Der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung wird bis zum Jahr 2030 auf 33 Prozent steigen. Diese Personengruppe differenziert sich jedoch immer mehr: Während viele bis ins hohe Alter gesund und vital sind, brauchen andere zeitweise oder ständige Betreuung und Pflege. Zu Letzteren gehören Menschen mit Demenz. Inzwischen gibt es für sie in Berlin ungefähr 250 ambulant betreute Wohngemeinschaften – mehr als in jeder anderen deutschen Stadt.
Da heute weit mehr Menschen als früher ein hohes Alter erreichen, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, an Demenz zu erkranken. Jede dritte Person im Alter von über 80 Jahren ist heute betroffen – rund 1,5 Millionen Demenzkranke gibt es in Deutschland. Forscher sehen Demenzerkrankungen bereits als größte medizinische Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Die häusliche Pflege Demenzkranker durch Angehörige ist oftmals schwieriger als die Pflege von Senioren, die an Erkrankungen innerer Organe oder an Mobilitätsproblemen leiden. Die psychische Belastung und der zeitliche Aufwand der Pflegenden sind ungleich höher. Kann dieser Aufwand von Angehörigen oder anderen sozialen Bezugspersonen nicht mehr geleistet und der Demenzkranke nicht länger zu Hause betreut werden, muss ein dauernder Aufenthalt in einem Pflegeheim oder einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft in Betracht gezogen werden. Die Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten muss immer in enger Abstimmung zwischen dem Kranken, seinen Angehörigen und dem behandelnden Arzt getroffen werden.
Leitbild Wohngruppe
Bis zum Beginn der 1960er Jahre waren Pflegeheime vor allem „Verwahranstalten“. Erst nach und nach legte man den Schwerpunkt auf die „Behandlung von Patienten“. In den 1980er und 1990er Jahren wurde als Leitbild das Konzept der „Wohngruppen“ geprägt. Der aktuelle Trend, sozusagen die vierte Generation der Pflegeheime, geht mit langsamen Schritten auf stationäre Hausgemeinschaften zu. Die Bewohner agieren – im Idealfall – wie in einem normalen Haushalt, der Pflegeaspekt tritt in den Hintergrund.
In Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz stehen das Selbstbestimmungsrecht und die möglichst weitgehende Aufrechterhaltung der Selbstständigkeit im Mittelpunkt. Die Demenzkranken sind Mieter – mit allen Rechten und Pflichten. Sechs bis acht, manchmal auch bis zu zwölf Personen leben in einem gemeinschaftlichen, aber selbstbestimmten Umfeld. Alle Bewohner haben einen eigenen Schlafbereich. Eine große Wohnküche ist das Zentrum der ambulant betreuten Wohngemeinschaft. Die Bäder werden gemeinschaftlich genutzt. Die Bewohner und ihre Angehörigen oder rechtlichen Betreuer haben Hausrecht und einen Schlüssel für die Wohnung und können kommen und gehen, wann sie wollen. Sie werden entsprechend ihren Möglichkeiten, Wünschen und Bedürfnissen in die Organisation des Haushalts integriert.
Der Aufenthalt in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft setzt voraus, dass engagierte Angehörige oder rechtliche Betreuer ihr Wahlrecht in Bezug auf den Pflegeanbieter verantwortungsbewusst wahrnehmen. Das beauftragte Pflegeteam ist dauerhaft in der Wohngemeinschaft tätig. Die Arbeitszeiten des Pflegeteams sind variabel und werden bei Einzug oder Auszug von Bewohnern angepasst. Es besteht aus Pflegefachkräften, Hauspflegern, Zivildienstleistenden und Helfern im freiwilligen sozialen Jahr.
Ein Umzug im hohen Alter will gut überlegt sein. Zuerst sollte der Standort überprüft werden: Er muss mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar sein, Angehörige sollten möglichst in der Nähe wohnen und die Wege zu Einkaufsmöglichkeiten, Ärzten, Physiotherapeuten, Parks und so weiter sollen möglichst kurz sein. Die „Koordinierungsstellen rund ums Alter“ in den Bezirken, seit vier Jahren von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz als Vermittlungsagenturen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf anerkannt, weisen freie Plätze in ambulant betreuten Wohngemeinschaften nach und beraten kostenfrei. Auch ein „Wohnen auf Probe“ ist möglich – leider nicht in jeder Wohngemeinschaft.
