Berlin – genauer gesagt West-Berlin – ist seit Jahrzehnten eine Hochburg der queeren Szene und ein Zufluchtsort für nicht-heterosexuelle Menschen aus aller Welt. Ob aus der deutschen Provinz, aus Syrien oder Russland – hier können sie relativ frei und offen leben. Es überrascht daher nicht, dass sich die Stadt zunehmend auch zum Vorreiter für queere Wohnprojekte entwickelt, zumal diejenigen alt geworden sind, die in den wilden 1980ern für ihre Rechte auf die Straße gingen. Aber Wohnhäuser nur für Lesben, Schwule oder andere queere Menschen? Das klingt zunächst befremdlich. Warum diese Abschottung nur aufgrund der sexuellen Identität? Wer von den Anfeindungen und Beleidigungen erfährt, mit denen diese Menschen konfrontiert sind – auch im vermeintlich toleranten Berlin – begreift, dass es auch heute noch alles andere als selbstverständlich ist, als Frau mit einer Frau zusammenzuleben oder als Mann sich zu kleiden wie eine Frau.
Schätzungen zufolge leben in Berlin 200.000 bis 300.000 Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche Menschen, kurz LSBTI* (das Sternchen ist ein Platzhalter für verschiedene Geschlechtsidentitäten). Was viele nicht wissen: Der bekannte Regenbogenkiez rund um den Nollendorfplatz in Schöneberg hat eine lange, bewegte Geschichte. Schon in den Goldenen 20ern war hier, neben der Gegend um die Friedrichstraße, das Zentrum queeren Lebens in Deutschland – auch wenn es den Begriff queer damals noch nicht gab. Bis zur Machtergreifung durch die Nazis blühte hier das Nachtleben mit zahlreichen Bars, Clubs und Tanzlokalen für Lesben und Schwule.
Der politische Aufbruch begann in den 1970er Jahren. Im Zuge der Studentenbewegung formierte sich eine zunehmend selbstbewusster auftretende Schwulen- und Lesbenbewegung, zum Teil eher bürgerlich geprägt, zum Teil aber auch im linksalternativen Spektrum angesiedelt wie die 1971 gegründete „Homosexuelle Aktion Westberlin“. Sie wollte gemeinsam mit der Arbeiterklasse den Kapitalismus überwinden und die Schwulen befreien.
Schwule Gründerjahre
Einige zogen in Kommunen, wo man gemeinsam wohnte und gegen Berufsverbote und für die Abschaffung des Paragraphen 175 auf die Straße ging, der damals homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. In den 1980ern schließlich wurden zahlreiche Institutionen der Community gegründet, die bis heute existieren, etwa das Schwule Museum, der Musikclub „SchwuZ“ oder das Stadtmagazin „Siegessäule“. Auch die Schwulenberatung Berlin hat ihre Anfänge in dieser Zeit. 1981 als Beratungs- und Begegnungszentrum gegründet, kamen im Laufe der Zeit zahlreiche weitere Unterstützungsangebote hinzu. So spielten mit dem Auftreten des AIDS-Virus, das Berlin traf wie keine andere deutsche Stadt, gesundheitliche Themen eine immer größere Rolle. Auch die Frage des Älterwerdens rückte in den Fokus. 1998 eröffnete die Schwulenberatung Berlin die bundesweit erste therapeutische Wohngemeinschaft für homosexuelle Männer mit psychischen Beeinträchtigungen. Auf die Frage, warum die Schwulenberatung Berlin nun auch noch unter die Bauherren geht, hat deren Geschäftsführer Marcel de Groot eine einfache Antwort: „Weil es das Land Berlin nicht macht.“
Ihr erstes gemeinschaftliches und generationsübergreifendes Wohnprojekt, der „Lebensort Vielfalt“ mit 24 Wohnungen wurde 2012 in der Niebuhrstraße 59/60 in Charlottenburg eröffnet. Auch eine Pflege-WG gibt es dort – damals europaweit die erste betreute Wohngemeinschaft für schwule Männer mit Pflegebedarf und Demenz. Der 1930er Jahre-Bau war vorher eine bezirkliche Einrichtung und wurde komplett umgebaut. Heute wohnen hier nicht nur schwule Männer (60 Prozent sind über 55), sondern auch Frauen (20 Prozent). Auf diese Mischung wird streng geachtet.
