Nach dreißigjähriger Tätigkeit verlässt der Hauptgeschäftsführer Hartmann Vetter den Berliner Mieterverein. Bei seiner Abschiedsfeier referiert Club-of-Rome-Mitglied Franz Josef Radermacher über das „Wohnen in einer globalisierten Welt“. Statt Festreden ein brisantes, politisches Thema. Selbst- und Fremdbeweihräucherung sind nicht Hartmann Vetters Stil. Aus diesem Grund druckt das MieterMagazin keine Laudatio ab. Niemand bestreitet, dass sie ihm zustünde. Die Organisation, die er maßgeblich mit aufgebaut hat, ist gut in Schuss. Das MieterMagazin hat Armin Hentschel – Sozialwissenschaftler und langjähriger Weggefährte Vetters – gebeten, den Spagat zwischen Welt- und Vereinsgeschichte, Global- und Lokalpolitik, Historie und Biographie zu versuchen. Das Ergebnis sind bebilderte Streiflichter auf das soziale und politische Umfeld, das den Berliner Mieterverein zum größten, vielleicht professionellsten und politisch bedeutsamen Verein im Deutschen Mieterbund gemacht hat – geprägt von den besonderen Bedingungen der Mauerstadt, der Hauptstadt der Studentenunruhen, der Revoluzzer, der Freaks und Ökos.
1979 – Station eins
Große Ereignisse beginnen mit einer Revolution. „Riesenkrach beim Mieterverein – Büros zu, Chefs weg.“ „Bezirkssprecher“ hätten im April 1979, so der damalige Geschäftsführer Heinz Janning, den alten Vorstand gestürzt und einen neuen inthronisiert. „Seine Ziele sind utopisch, die politische Linie ist weit links außen“ und „links“ sei – so sekundierte der vorherige Vorsitzende Volker Heinz – „noch harmlos ausgedrückt“. Originalton der BILD-Zeitung am 1. August 1979, drei Monate nach dem Umsturz. Überzeugungstäter, Menschen ohne Krawatten, mit langen Haaren, schlampigen Klamotten und radikalen Sprüchen hatten den Marsch in eine Institution geschafft, die sich einer eher bräsig-kleinbürgerlichen und gewollt unpolitischen Vorgeschichte verdankte.
Der sogenannte „Epochenbruch in Richtung Egozentrik, Mittelmaß und Faulheit“, den BILD-Chef Kai Dieckmann angelegentlich der jubiläumsbedingt aufgeflammten Kontroverse über die 68er-Generation entdeckte, hatte hier einen bemerkenswert pragmatischen, professionellen, politischen und bodenständigen Ankerplatz bekommen – so professionell, dass BILD 27 Tage nach der Meldung über den Umsturz als Folge eines juristischen Vergleichs den neuen Berliner Mieterverein mit allen Bezirksanschriften ins Blatt aufnehmen musste.
Die Abkömmlinge einer geburtenstarken, jungen und großstadtorientierten Generation, Nutznießer von Wirtschaftswunder, Bildungsboom und Liberalisierung, erzielten mit ihrer Professionalität nicht nur beim Putsch, sondern auch danach große Mobilisierungserfolge. Von 1979 bis 1988 nahm die Mitgliederzahl um das zweieinhalbfache zu.
1979 war das Jahr des Reaktorunfalls in Harrisburg, der ersten Proteste gegen das atomare Zwischenlager in Gorleben und das Jahr, in dem erstmals eine Grünen-Fraktion in ein Landesparlament (Bremen) einzog. Es gab reichlich politisierten subkulturellen Überschuss, der nach einer – wie es damals hieß – nichtentfremdeten Beschäftigung suchte. Und es gab ihn vor allem in West-Berlin, der Hauptstadt der Wehrdienstverweigerer, der Studentenrevolte, der Frauen- und Friedensbewegung, der Antiamerikanisten, Wohngemeinschaften, Hausbesetzer und marodierenden Truppen einer zersprengten APO. Kurz, die soziale Basis für Aufbrüche zu neuen politischen Ufern war breit und das überschüssige Bildungskapital – wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu nannte – suchte nach Anlageformen.
Die gut ausgebildeten, aber einkommensschwachen Neubürger brauchten nicht nur Arbeit, sondern auch preiswerten Wohnraum. Es gab ihn im West-Berliner Altbau, in der eigentlichen sozialen Wohnraumreserve der damaligen Frontstadt des Kalten Krieges. Und diese reichlich ramponierte Ressource wurde durch Leerstand und Bewirtschaftung auf Abriss immer knapper. Schuld war eine Stadtentwicklungspolitik, die der Vision einer autogerechten Stadt folgte und eine Wohnungspolitik, die statt auf Erhaltung und Erneuerung auf Abriss und Neubau setzte. Ihre Marken hatte diese Politik an vielen Orten der Innenstadt, vor allem aber in Großsiedlungen am Stadtrand hinterlassen. Die kulturelle Halbwertzeit dieser Dinosaurier der Wachstumsära war längst abgelaufen, als die kaputten Innenstadtquartiere in Kreuzberg, aus denen Teile der Mietervereinsputschisten kamen, vor sich hinmoderten und auf der Abrissliste standen.
