Am 18. März 1963 verkündete der Regierende Bürgermeister Willy Brandt das „Erste Stadterneuerungsprogramm“ für West-Berlin. Das war der Anfang der wechselvollen Berliner Stadterneuerungsgeschichte. Sanierung hieß anfangs noch in aller Regel: Abriss und Neubau. Vor allem im Wedding, in Kreuzberg und Neukölln hat die Kahlschlagsanierung ganze Straßenzüge ausradiert, bis zunehmender Widerstand ab 1980 die Abrissbagger zum Stoppen brachte. Dass diese stadtzerstörerische Art der Sanierung falsch war, hat seither niemand bestritten. Doch heute, zum 50-jährigen Jubiläum, versucht die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Kahlschlagsanierung wieder in ein gutes Licht zu stellen, zum Teil sogar mit denselben Argumenten, die vor 50 Jahren schon falsch waren.
Am 3. September 2013 pflanzten der Stadtentwicklungssenator Michael Müller, der Abgeordnetenhauspräsident Ralf Wieland und der Vorstand der Wohnungsbaugesellschaft Degewo, Frank Bielka, in der Stralsunder Straße im Wedding einen Haselnussbaum und enthüllten eine Gedenktafel, die an den Beginn der Stadterneuerung vor 50 Jahren erinnert.
Der Stadtteil beiderseits der Brunnenstraße gehörte zu den ersten Sanierungsgebieten, die 1963 aufgestellt worden sind. Es war das größte Gebiet und sollte ein „Sanierungslabor“ werden. „Wir haben uns vorgenommen, den Wedding so zu erneuern, dass das Odium der Zweitklassigkeit verschwindet, dass ein intaktes Stadtbild Abbild einer intakten Gesellschaft wird“, erklärte Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt 1963.
Der Krieg hatte das Viertel um die Brunnenstraße noch einigermaßen verschont: 30 Prozent der Bausubstanz waren zerstört oder beschädigt. Ziel der Sanierung war die „Beseitigung der städtebaulichen Missstände“. In den Augen der Planer war die gesamte gründerzeitliche Bebauung mit Hinterhäusern und Gewerbebetrieben ein einziger Missstand. Rund 80 Prozent der Wohnungen hatten ein Außenklo, Bäder soll es „nur in Einzelfällen“ gegeben haben. Eine genauere Untersuchung der Altbauten gab es aber nicht. Die 70 bis 80 Jahre alte Bausubstanz wurde einfach für „überaltert“ und damit für nicht erhaltungswürdig erklärt. Es war auch nicht vorgesehen, dass die Bewohner bleiben. Eine Sozialstudie von 1969 spricht von einem „Milieu von Armut, Alter und Unbildung“ und von „überalterten und veralteten Sozialstrukturen“. „Wenn die Gebäude erneuert, diese Strukturen aber konserviert werden, dann hat die Sanierung die sozialpolitischen Ziele nicht erreicht“, heißt es dort.
In den Sanierungsgebieten wurden gemeinnützige Wohnungsunternehmen als Sanierungsträger eingesetzt. An der Brunnenstraße war das die Degewo. Ihre Aufgabe war es, die Grundstücke nach und nach aufzukaufen, die Häuser „freizumachen“ und abzureißen, um dort anschließend im Sozialen Wohnungsbau Neubauten hochzuziehen.
Bustour ins Neubauviertel
Die „Freimachung“ rief unter den Mietern zwar Unmut hervor, verlief aber dennoch erstaunlich geräuschlos. Da in den Häusern nur noch das Allernötigste repariert wurde, zogen die ersten Mieter schon von selbst aus. Die von der Degewo angebotenen Neubauwohnungen nahmen auch viele Bewohner an, die auf Kohlenschleppen und Außenklo keine Lust mehr hatten. Das Wohnungsunternehmen hatte dazu eigens einen „Umsetzer“ abgestellt, der ab 1968 vor Ort in einem hypermodernen Informationspavillon saß und Bustouren in die Neubausiedlungen am Stadtrand organisierte, um die Leute zum Auszug zu bewegen.
Für die verbleibenden Mieter wurde es in den halbleeren und nun tatsächlich verfallenden Häusern immer ungemütlicher. Der fortschreitende Abriss ihrer gewohnten Nachbarschaft und das Wegsterben der Läden taten ein Übriges.