Die Warteliste ist lang
2020 folgte LOVO (Lebensort Vielfalt am Ostkreuz), ein Neubau für 30 Menschen mit Betreuungsbedarf, zum Teil queere Geflüchtete. Der im Sommer 2023 fertiggestellte Neubau „Lebensort Vielfalt am Südkreuz“ in der Gotenstraße 50/51 ist noch eine Nummer größer: 69 Wohnungen, eine Pflege-Wohngemeinschaft mit acht Zimmern, zwei therapeutische WGs und eine Kita. Derzeit wird im Garten der Niebuhrstraße 59/60 ein weiteres Haus für Menschen aus der LSBTI*-Community gebaut.
„Bei uns stehen insgesamt 1000 Leute auf der Warteliste für eine Wohnung“, erklärt Marcel de Groot. Die Wohnprojekte seien Orte für Menschen, die besonderen Schutz brauchen und die ohne Angst vor Ausgrenzung leben möchten. „Bei vielen ist ein Kontakt zur Familie nicht vorhanden oder nicht gewünscht – wir fangen das ein Stück weit auf“, sagt der Geschäftsführer. In herkömmlichen Senioreneinrichtungen hätten queere Biografien oft keinen Platz, zudem tut sich die ältere Generation teilweise schwer damit, offen mit ihrer Homosexualität umzugehen. „Wir wollen eine Art Dorfgemeinschaft aufbauen, in der sich die Menschen gegenseitig helfen können“, ergänzt Pascal Ferro, der nicht nur für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, sondern sich in der Gotenstraße auch um all die großen und kleinen Probleme der Mieter:innen kümmert. Manche, so erzählt er, seien mit praktischen Dingen wie Strom oder Kabelanschluss anmelden überfordert. In einigen Fällen wollte auch das Amt den Umzug nicht genehmigen: „Da können wir Unterstützung leisten.“ Viele, die hierher gezogen sind, haben Wohnungen mit alten Mietverträgen und entsprechend günstigen Mieten aufgegeben, in einem Fall sogar eine Eigentumswohnung.
Als „Sechser im Lotto“ bezeichnet Manfred seine Wohnung. Der Rentner stand jahrelang für die Niebuhrstraße auf der Warteliste, über das Nachrückverfahren fiel ihm dann eine Wohnung mit Wohnberechtigungsschein (WBS) in der Gotenstraße zu. Sie ist für seine Bedürfnisse optimal: „Balkon, dreifach verglaste Fenster, super Verkehrsanbindung – besser geht’s nicht.“ 515 Euro warm zahlt er für 47 Quadratmeter. „Das reicht, auch wenn ich vorher eine sehr schöne Zweizimmerwohnung in Wilmersdorf hatte.“ Doch er wollte nicht mehr alleine wohnen. Zudem musste er ständig damit rechnen, dass sein privater Vermieter ihm wegen Eingenbedarf kündigt. Was er sonst noch schätzt: dass der Gemeinschaftssinn gefördert wird und er jederzeit etwas mit den anderen im Haus unternehmen kann. Neben der Dachterrasse für alle gibt es einen großen Gemeinschaftsraum, wo Spieleabende stattfinden oder auch mal, wie kürzlich, ein 80. Geburtstag gefeiert wird. Das Frauenpaar, 80 und 75 Jahre alt, habe in seinem Leben viel Ablehnung erfahren, erzählt Annet, eine andere Bewohner:in. Um so mehr genießen sie hier ihren Lebensabend in einem Umfeld, wo Lesbisch- oder Schwulsein selbstverständlich ist. Auch Annet ist sehr zufrieden mit ihrer Wohnung. Dass sie sehr minimalistisch geschnitten ist, stört sie nicht. Ein Zimmer mit Kochecke, Balkon, Bad – das ist nun ihr Zuhause. „Mir reicht das, ich brauch’ nicht viel“, sagt die Aktivist:in und Marathonläufer:in. Viel wichtiger ist ihr der tolle Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung im Haus. „Und dass ich mich hier nicht erklären muss.“ Annet gehört zu denjenigen, die auch mal für andere Einkäufe erledigen. Umgekehrt war sie sehr dankbar für die Unterstützung durch Pascal, als das Amt Schwierigkeiten wegen des Umzugs machte. Sie fühlt sich hier sicher, das Umfeld sei sehr queerfreundlich. Manchmal winken ihr Leute aus den angrenzenden Häusern zu, wenn sie auf dem Balkon sitzt und an der Regenbogenfahne für die nächste Demo malt.
