Kein Laut dringt durch die schalldichten Betonmauern des Townhouses. Die Schreie gehen ins Nichts. Nur die drei Kinder, eine Treppe höher, hören, wenn die Streitigkeiten zwischen Vater und Mutter eskalieren. Ein Bericht aus den eigenen vier Wänden.
Es war ein Tag, der kam und ging wie alle anderen. Der Mann spät aus dem Büro. Die Kinder in ihren Betten. Alles hatte seine Ordnung. Nur ich war in Unordnung geraten. Weil mir seine Ordnung nicht passte. Weil ich zu viele Fragen hatte. Weil ich zu provozieren liebte. Weil mich eine Aura der Renitenz umgab wie ein leuchtender Lidschatten. Weil ich allein blieb mit meinen Gedanken. Mit meinen Zweifeln. Weil mich das Reden über Geschäfte, den männlichen Alltag, unendlich langweilte. Weil das Leben wie ein schwerer Zug vorbeiratterte.
„Du“, ein erster Tritt mit einem Fuß, seinem Fuß, in einem schweren Stiefel, „Du siehst …“, er keucht, weitere Tritte; nach der Wucht der Ohrfeige, die mich in die Gestelle der Geschirrspülmaschine stieß. Ich krieche zur Haustür, will auf die Straße, um Hilfe schreien. Ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht raus. Wimmern. Versuche, mit den Armen den Kopf zu schützen, „Du, du siehst die Kinder nicht wieder!“
Zittern durchtobt den Körper, ein Angstschwall kocht über in die Kälte der Nacht, ich laufe, laufe, laufe davon. Der Frühling kommt, die Nachbarn vergessen ihre Schiebegardinen zuzuziehen. Kühlschränke mit Post-Its übersät, mit Kinderzeichnungen, Erinnerungen an Arzttermine, bunte Illusionen eines Familienlebens, zerschliert im Tränenfluss.
Der Schock im Spiegel
Die BIG Hotline, eine von 8 bis 23 Uhr telefonisch besetzte Beratungsstelle für von Gewalt betroffene Frauen, rät mir, die Verletzungen ärztlich dokumentieren zu lassen. Hausärzte bieten freie Termine in fünf Wochen; ich wende mich an den Kinderarzt meiner Jungs. Ich wusste nicht von der Gewaltschutzambulanz der Charité Berlin. Hier können die Verletzungen durch häusliche Gewalt rechtskräftig dokumentiert werden, kostenfrei, auch ohne polizeiliche Anzeige. Der Kinderarzt notiert ein großflächiges Hämatom im Gesicht, eine starke Schwellung über dem Jochbein und an den Armen, eine Prellung am Oberschenkel. Eigentlich müssten Fotos gemacht und ein Maßstab angelegt werden. Das schwärzliche Blau zieht sich vom Auge über die linke Gesichtshälfte bis zum Hals hinunter. So will ich mich niemandem zeigen, niemanden um Rat fragen. Ich bin doch die Starke, die Strahlende, die in der Öffentlichkeit steht mit ihren Büchern über widerspenstige Frauen.
Verzweifelt gehe ich zur Polizeidienststelle, Berlin-Friedrichstraße. Die schwere Holztür ist kaum zu öffnen, dahinter ein dunkel-muffiger Treppenaufgang. Ein jovialer Polizeibeamter, der das Ende seiner Laufbahn in erreichbarer Nähe weiß, platziert mich und schließt hinter sich die Tür. Man will sich beraten. Soso, Anzeige wollen Sie erstatten. Ich halte eine Broschüre der Opferberatung „Weißer Ring“ in der Hand, sehe Buchstaben aneinandergereiht, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Nach einer langen Weile, in der man vielleicht hoffte, dass sich der Fall von selbst erledigt, heißt es: „Wat wollnse, junge Frau, erstens, wir haben hier schon mal keene Beamtin. Und wollense wirklich Strafanzeige, gegen Ihren Mann? Das kommt denn bei Ihnen zu Hause in die Post. Vielleicht wird alles nur noch schlimmer? Überlejense noch mal.“ Ich verzichte, bleibe allein mit der Angst und der Ohnmacht. Für den Täter gilt die Unschuldsvermutung. Keine Anzeige heißt in Konsequenz: kein Gewaltschutz, keine Wegweisung aus der Wohnung. Und es bleibt beim gemeinsamen Sorgerecht. Ich spule den Alltag ab, halte zwei Tage später eine Lesung, mit einem stark deckenden Make-up, obwohl ich mich sonst kaum schminke.
