlschrankgeräusche
55 Dezibel: normales Gespräch
60 Dezibel: Nähmaschine, Gruppengespräch
65 Dezibel: Kantinenlärm
70 Dezibel: Schreien, Rasenmäher
Eine Zunahme um zehn Dezibel entspricht einer Verdopplung der Lautstärke.
Lärm wirkt sich nicht nur auf das Ohr, sondern auf den ganzen Organismus negativ aus. Die gesundheitlichen Folgen reichen von Schlafstörungen und Stress-Symptomen über Hörschäden bis zum Herzinfarkt. Bei einem Dauerschallpegel von 60 Dezibel treten Stressreaktionen im Schlaf auf, ab 80 Dezibel kann die Gesundheit ernsthaft leiden. Die Schmerzgrenze liegt bei 130 Dezibel, dann hält sich ein Mensch automatisch die Ohren zu. Lärmeinwirkung von 150 Dezibel verursacht in Sekunden irreparable Schäden.
rm
29.03.2013