Inzwischen haben sich verschiedene Betreibermodelle solcher Wohngemeinschaften herauskristallisiert. Bewährt hat sich das „Generalmietermodell“: Ein Trägerverein, oder auch eine Einzelperson, mietet für die Wohngemeinschaft geeignete Wohnungen vom Hauseigentümer an und vermietet diese an die Angehörigen oder rechtlichen Betreuer der Demenzkranken weiter. Der Vorteil: Der Vermieter hat einen Ansprechpartner, der Verein oder die Einzelperson kann als neutrale Instanz bei Konflikten schlichten und die Angehörigen oder rechtlichen Betreuer beraten. Auch für den beauftragten Pflegedienst ist es einfacher, einen einzelnen Ansprechpartner zu haben. Die Mitglieder einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft können zur rechtlichen Absicherung zusätzlich eine „Gemeinschaftsvereinbarung“ abschließen, wie sie zum Beispiel von der Alzheimer Gesellschaft erarbeitet wurde.
Auf dem boomenden Markt der ambulant betreuten Wohngemeinschaften agieren auch „schwarze Schafe“. Immer wieder wird über ungenügende Information der Angehörigen, mangelhafte sanitäre Einrichtungen, zu wenig Personal, unverhältnismäßig hohe Mieten und andere Missstände berichtet. Der „Verein für Selbstbestimmtes Wohnen im Alter“ (SWA) hat deshalb Qualitätskriterien für ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz erarbeitet, die Angehörige in die Lage versetzen, eine Wohngemeinschaft kompetent zu beurteilen. Der Verein empfiehlt als optimale Flächenverteilung 50 Prozent für die Zimmer der Mieter und 50 Prozent für die Gemeinschaftseinrichtungen. Pro Person wird eine Wohnfläche von 30 Quadratmetern empfohlen.
Der Verein SWA strebt an, dass alle Pflegedienste eine freiwillige Selbstverpflichtung zur Einhaltung von Qualitätskriterien unterzeichnen. Ausgebildete Pflegekräfte arbeiten übrigens lieber in einer Wohngemeinschaft als im „Großbetrieb“ Pflegeheim oder in der häuslichen Betreuung, wo sie aufgrund des Zeitdrucks infolge streng reglementierter Pflegezeiten oft nicht die Hilfe leisten können, zu der sie sich verpflichtet fühlen und die auch notwendig wäre.
Unterstützung durch die Pflegekassen
Kritiker wenden ein, dass mit den ambulant betreuten Wohngemeinschaften eine soziale Aufgabe privatisiert wird und argumentieren, dass diese zumeist teurer sind als ein akzeptables Pflegeheim. Das trifft nicht zu, da Pflegeheime mit einem speziellen Wohnbereich und speziellen Angeboten für Menschen mit Demenz von den Pflegekassen einen täglichen Zuschlag von 12 bis 20 Euro bekommen. Für sechs bis acht Bewohner sind täglich mindestens fünf feste Pflegekräfte im Einsatz – zwei vormittags, zwei nachmittags und eine nachts. Das hat natürlich seinen Preis. Die Kosten für Miete (inklusive Nebenkosten: circa 200 bis 520 Euro), den individuellen Bedarf (Verpflegung, Friseur, Wäsche, Telefon, anteiliger Haushaltsbedarf) und Reparaturen tragen die Bewohner der ambulant betreuten Wohngemeinschaft selbst. Für die weitere Finanzierung hat die Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz die neuen Leistungskomplexe LK 19 in Höhe von 76,51 Euro pro Tag für die Pflegeleistungen und LK 38 in Höhe von 17,51 Euro pro Tag für Betreuungsleistungen in ambulant betreuten Wohngemeinschaften geschaffen. Diese Tagespauschale von insgesamt 94,02 Euro gilt für alle drei Pflegestufen. Der SWA geht von einem Eigenanteil von 1899,60 Euro pro Monat aus, den die Mieter selbst zahlen müssen. Hinzu kommen die Miete – für das Sozialamt gelten als Mietobergrenze 360 Euro (warm) – und ein Haushaltsgeld von circa 200 bis 250 Euro. Bei geringem Einkommen und entsprechenden Anspruchsvoraussetzungen übernimmt das Sozialamt den Eigenanteil.