Rundherum, auf der sogenannten Schöneberger Linse, hat auch eine Genossenschaft, eine Baugruppe und eine städtische Wohnungsbaugesellschaft gebaut. Als die „Junge Alternative AFD“ im Herbst 2022 gegen die queere Kita im Haus demonstrierte, wurden in der Nachbarschaft als Zeichen der Solidarität Regenbogenfahnen aus den Fenstern gehängt.
In Mona Lisa von Allensteins Wohnung hängt ein Bild, das ihr die Kitakinder gemalt haben, als sie ins Krankenhaus musste: „Da sind mir fast die Tränen gekommen.“ Als „Märchentante“ geht sie einmal in der Woche in die Kita und liest den Kindern Geschichten vor. Der ehemalige katholische Priester – damals noch als Mann – wohnt in einer der drei rollstuhlgerechten Wohnungen im Haus. Alles ist barrierefrei: das Bad mit den breiten Türen und die Spüle, unter die man mit dem Rollstuhl fahren kann. Die Wohnungstür kann Mona Lisa mit einem Sensor öffnen, der ihr um den Hals hängt. Das Zusammenleben habe hier eine ganz andere Qualität. „Lebend geh ich hier nicht mehr raus“, betont Mona Lisa. Vorher, als sie noch in Spandau gewohnt hat, wurde Besuch im Treppenhaus schon mal von den Nachbar:innen drauf angesprochen, ob ihnen klar sei, dass sie zu einer „Schwuchtel“ gehen.
Ortswechsel. In der Niebuhrstraße 59/60 sind gerade die großen Holzstreben für den Neubau geliefert worden. Im Herbst 2025 sollen die ersten einziehen. Architekt Christoph Wagner berichtet, dass die bisherigen Bewohner:innen im Vorderhaus alles andere als begeistert waren über die Baustelle im Hinterhof. Der Neubau nimmt ihnen den Großteil des Gartens weg. Wagner ist optimistisch, dass sie am Ende den Mehrwert erkennen: „Das ganze Haus soll zusammenwachsen und eine Einheit werden“, betont er (hierzu unser Interview auf Seite 16). Mit seiner Mischung aus Clusterwohnen, zwei Studierenden-WGs und einer betreuten WG für Jugendliche sei das Haus weltweit einzigartig, erklärt der Architekt. Beim Cluster-Wohnen sind mehrere private Räume um die Gemeinschaftsräume gruppiert. Anders als in der Gotenstraße, wo 32 der 69 Wohnungen WBS-gebunden und somit preisgünstig sind, hat die Schwulenberatung im Neubau Niebuhrstraße auf öffentliche Fördermittel verzichtet. Kalkuliert wird mit Preisen zwischen 14 und 18 Euro nettokalt pro Quadratmeter.
Die Frage, ob sich Queere heutzutage sicherer fühlen können, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Auf der einen Seite sind ein schwuler Bürgermeister oder eine lesbische Schauspielerin mittlerweile selbstverständlich, auf der anderen Seite belegen die Zahlen eine Zunahme der homophoben Angriffe im öffentlichen Raum (siehe Infobox auf Seite 19). Zur Zielscheibe werden vor allem Menschen, die „anders“ aussehen und in keine Geschlechterschublade passen.
Weiterhin Ressentiments und Angriffe
Das hat auch Folgen für ihre Wohnsituation, wie Altheas Geschichte zeigt. Als Transfrau ist sie immer wieder mit Hass und Aggressionen konfrontiert. Als sie vor einem Jahr nach Berlin zog, fand sie zunächst nur ein überteuertes Zimmer in einer WG in Neukölln. Doch dort wurde sie immer wieder vor dem Haus von einer Männergruppe bedrängt und verspottet. Das ging so weit, dass sie ihre Mitbewohner:innen um Begleitschutz bitten musste, wenn sie nachts von der Schichtarbeit nach Hause kam: „Ich konnte ja nicht einschätzen, ob es bei Beleidigungen bleibt oder sie zuschlagen.“ Schließlich musste sie Hals über Kopf ausziehen und kam erst einmal bei Bekannten in einem Kämmerchen unter. „Die Schwulenberatung hat mich dann sehr unterstützt bei der Wohnungssuche und auch mit mir den WBS ausgefüllt“, erzählt Althea. Doch die erste Wohnung, die ihr dank dieser Vermittlung vorgeschlagen wurde, musste sie ablehnen: Oberschöneweide – Hochburg der Rechten und jede Menge homophobe Graffiti – definitiv kein sicherer Ort für eine Transfrau. Kürzlich konnte sie den Mietvertrag für eine Wohnung in Westend unterschreiben.