Aufstehen und gehen?
„Zieh endlich aus!“, brüllt der Vater meiner Kinder, er will sich ein Au-pair „anschaffen“. Warum gehe ich nicht? Weil ich die Brüder, sieben und fünf Jahre alt, und den elfjährigen Halbbruder nicht mitnehmen darf. Denn das ist rechtlich ohne die Zustimmung des Vaters nicht möglich. Weil ich Angst um die Kinder habe. Weil ich nicht weiß, wohin. Weil mich sein geweintes Ich-liebe-dich, seine Nie-wieder-Schwüre rühren. Weil ich verdrängen will, dass in dem Liebsten ein Schläger steckt. Weil der Alarmzustand zwischen Beschimpfungen, Herabsetzungen, Schlägen und Tritten, zwischen Goldkettchen von Saskia Diez und gebundenen Blumensträußen mich fesselt. Weil Sorge und Scham mich die Familie zusammenhalten lassen und mein Selbstwertgefühl nach jahrelangem Bashing irgendwo im Keller hängt.
Kein Blaulicht, nichts
Die Gewalt muss ein Ende haben. Den Ernst der Lage hat er begriffen: Er ist ein Straftäter, der nicht angezeigt wurde. Kein Blaulicht in der Nacht, keine sensationslüsternen Nachbar:innen, nichts. Er hat eine Straftat begangen, an der „eigenen“ Frau. Zuhause. Er weiß, er darf nicht mehr schlagen. Kein massives Glas nach mir werfen, das haarscharf an meiner Schläfe vorbeizischt, keine Ohrfeigen mehr, die mich durchs Wohnzimmer schleudern. Ja nicht ihn reizen, nicht sagen, was ich denke. Zuhause ist ein gefährlicher Ort.
Zuhause ist keine Zuflucht mehr. Meine Kinder sollen nicht in Gewalt und Streit aufwachsen.
Elena Sager
Raus aus der Schockstarre: Hilfen und Adressen
Häusliche Gewalt ist körperlich und seelisch besonders belastend, weil sie zu Hause stattfindet – einem Ort, der eigentlich für Schutz und Geborgenheit steht. Und sie geht von einem vertrauten Menschen aus. Bei akuter Gefahrenlage: 110. Die Polizei kann eine Wegweisung des Täters aus der Wohnung und ein Kontaktverbot für zwei Wochen aussprechen. Mann und Frau werden getrennt befragt, es wird geschaut, ob Kinder vor Ort sind, gegebenenfalls wird der Kindernotdienst hinzugezogen. Betroffene sollten sich zeitnah an das Familiengericht wenden. Frauenhäuser bieten Anonymität und Schutz. Doch in Berlin sind sie überfüllt.
Unter Tel. 116 016 ist das Hilfetelefon erreichbar: 24 Stunden, sieben Tage die Woche, an Wochenenden und Feiertagen. Auch ohne Guthaben auf dem Mobiltelefon kann die Beratung genutzt werden: Kostenlos, anonym, mit 100 professionell ausgebildeten, nicht-männlichen Fachkräften in 18 Sprachen, in leichter Sprache, in Gebärdensprache. Von 12 bis 20 Uhr ist der Sofort-Chat besetzt, Beratungen sind auch per E-Mail möglich:
beratung@frauenraum.de
Beraten wird zu ersten Schritten aus der Gewaltsituation, zu gesetzlichen Grundlagen, zu finanzieller Gewalt und zu weiterführenden Angeboten. Auch Unterstützer:innen finden hilfreichen Rat.