Im Umgang mit der Demenz als Volkskrankheit steht die Gesellschaft noch am Anfang. Auch wenn immer deutlicher wird, dass Familien und Pflegeeinrichtungen demnächst an das Ende ihrer Kräfte gelangen werden, wird das Problem noch allzu oft schöngeredet: Demenz ist mehr als ein Orientierungsverlust, dem durch soziale oder familiäre Zuwendung und ehrenamtliche Tätigkeit begegnet werden kann. Der Betreuungsaufwand für die „behütete Unmündigkeit“ wächst, und auch die Vision des „Zusammenlebens mit der Demenz“ hat Grenzen. Demenz ist keine Lebensform, sondern eine Krankheit. Im frühen Stadium bieten von den Angehörigen unterstützte Wohngemeinschaften die optimale Betreuung.
Rainer Bratfisch
MieterMagazin 12/08
In Wohngemeinschaften für Demenzkranke gilt der Grundsatz: Soviel Selbstbestimmtheit wie möglich, soviel Unterstützung wie nötig
alle Fotos: Kerstin Zillmer
Weitere Informationen:
Selbstbestimmtes Wohnen im Alter SWA e.V.,
Annette Schwarzenau,
Tel. 85 40 77 18,
Fax 85 07 17 73,
verein@swa-berlin.de,
www.swa-berlin.de
SWA e.V., Bruni Zuber,
Herbert-Tschäpe-Straße 49, 10369 Berlin,
telefonische Sprechzeiten: dienstags und donnerstags von 16 bis 19 Uhr
Alzheimer Gesellschaft Berlin e.V.,
Friedrichstraße 236, 10969 Berlin,
Tel. 89 09 43 57,
Fax 25 79 66 96,
alzheimer-berlin@onlinehome.de,
www.alzheimer-berlin.de
Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V.,
Rosemarie Drenhaus-Wagner,
Reinickendorfer Straße 61,
13347 Berlin,
Tel. 47 37 89 95,
Fax 47 37 89 97,
AAI@alzheimerforum.de,
www.alzheimerforum.de
Koordinierungsstellen Rund ums Alter,
Rufnummer für alle Berliner Bezirke montags-freitags 9 bis 18 Uhr: 0180 59 500 59 (14 Cent/min)
Informationszentrum für demenziell und psychisch erkrankte sowie geistig behinderte Migranten und ihre Angehörigen (IdeM),
Rubensstraße 84, 12157 Berlin,
Tel. 85 62 96 57,
Fax 85 62 96 58,
derya.wrobel@vdk.de
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Demenz ist noch nicht heilbar
Demenz (aus dem Lateinischen: dementia = „ohne Geist“) ist ein Oberbegriff für Erkrankungen, die mit einem Verlust geistiger Funktionen wie Denken, Erinnern, Orientierung und Verknüpfen von Denkinhalten einhergehen und dazu führen, dass alltägliche Aktivitäten nicht mehr eigenständig durchgeführt werden können. Hauptformen sind Alzheimer-Demenz, die vaskuläre Demenz, Morbus Pick und frontotemporale Demenz. Auch bei zahlreichen anderen, vor allem im Alter auftretenden Erkrankungen des Gehirns kann es schrittweise zum Auftreten einer sogenannten sekundären Demenz kommen. Eine Heilung gibt es bisher nicht, Medikamente, Psycho- und Ergotherapie können das Leben mit der Erkrankung lediglich erleichtern.
rb
05.06.2022