Mehrere Kilometer weiter östlich von Haus Vielfalt in der Gotenstraße, direkt neben dem Rathaus Mitte, steht Jutta und blickt mit einer Mischung aus Freude und Stolz auf die Baustelle von Europas erstem Lesbenwohnhaus. Es ist ein Traum, für den Jutta Brambach und die anderen Frauen von RuT (Rad und Tat – Offene Initiative Lesbischer Frauen) viele Jahre lang gekämpft haben.
72 bezahlbare, überwiegend barrierearme Wohnungen entstehen hier, davon die Hälfte WBS-gebunden. Ein paar Regenbogenfamilien, das heißt Frauenpaare mit Kindern, sowie eine Pflege-WG gehören auch zur Mischung. Anders als bei den Wohnprojekten der Schwulenberatung werden in der Berolinastraße ausschließlich Frauen wohnen. Es soll ganz bewusst ein Schutzraum für Frauen sein. Im Erdgeschoss ist neben einem öffentliche Kiezcafé ein queeres, inklusives Soziokulturelles Zentrum geplant, das offen ist für die ganze Nachbarschaft.
Die 1989 gegründete Initiative ist hervorgegangen aus einer Selbsthilfegruppe lesbischer und feministischer Aktivistinnen, die zum großen Teil der Frauen- und Lesbenbewegung der 1970er und 80er Jahre sowie der sich selbst so bezeichnenden „Krüppel-Lesben“-Bewegung angehörten. Von Anfang an standen die Belange von Lesben mit Behinderungen und älteren Lesben im Vordergrund.
Zwei queere Träger in Konkurrenz
Doch in den Stolz über „ihr“ Haus mischt sich auch ein Stück Enttäuschung. Eigentlich wollte RuT Eigentümerin des Hauses werden, auch um ein Stück weit unabhängig von öffentlicher Förderung zu werden. Mit einer Immobilie als Sicherheit hätten weitere Wohnprojekte realisiert werden können. Beim Konzeptverfahren um die landeseigenen Grundstücke auf der Schöneberger Linse hatte sich RuT beworben und zunächst den Zuschlag erhalten. Doch die Schwulenberatung Berlin hatte Verfahrensfehler entdeckt und legte Einspruch ein. Für das Gerichtsverfahren haben die Frauen von RuT kein Geld gehabt. Am Ende bekam die Schwulenberatung den Zuschlag. Die Konkurrenz zwischen zwei queeren sozialen Trägern zeigt, wie umkämpft solche Grundstücke sind. Am Ende gingen die Frauen von RuT eine Kooperation mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft WBM ein. Die baut das Lesbenwohnhaus nun in ihrem Block als Nachverdichtung. RuT hat ein Vorschlagsrecht bei der Belegung. Wie das dann konkret läuft, müsse man abwarten. Die Kooperation, so formuliert es Jutta Brambach diplomatisch, sei für beide Seiten eine Herausforderung. Für sie zeigt der Vorgang, dass die Strukturen eben sind, wie sie sind: „Frauen haben weniger Geld und besitzen seltener Wohneigentum, warum sollen diese Machtstrukturen in der queeren Community anders sein?“
Wurzeln in der Zeit der Hausbesetzungen
Berlins ältestes Wohnprojekt, das Tuntenhaus in der Kastanienallee 86, haben sich die Bewohner:innen selbst erkämpft. Es ist nicht das erste Tuntenhaus. Die Tuntenbewegung, die sich bereits in den 1970er Jahren formierte und die sich auch gegen Diskriminierungen innerhalb der queeren Szene wehren musste, war eng verknüpft mit der Hausbesetzerbewegung. 1981 wurde in der Bülowstraße 55 das erste Tuntenhaus besetzt. 1990 folgte der „Forellenhof“ in der Mainzer Straße 4 in Friedrichshain, eines der ersten besetzen Häuser in der Straße. Rund 35 schwule Männer lebten hier, stets bedroht durch rechte Angriffe. In der Ausstellung „Tuntenhaus Forellenhof 1990 – der kurze Sommer des schwulen Kommunismus“ erinnerte das Schwule Museum 2022 an diese Zeit. Nach der brachialen Räumung im November 1990 besetzte ein Teil der Gruppe dann das leerstehende Hinterhaus in der Kastanienallee. Recht schnell erhielten sie Mietverträge von der Kommunalen Wohnraumverwaltung.
