Einen Kilometer persönlicher Erinnerung umfasst die Ollenhauerstraße auf der Strecke zwischen Kurt-Schumacher-Platz und der ersten S-Bahnbrücke, über die heute die S25 in Richtung Hennigsdorf verkehrt, unweit der im Volksmund „Bonnies Ranch“ genannten Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Dieser Kilometer Erinnerung beschrieb in den 30er Jahren ein ganzes kindliches Universum – nämlich das von Rainer Lachmann, der im damaligen Stadtteil Reinickendorf-West aufgewachsen ist.
Auffallend uncharmant gebärdet sich heute die Ollenhauerstraße als stark befahrene Ausfallstraße Richtung Norden. Nach einem schwungvollen Entree am Kurt-Schumacher-Platz, dem von Geschäften gesäumten Verkehrsknotenpunkt auf dem Weg zum Flughafen Tegel, verliert sich der großstädtische Charme schnell zwischen Autowerkstätten und Lagerhäusern in Flachdachoptik, die sich mit Freiflächen und vereinzelt eingestreuten Altbauten aus abenteuerlich vermischten Bauepochen abwechseln. Vom Krieg verschont blieb unter anderem ein frei stehender gelber Klinkerbau aus dem 19. Jahrhundert, in dem sich im Dritten Reich das „Haus der Arbeitsfront“ befand. Hier konnte man bereits im Jahr 1936 zum ersten Mal fernsehen – anlässlich der Olympiade liefen Direktübertragungen aus dem Stadion, die in solchen Versuchsstuben verfolgt werden konnten. „Es war überwältigend“, erinnert sich Rainer Lachmann, „ein riesiger schwarzer Kasten, das Bild nicht größer als einen Meter in der Breite und 40 Zentimeter hoch. Gerade wurde ein berühmter Langstreckenläufer gefeiert, Rudolf Harbig, dann wurde das Bild urplötzlich schwarz und alle sagten ‚Oooooh, wieder Regen …‘.“
Folgt man weiter der Ollenhauerstraße und lässt den Domfriedhof Sankt Hedwig und den modernen Glasbau der Berliner Münze hinter sich, gelangt man rechterhand zwischen der Humboldtstraße und der Lindauer Allee an eine Wohnblockbebauung, die heute unter Denkmalschutz steht. An den „Pfahlerblock“, 1929 durch den Architekten Erwin Gutkind im Bauhaus-Stil erbaut, schließen sich die um das Jahr 1927 fertig gestellten Wohnblöcke 52-55 des Erbbauvereins Moabit und 56-60 der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Steglitz an.
Ein Schmied an der Ecke
Ein steinerner Ritter bewacht die Eingänge Nr. 56 und 60 zur ehemaligen Berliner Straße hin, die erst seit 1964 Ollenhauerstraße heißt. „Die beiden Ritter waren für uns Kinder Erkennungszeichen“, erinnert sich Rainer Lachmann. Regelrechte Straßenschlachten à la „Krieg der Knöpfe“ habe man sich hier mit den Jungs aus den anderen Blöcken geliefert. „Meine Jugend spielte sich hier in dem Innenhof ab. Man schloss sich einer Clique an und die Älteren bestimmten dann ,Mit den anderen spielst du nicht‘.“ Auch heute noch wird das Karree zwischen der ehemaligen Kuhnstraße (heute Lindauer Allee), in der Rainer Lachmann die ersten Jahre seines Lebens verbrachte, und der Schulenburgstraße von üppigen Grünanlagen im Inneren dominiert. „Der größte Verdruss unserer Eltern war, dass wir da im Sommer unsere Sandalen vergraben haben, weil wir nicht gerne mit Lederschuhen gingen. Das gab immer ein großes Juchei, wenn um sechse gerufen wurde ,Reiner, reinkommen!‘ und ich ohne Schuhe ankam.“
Die Landkarte seiner Kindheitserinnerungen umfasst an der damaligen Berliner Straße auch die Werkstatt des Schmieds Kurt Masuch, unweit der Auguste-Viktoria-Allee, auf dessen Gelände sich heute ein Reichelt-Markt befindet. „Bei offenem Feuer standen wir dann da und staunten. Das Aufstieben der Funken und das Beschlagen der Pferde war so aufregend für uns Kinder, dass wir uns manchmal eine halbe Stunde verspäteten und zu Hause gescholten wurden, weil wir zu spät zum Mittagessen kamen.“
Von der Milchkanne geweckt
1934 zog die Familie aus der Zweizimmerwohnung in der Kuhnstraße 3 in den ersten Stock der Berliner Straße 56 in eine Dreizimmerwohnung, zusammen mit den Großeltern. Neben der Arbeitsstube des Vaters, der Maßschneider für Damen und Herren war, lag das Schlafzimmer der Eltern und Kinder und dann kam das Schlaf- und Wohnzimmer der Großeltern. „Direkt unter der Schneiderstube meines Vaters war ein Seifengeschäft und links um die Ecke ein Milchladen. Um vier, fünf Uhr früh lieferten die großen Milchfuhrwerke die Metallkannen für den Milchladen und die plumpsten natürlich vom Wagen – also man wurde automatisch um diese Uhrzeit wach.“ Von frühmorgens bis abends ertönten außerdem stetig summende Geräusche im Haus, denn im Seifenladen gab es auch eine elektrische Wäscherolle – für heutige Wohnverhältnisse wäre diese Geräuschkulisse sicherlich unvorstellbar.
