In Berlin-Mitte flammt eine alte Debatte wieder auf: Sollen in der Innenstadt sozial gemischte, nachhaltige, bezahlbare und moderne Neubauten entstehen, oder sollen sie vorrangig dem Bild der historischen Altstadt entsprechen? Anlass für den Streit ist die unerwartete Beendigung des Wettbewerbs zur Bebauung des Molkenmarktes durch die Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt. Sie ist bekannt für die Unterstützung historischer Konstruktionen. Zudem tritt eine neue Stiftung zur Wiederherstellung der Berliner Altstadt auf den Plan. Kann man unter den derzeitigen Bedingungen in der Innenstadt überhaupt noch preisgünstige Wohnungen bauen?
Am Molkenmarkt im historischen Zentrum von Berlin wird seit zwei Jahren gebuddelt und seit 25 Jahren geplant. Doch was hier gebaut werden soll, ist immer noch nicht ganz klar. Die Grundzüge der Planung sind kaum umstritten. Schon der erste Entwurf des Planwerks Innenstadt von 1997 sah vor, die überbreiten Straßen auf ihre ursprüngliche Trasse zurückzuführen und auf dem früheren Stadtgrundriss eine geschlossene Blockbebauung zu errichten. So heftig auch diskutiert wurde – um den Molkenmarkt gab es wenig Streit. Zu unwirtlich ist der riesige Platz mit der lauten Kreuzung, den unzähligen Parkplätzen und dem kümmerlichen Grün.
Es dauerte aber bis 2016, um einen Bebauungsplan aufzustellen. Für den folgenden städtebaulichen Wettbewerb wurden zunächst mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern Leitlinien erarbeitet: Gefordert war unter anderem innovativer, bezahlbarer Wohnungsbau, flexible Räume für die Kultur und eine klimagerechte Gestaltung. Zudem sollten die landeseigenen Flächen nicht privatisiert, sondern von den städtischen Wohnungsbaugesellschaften bebaut werden.
Im anschließenden Wettbewerb wurden im November 2021 zwei Architektenteams mit einem ersten Preis ausgezeichnet. Beide Siegerentwürfe sollten in einem Werkstattverfahren mit breiter Beteiligung der Bewohnerschaft so weit verfeinert werden, dass die Preisjury einen Entwurf zur Grundlage für die Bebauung auswählen könnte – das zumindest dachten alle Beteiligten. Doch am 13. September ging das Werkstattverfahren zu Ende, ohne dass ein Sieger gekürt worden war. Die Beteiligten, die viel Engagement in die Pläne gesteckt hatten, fühlen sich nun brüskiert.
Der Entwurf des Kopenhagen-Berliner Teams „OS arkitekter/Czyborra Klingbeil Architekturwerkstatt“ bekam viel Lob, weil er ökologisches, kostengünstiges und flexibles Bauen so umsetzt, dass die vorgegebenen Leitlinien voll erfüllt werden. Der andere Entwurf von Bernd Albers, Silvia Malcovati und Vogt Landschaftsarchitekten aus Berlin und Zürich verspricht hingegen mit einer kleinteiligeren Bebauung ein Mehr an historischer Betonung, wurde aber im Verlauf des Werkstattverfahrens stärker sozial und ökologisch ausgerichtet.
Ungewöhnlicher Ausgang des Verfahrens
Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt, ausgesprochene Befürworterin historischer Rekonstruktionen, erklärte nach Beendigung des Verfahrens, es wäre gar nicht beabsichtigt gewesen, einen Siegerentwurf zu küren. Die Planerinnen und Planer hätten „uns wertvolle Diskussionsansätze mit auf den Weg gegeben“, so Kahlfeldt. Aus der Zusammenschau der Entwürfe will die Senatsverwaltung nun einen Masterplan entwickeln, der letztendlich vom Senat beschlossen werden soll.
„Ein Desaster“ nennt der Bauhistoriker Matthias Grünzig das ergebnislose Ende. Er hat als Bürgervertreter das Wettbewerbs- und Werkstattverfahren begleitet. „Eine hoffnungsvolle Entwicklung wurde ausgebremst. Der Neubau von 400 bezahlbaren Wohnungen, die Berlin gut gebrauchen könnte, wird verzögert“, so Grünzig. „Zudem wurde viel Vertrauen zerstört.“
Zusammen mit der Präsidentin der Architektenkammer Berlin, Theresa Keilhacker, hat Matthias Grünzig einen „Aufruf für ein soziales und ökologisches Modellquartier am Molkenmarkt“ gestartet. „Die Gefahr ist groß, dass die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens missachtet werden und am Ende ein Entwurf steht, der den Leitlinien nicht mehr gerecht wird“, heißt es da. Zu den mehr als 200 Unterzeichnenden gehören nicht nur Architektenvereinigungen, sondern auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kunstschaffende, Umweltverbände und der Berliner Mieterverein.