34 Jahre später wohnen hier rund 30 Menschen. Sie sind zwischen 20 und 66 Jahre alt, studieren, arbeiten in der Pflege oder in der Sozialarbeit und haben eine Gemeinsamkeit: Sie betonen ihre feminine Seite und tragen gelegentlich Frauenkleidung. Doch während sich Schminken und „Fummel“ tragen im Haus eine Selbstverständlichkeit ist, werden sie außerhalb angespuckt oder mit Bananenschalen beworfen. Für Jil Brest und Plutonia Plüschowa ist das Tuntenhaus ein Safer Space, ein Ort, wo sie so sein können, wie sie sind. Für Plutonia, die 1997 aus der Provinz hierhergezogen ist, war es schlicht eine Befreiung. „Warum wir im Fummel herumlaufen, muss man hier niemandem erklären“, meint Jil, die seit 13 Jahren im Haus wohnt und die vorher in gemischten WGs gewohnt hat. Das Besondere am Hausprojekt ist für sie das ausgeprägte politische Interesse. „Ich finde es gut, mit meinen Mitbewohner:innen auf Demos zu gehen“, erklärt Jil. Gerade jetzt in einer Zeit des politischen Rechtsrucks fahren sie zu CSDs in die Provinz. Für ihre ansonsten durchgentrifizierte Nachbarschaft in Berlin organisieren sie regelmäßig Flohmärkte, Hoffeste und einer Küche für alle, hier „Katerfrühstück“ genannt. Kürzlich haben die Bewohner in einem fulminanten Kampf erreicht, dass ihr Haus nicht an einen renditeorientierten Käufer ging, sondern im Rahmen des bezirklichen Vorkaufsrecht in gemeinnützige Hände gelangte. Acht Monate Kampf liegen nun hinter ihnen, mit Kamerateams in der Wohnküche, Demos vor dem Abgeordnetenhaus und kreativen Aktionen wie etwa einer Tuntenparade durchs bayerische Wörth, dem Wohnort des Möchtegern-Erwerbers. „Wir hatten unglaublich viel Unterstützung, auf allen Ebenen“, betont Plutonia. Das Tuntenhaus als Ort der queeren Vielfalt, die seit mehr als 100 Jahren zu Berlin gehört, konnte gerettet werden.
Birgit Leiß
„Es müssen mehr gemeinnützige Träger bauen“
MieterMagazin: Wie gehen Sie an ein Bauvorhaben für die queere Community heran? Was sind die Besonderheiten im Vergleich zu anderen gemeinschaftlichen Wohnformen?
Wenke Schladitz: A und O ist der relativ sichere Stadtteil. Grundstücke außerhalb des S-Bahn-Rings kommen nicht in Frage. Queere Menschen, die äußerlich sichtbare Merkmale, zum Beispiel von Transsexualität aufweisen, werden im öffentlichen Raum permanent angefeindet. Es ist eine marginalisierte Gruppe, die einen Safer Space braucht.
Christoph Wagner: Neben dem Sicherheitsempfinden ist das Thema Vereinsamung – gerade auch in der queeren Community – ein Aspekt, für den wir passende architektonische Antworten gesucht haben. Dieses Haus ist ein Experiment. Wir wollen Privatheit und gleichzeitig Gemeinschaftsflächen bieten. Neben Kleinwohnungen wird es daher Wohngemeinschaften, darunter eine betreute WG für Jugendliche, und zwei Cluster-Etagen geben. Hier hat jeder sein eigenes Zimmer mit Mini-Bad und Balkon, dazu gibt es eine große Gemeinschaftsküche sowie Ess- und Wohnbereiche, außerdem zwei Dachterrassen für alle Bewohner:innen. Die abgeschottete Lage im Hinterhof, mit dem Büro der Schwulenberatung im Vorderhaus, bietet zudem ausreichend Schutz.