Mit drei Generationen unter einem Dach war trotz der verhältnismäßig großen Wohnfläche immer Platzmangel – die Schularbeiten wurden „quasi direkt neben der Nähmaschine gemacht und wenn große Geburtstage gefeiert wurden, dann saß man als Kind auf dem Plättbrett, weil die Stühle nicht reichten.“ Um über die Runden zu kommen, mussten im Haushalt des Schneidermeisters alle mithelfen. „Mutter hat staffiert, Großvater hat alte Sachen aufgetrennt. Manche Leute konnten sich ja keinen neuen Anzug oder Mantel leisten, da wurden alle Nähte mit dem Rasiermesser aufgetrennt und wenn der Stoff auf der anderen Seite in Ordnung war, wurde er gewendet und wieder nach den neuen Maßen zusammengenäht, so dass das Stück wie neu aussah.“
Umzug ins Märkische Viertel
An Weihnachten war die Tätigkeit des Vaters auch schon mal für eine in Kinderaugen unerträgliche Spannungssteigerung vor der Bescherung verantwortlich: „Die Bürgersfrauen kamen in letzter Minute mit einem Anzug zum Schneidermeister und fragten ,Ach, können Sie den nicht nochmal aufbügeln‘. Vater konnte aus Gutmütigkeit nicht nein sagen, so dass sich bei uns die Bescherung bis zum Letzten verzögerte. Ich entsinne mich, dass ich mehr als einmal am Heiligabend um halb vier, halb fünf einen frisch gebügelten Anzug in einen der Häuserblocks liefern musste. Ich bekam dann schon mal 20 Pfennig, wenn’s hochkam auch eine halbe Mark, musste aber zusehen, wie die Schulfreunde ihre Bescherung hatten und bei uns dauerte und dauerte es.
Bis 1952 hat Rainer Lachmann in der Berliner Straße 56 gewohnt, mit seiner eigenen kleinen Familie zog er dann Anfang der 60er Jahre ins nicht allzu weit entfernte Märkische Viertel. Eins ist sicher – seine vier Kinder mussten bei aller Beengtheit in der Nachkriegszeit an Heiligabend nie allzu lang auf ihre Bescherung warten …
Elke Koepping
Reinickendorfer Geschichte im Museum
Noch bis zum 29. Januar 2007 ist im Heimatmuseum Reinickendorf die Ausstellung „Berliner Schnitzel und andere Geschichten zur Geschichte Reinickendorfs 1930 bis 1965“ zu sehen. Im Januar erscheint das zweite Buch zur Ausstellung unter dem Titel „Westmädchen und Ostjungs“, zu dem auch Rainer Lachmann einige Erinnerungen beigetragen hat. Der Band umfasst den Zeitraum von 1950 bis 1965 und dient mit Zeitzeugenerinnerungen als Ergänzung zu den Exponaten der Ausstellung (Preis: voraussichtlich 10 Euro, erhältlich im Heimatmuseum Reinickendorf).
ek
MieterMagazin 12/05
Die Schneiderwerkstatt 1934: Rainer Lachmann mit Vater, Großvater und Schwester Eveline
Foto: privat
Januar 1961: die junge Familie Lachmann in ihrer neuen Wohnung am Eichborndamm
Foto: privat
Die Ollenhauerstraße hieß früher Berliner Straße
Foto: Elke Koepping
Rainer Lachmann heute und der steinerne Ritter an der Ollenhauerstraße 56
Foto: Elke Koepping
Buchtitel: Westmädchen und Ostjungs
Heimatmuseum Reinickendorf,
Alt-Hermsdorf 35, 13467 Berlin.
Öffnungszeiten: Montag 9 bis 13.30 Uhr,
Dienstag bis Freitag und Sonntag 9 bis 16 Uhr,
Samstag geschlossen.
Rainer Lachmann lernte als Junge durch seinen Großvater die Tradition des Geschichte(n)- erzählens im Familienkreise kennen und schätzen. Wichtig ist ihm dabei, auch den ernsten Kern der historischen Tatsachen in den Blick zu nehmen und Geschichtsirrtümer zu korrigieren.
01.08.2013