Am Ende sind im Gebiet Brunnenstraße 9000 von ursprünglich 14.700 Altbauwohnungen beseitigt worden.Die Einwohnerzahl hat sich zwischen 1961 und 1988 von 39.000 auf 21.000 nahezu halbiert. Vom alten Wedding ist kaum etwas übrig geblieben. Einige Vorderhäuser haben in der Graun-, Ramler- und Putbusser Straße überlebt. Das Stadtbild gleicht heute dem einer Großsiedlung am Stadtrand, unter anderem weil das Gewerbe fast völlig verschwunden ist. Auch die Sozialstruktur hat sich hier trotz des beinahe vollständigen Austauschs der Bewohner nicht verbessert. Heute beziehen rund 40 Prozent der Bewohner Transferleistungen, etwa 60 Prozent sind nicht-deutscher Herkunft. Eine „intakte Gesellschaft“ hatte man sich 1963 jedenfalls anders vorgestellt.
Seit den 80er Jahren gilt die Brunnenstraße als Paradebeispiel verfehlter Stadterneuerung. Umso erstaunlicher ist es, wie der Senat die damalige Sanierung heute zum 50. Jubiläum bewertet. Michael Müller ist voll des Lobes: „Willy Brandt gelang es, eine Stadterneuerungstradition zu begründen, die uns bis heute Orientierung und Verpflichtung ist.“ Der Abgeordnetenhauspräsident Ralf Wieland rechtfertigt den Kahlschlag mit den gleichen Argumenten wie vor 50 Jahren: „Im Berlin der Nachkriegszeit herrschten in vielen Innenstadtbereichen katastrophale Wohnverhältnisse: Häuser mit bis zu sechs Hinterhöfen, in die kein Tageslicht mehr drang, waren am Gesundbrunnen keine Seltenheit.“ Das Erste Stadterneuerungsprogramm, meint Wieland, war „ein Segen für gute Wohnverhältnisse am Weddinger Gesundbrunnen“.
Paradebeispiel verfehlter Sanierungspolitik
In einem Thesenpapier der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung wurde seinerzeit eine düstere Vision gezeichnet: „Ohne das Erste Stadterneuerungsprogramm hätte die Gefahr bestanden, dass das Brunnenviertel zu dem hätte werden können, was die Bronx für New York in den 70er Jahren war: ein Stadtteil mit ungebrochener Verelendungsdynamik.“ Dabei wird ausgeblendet, dass der Verfall und die Destabilisierung erst so richtig begannen, als das Damoklesschwert des Totalabrisses über das Viertel gehängt wurde. Hätte man die funktionierende Stadtstruktur nicht mutwillig zerstört, könnte das Brunnenviertel heute auch ein so attraktiver Stadtteil wie das benachbarte Quartier am Arkonaplatz sein.
Interessant ist zudem, wie der ehemalige Sanierungsträger seine Rolle heute sieht: „Die Degewo hat damals früh erkannt, welche große Bedeutung einer breiten Informationsarbeit für die betroffenen Bewohner zukommt“, sagt Frank Bielka. Bezeichnenderweise wurde gleich nach der feierlichen Jubiläumsbaumpflanzung der direkt daneben stehende Informationspavillon abgerissen, in dem der „Umsetzer“ damals sein Büro hatte.
Jens Sethmann
MieterMagazin 11/13
Schwarz/weiß-Fotos: Götz Kreikemeier
Farbfotos: Nils Richter
Abriss und Neubau in der Putbusser Straße 22, 23, 24
… in der Reinickendorfer Straße 104
… und in der Ramlerstraße 23
Zum Thema
83 Prozent Abriss
Der Senat hat 1963 in sechs Bezirken zwölf Sanierungsgebiete mit einer Gesamtfläche von 450 Hektar aufgestellt. Diese umfassten 56.000 Altbauwohnungen, in denen 140.000 Menschen lebten. Die größten waren neben Wedding-Brunnenstraße die Gebiete Kreuzberg-Kottbusser Tor, Schöneberg-Bülowstraße, Charlottenburg-Klausenerplatz und Neukölln-Rollbergstraße. Von den 56.000 Wohnungen sollten nur 9500, also 17 Prozent, erhalten und modernisiert werden. Zum Abriss vorgesehen waren also 46.500 Wohnungen, und damit die Heimat von rund 115.000 Menschen. Die angestrebte zügige Durchführung der Sanierungsmaßnahme innerhalb von 10 bis 15 Jahren wurde weit verfehlt. Bis 1978 waren „nur“ die Hälfte der Mieterumsetzungen und Abrisse erledigt und erst 40 Prozent der geplanten Neubauten errichtet. Zu dieser Zeit deutete der Bausenator Harry Ristock eine Abkehr von der Kahlschlagsanierung an. Breite Proteste und die Hausbesetzerbewegung erzwangen dann 1981 die behutsame Stadterneuerung. Für das Brunnenviertel und die Rollbergsiedlung kam diese Wende jedoch zu spät.
js
28.11.2013