Wenke Schladitz: Es ist eine Gratwanderung, denn auf der einen Seite sollen sich diese Wohnorte nicht verstecken, im Gegenteil. Wir wollen keine Mauern oder Zäune. Auf der anderen Seite müssen wir dem Bedürfnis nach Sicherheit Rechnung tragen, auch wenn das unter den Bewohner:innen ganz unterschiedlich ausgeprägt ist. Einige hängen stolz die Regenbogenfahne raus, andere haben so schlimme Erfahrungen gemacht, dass sie sich nur noch zurückziehen und ihre Ruhe haben wollen. Das LOVO am Ostkreuz öffnet sich durch großzügige Fenster, umlaufende Balkone und ein offenes Treppenhaus zur Nachbarschaft hin.
MieterMagazin: Warum werden so wenige Angebote für diese Gruppe geschaffen? Der Bedarf ist doch da.
Christoph Wagner: Ich möchte den sozialen Trägern sagen: Traut euch! Dieses Haus war ein Kraftakt für die Schwulenberatung, aber es hat sich gelohnt. Es müssten viel mehr gemeinnützige Träger zum Zuge kommen, die nicht nur für die klassischen Familienstrukturen – 3 Zimmer, Küche, Bad – bauen. Aber stattdessen wird auf große Player gesetzt, die 30 Prozent Rendite erwirtschaften müssen.
Das Interview führte Birgit Leiß
Beleidigungen, Bedrohungen, Gewalt und Diskriminierung:
Das Ausmaß ist erschreckend
Homophobe Angriffe haben inzwischen ein erschreckendes Ausmaß erreicht. 978 neue Fälle hat das schwule Berliner Anti-Gewalt-Projekt Maneo 2023 registriert, von Beleidigungen und Bedrohungen bis hin zur Körperverletzung. 2022 waren es noch 788 Attacken gewesen. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Die am meisten betroffenen Stadtteile sind Kreuzberg, Neukölln und Schöneberg – was natürlich auch daran liegt, dass hier besonders viele Menschen aus der queeren Szene unterwegs sind, wie Maneo-Leiter Bastian Finke erklärt. Er spricht von einer „toxischen Männlichkeit auf den Straßen“. Die hohen Meldezahlen seien aber auch ein Indiz dafür, dass die Betroffenen sich nicht mehr scheuen, solche Vorfälle publik zu machen.
Die Berliner Fachstelle für Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt „fair mieten – fair wohnen“ verzeichnete 2023 insgesamt 149 Beratungsanfragen, bei 20 (14 Prozent) ging es um die sexuelle Orientierung. Bei der Antidiskriminierungsstelle StandUp der Schwulenberatung Berlin wurden 2023 und in den ersten neun Monaten von 2024 insgesamt 56 Fälle von mutmaßlicher Diskriminierung im Wohnbereich oder am Wohnungsmarkt aufgrund der geschlechtlichen Identität erfasst. Darunter waren 23 Fälle in Geflüchtetenunterkünften, 33 Vorfälle betrafen andere Wohnumfelder wie Nachbar:innen oder Mitbewohner:innen, drei Fälle betrafen Menschen auf der Wohnungssuche. Die Diskriminierungen, die von der Fachstelle erfasst wurden, äußern sich vor allem in Form von Beleidigungen im Rahmen von Nachbarschaftsstreitigkeiten, so eine Sprecherin der zuständigen Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung. Oft gehe es bei diesen Konflikten eigentlich um laute Musik oder ähnliches, doch das vermeintliche Fehlverhalten werde auf die sexuelle Orientierung der betreffenden Person zurückgeführt. Dabei fallen dann auch Beschimpfungen wie „Schwuchtel“ oder „dreckige Lesbe“, schlimmstenfalls kommt es zu Gewaltandrohungen (verbal oder schriftlich, zum Beispiel an der Hauswand) oder sogar ausgeübter Gewalt.
Die Diskriminierungen in den Unterkünften für Geflüchtete geschehen als trans- und homofeindliche Beleidigungen, erzwungene Outings bis hin zu sexualisierter Gewalt oder deren Androhung. In einigen Fällen wurde die Nutzung von Gemeinschaftsräumen verwehrt.
bl
25.10.2024