Auf der anderen Seite wird für eine möglichst historische Rekonstruktion der Stadtmitte getrommelt. Im Juli hat die Unternehmerin Marie-Luise Schwarz-Schilling die „Stiftung Mitte Berlin“ gegründet. Sie will sich dafür einsetzen, „dass im Bereich der ehemaligen Altstadt möglichst viele Plätze, Gebäude und Denkmäler aus der Zeit vor 1933 wiedergewonnen werden“. Den in jahrelanger Arbeit verfeinerten Plänen für den Molkenmarkt stellt die Stiftung schicke Bilder entgegen, die an eine gute alte Zeit erinnern sollen: Niedrige Häuser mit Stuckfassaden, schmale Straßen, viele Fußgänger, wenige Autos und kaum Bäume sind zu sehen.
Mit der Macht nostalgischer Bilder möchte die Stiftung nicht nur am Molkenmarkt die Zeit zurückdrehen. Auch für den Platz zwischen dem Roten Rathaus und der Marienkirche präsentierte sie Retro-Visionen. „Wie wäre es, wenn wir die Qualitäten des Jahres 1928 in das Jahr 2028 übertragen könnten?“
Geltendes Planungsrecht und vorangegangene Entscheidungen ignoriert die Stiftung. So ist für den großen Freiraum vor dem Roten Rathaus gerade erst vor einem Jahr ein Wettbewerb zur Landschaftsplanung entschieden worden. Vorangegangen war ein aufwendiges Beteiligungsverfahren, an dessen Ende im Jahr 2016 verbindliche Bürgerleitlinien vom Abgeordnetenhaus beschlossen wurden. Die Kernaussage ist: Der Freiraum wird nicht bebaut.
Schon aus stadtklimatischen Gründen sollte man auch in der Innenstadt nicht jede freie Fläche bebauen. Der Klimawandel verlangt kühlende Grünflächen und Frischluftschneisen, damit die Wohnbedingungen in der Stadt auch in kommenden Hitzesommern erträglich bleiben. Und den weiträumigen Städtebau der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts kann man auch nicht pauschal als baukulturellen Sündenfall behandeln.
Vergeblich: Warten auf die Baukräne
Doch auch wo es in der Innenstadt bebaubare Flächen gibt, sind die Bedingungen für bezahlbaren Wohnungsbau denkbar schlecht. Die Grundstückspreise sind durch Spekulation dermaßen in die Höhe getrieben worden, dass sich Wohnungsbau nur noch im Luxussegment lohnt. Manchmal nicht mal das: So liegt in der Wilhelmstraße 56-59 ein Filetstück seit sieben Jahren brach. Der Eigentümer des Plattenbau-Blocks, der hier in den letzten Jahren der DDR entstanden war, scheute weder Kosten noch Mühe, um eine Abrissgenehmigung und eine Baugenehmigung für eine Luxus-Wohnanlage zu bekommen und die Mieterschaft zu vertreiben. Nach dem Abriss kamen aber keine Baukräne. Stattdessen wurde das baureife Grundstück mehrmals weiterverkauft. Aktueller Eigentümer ist der börsennotierte Wohnungskonzern Adler Group mit Sitz in Luxemburg. Zwischenbilanz: 100 intakte und bezahlbare Wohnungen wurden zerstört und ein paar Spekulanten haben daran verdient.
„Jetzt ist der richtige Moment, dieses Filetgrundstück aus der Spekulation zurückzuholen und für kommunalen und leistbaren Wohnungsbau zu sichern“, fordert deshalb Katalin Gennburg, baupolitische Sprecherin der Linksfraktion. „Während wir an anderer Stelle darüber diskutieren, ob wir Innenhöfe bebauen, den Menschen Gebäude vor die Fenster setzen oder Grünflächen vernichten, kann hier ein deutliches Signal für eine sozial-ökologische Bodenpolitik und Stadtentwicklung gesetzt werden.“ Der Senat solle alle Möglichkeiten nutzen, sich das Gelände zurückzuholen, damit ein landeseigenes Wohnungsunternehmen hier Sozialwohnungen bauen kann, so Gennburg.
Jens Sethmann
Chancen vertan, Grundstücke verschleudert
Wie eine Bebauung nach historischem Vorbild scheitern kann, lässt sich auf dem Friedrichswerder besichtigen. Öffentliche Grünflächen wurden in kleinen Parzellen an Privatleute verkauft, die hier ab 2005 schmale, bis zu vierstöckige Townhouses bauten. Der damalige Senat wollte selbstnutzende Eigentümerfamilien aus der Mittelschicht in die Innenstadt locken, weil er sich von ihnen eine stabilisierende und belebende Wirkung erhoffte. Stattdessen wurden schon zehn Jahre später die ersten Townhouses mit horrenden Gewinnen als Spekulationsobjekt verkauft. Einige scheinen nicht dauerhaft bewohnt zu sein. Die Straßen verströmen keinerlei Altstadtflair, sondern sind so grau, leer und öde wie es dem Alexanderplatz immer angedichtet wird. Die Chance, auf öffentlichem Grundbesitz ein sozial gemischtes, ökologisch nachhaltiges und kulturell lebendiges Stadtviertel zu bauen, wurde hier wider besseren Wissens vertan.
js
https://molkenmarkt.berlin.de
27.10.2022