www.hilfetelefon.de/gewalt-gegen-frauen/haeusliche-gewalt.html
Im Frauenraum, Tel. 030 448 45 28, Torstraße 112, 10119 Berlin-Mitte, direkt am Rosenthaler Platz, an der U-Bahnlinie U8, helfen erfahrene Beraterinnen im persönlichen Gespräch, am Telefon oder direkt im Frauenraum. Zudem kann eine psychologische Beratung nach Absprache stattfinden.
Beratungszeiten: Dienstag 12 bis 18 Uhr, Donnerstag 9 bis 15 Uhr, Freitag 11 bis 14 Uhr.
Eine Rechtsberatung findet jeden Dienstag von 15.30 bis 18.30 Uhr nach Terminabsprache statt.
Für eine Kinderbetreuung ist während der Beratung gesorgt.
Die Angebote sind kostenlos und anonym sowie nach Absprache mit einer Dolmetscherin möglich.
Häusliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, interpersonelle Gewalt und Kindesmisshandlung werden von der Gewaltschutzambulanz der Charité als weit verbreitete Probleme mit schweren, meist sehr langwierigen gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen gesehen. Gerichtsfeste Dokumentation der Straftaten, mit einer rechtsmedizinischen Begutachtung – die Verletzungen werden vermessen, fotografiert und als erste Beweisaufnahme festgehalten. Auch ohne eine polizeiliche Anzeige kann man das Angebot kostenfrei in Anspruch nehmen. Termin telefonisch vereinbaren.
Telefonische Sprechzeiten: montags bis freitags von 8:30 Uhr bis 15 Uhr unter:
Tel. 030 450 570 270 und Tel. 030 450 7 570 270
Untersuchungszeiten: montags bis freitags von 8 Uhr bis 16 Uhr,
Besucheranschrift: Birkenstraße 62, Haus N, 10559 Berlin,
Postanschrift: Gewaltschutzambulanz, Turmstraße 21, Haus N, 10559 Berlin
gewaltschutzambulanz.charite.de
Die telefonische Beratung der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen e.V. (BIG) ist täglich von 8 bis 23 Uhr unter Tel. 030 611 03 00 erreichbar, auch an Wochenenden und Feiertagen.
BIG unterstützt alle Frauen und deren Kinder, die in ihrer Beziehung Gewalt erleben, nach Trennung von ihrem Ex-Partner bedroht und belästigt werden oder Übergriffen ausgesetzt sind. Die Beratung ist auf Wunsch anonym, eine Übersetzung ist möglich.
Persönliche Beratungsgespräche sind an einem mit der Betroffenen vereinbarten sicheren Ort in Berlin möglich. Zudem gibt es folgende Hilfestellungen: die Vorbereitung von Gewaltschutzanträgen, die Begleitung zu polizeilicher Vernehmung, Gerichtsterminen oder zum Frauenhaus, die Unterstützung bei Gesprächen mit Dritten (zum Beispiel Kita, Jugendamt, Jobcenter).
Die Frauenhauskoordinierung setzt sich in Projekten, Initiativen und Kampagnen aktiv für einen besseren Schutz von gewaltbetroffenen Frauen ein. Das Angebot: Hilfetelefon, Beratungen, deutschlandweite Suche nach einem freien Platz in einer Schutzeinrichtung. Mit der FHK-Frauenhaus-Statistik erstellt der Verein jährlich die einzige bundesweite Bestandsaufnahme über die Frauenhausarbeit und die Frauenhausbewohner*innen.
Tucholskystr. 11, 10117 Berlin, Tel. 030 338 43 42 0, Fax: 030 338 43 42 19
E-Mail: info@frauenhauskoordinierung.de
www.frauenhauskoordinierung.de/hilfe-bei-gewalt/frauenhaus-und-fachberatungsstellensuche/
15.12.2023