Gegen solche gleichermaßen sozialen wie kulturellen Gräueltaten formierte sich Massenprotest, angeführt durch junge wortgewandte Akademiker, Studenten, Weltverbesserer und bald auch Hausbesetzer. Auf einem schmalen Grat zwischen parlamentarischer Umsetzung, dem dafür notwendigen Pragmatismus und dem radikalisierten Druck aus der Protestbewegung musste sich der Berliner Mieterverein formieren und profilieren. Der Spagat, der sich zwischen SPD-Bündnissen und Patenschaften für besetzte Häuser bewegte, gelang. Auf dem Höhepunkt der Bewegung organisierte der BMV gemeinsam mit Parteien und Mieterinitiativen 1982 ein Bürgerbegehren und 1987 eine Mieterabstimmung gegen die Abschaffung der Mietpreisbindung, bei dem 490.000 Unterschriften gesammelt wurden.
Es war eine Kampagne, mit der sich nun auch eine in der Opposition verjüngte Sozialdemokratie gegen die konservative Stadtregierung profilieren konnte. Die Mittel des politischen Kampfes standen mit Demos, Polit-Clownerien und Agit-Prop deutlich in der Tradition der Studentenbewegung von 1968. Aber es war eine aufgeklärte Sozialromantik, die nicht nach dem Motto „Phantasie an die Macht“ agierte, sondern – wie bei der Aktion „Berlin wird helle“ – ihre Phantasie wirkungsvoll gegen die Mächtigen einsetzte.
Nicht nur die Mietenpolitik mobilisierte Menschen, sondern auch die prächtigen Sumpfblüten der Berliner Bauspekulation. Die Mauerstadt war mit ihren Sonderabschreibungen und Subventionen zum Liechtenstein des Ostens geworden und lockte scharenweise steuermüde Bundesbürger an. Es war der Berliner Mieterverein, der polit-ökonomische Aufklärungsveranstaltungen unter dem Motto „Ich weiß Bescheid“ veranstaltete und mit einem Ton-Dia-Wanderzirkus und dem „Abschreibungsdschungelbuch“ Warnrufe vor einem maroden Finanzierungssystem des Sozialen Wohnungsbaus in die Öffentlichkeit sandte. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis das Ausmaß der damit programmierten Misere ins Bewusstsein einer breiten Berliner Öffentlichkeit dringen würde.
1989 – Station zwei
„Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ hatte SED-Chefideologe Kurt Hager – fortan „Tapeten-Kutte“ genannt – 1987 einen Stern-Reporter gefragt. Mit dem Nachbarn war KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow gemeint. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr auch der letzte Ostdeutsche via Westmedien, dass von dieser DDR-Führung weder Perestroika noch Glasnost zu erwarten waren. Man musste selbst Hand anlegen.
Zwei Jahre später hatten ausgerechnet die im Westen als arme Duckmäuser verhöhnten Ostdeutschen die erste erfolgreiche und überwiegend friedliche Revolution in Deutschland gemacht. Die Ost-Berliner Mauer, Symbol des Eisernen Vorhangs, zerbrach sichtbar am Brandenburger Tor. Berlin stand wieder einmal im Zentrum eines weltpolitischen Ereignisses.
Eine lange Phase der Destabilisierung und des ökonomischen und sozialen Niedergangs in den Warschauer-Pakt-Staaten war vorangegangen. Sie begann mit dem Prager Frühling 1968, der noch mit russischen Panzern niedergeschlagen wurde und sie setzte sich mit der Solidarnosc-Bewegung 1980 in Polen fort. Die Macht bröckelte – wie es Ilko Kowalczuk in seinem Buch „Endspiel“ beschrieb, zunächst an der Peripherie. Gorbatschows Versuch einer Rettung der Parteidiktatur durch Reformen mündete ungewollt in ihrer Auflösung.
Als die Oppositionsbewegung sich in der DDR zu formieren begann, war die angemaßte Intervention der Hegemonialmacht Sowjetunion in die Bruderstaaten mit dem Abschied von der Breschnjew-Doktrin beendet. Es gab keine sowjetischen Panzer mehr, die einer „geheimbündlerisch agierenden Gerontokratie“ (Kowalczuk) gegen das Volk zu Hilfe kommen konnten.
Im Jahr 1990 schlossen sich neben den Parteien auch zahlreiche in Ostdeutschland gegründete Bürgerorganisationen mit ihren westdeutschen Partnern zusammen. So auch der Mieterbund der DDR. Und der Berliner Mieterverein erhielt mit Edwin Massalsky, Dr. Regine Grabowski und Christoffer Richartz einen Gesamtberliner Vorstand. Die rund 800 Mitglieder des Mieterverein Berlin (Ost) traten dem Berliner Mieterverein bei.
Es war das Jahr, in dem die ersten freien Volkskammerwahlen stattfanden, und der gerade von den Grünen zur SPD gewechselte Otto Schily zur Bewertung der Wahlergebnisse mit einem klaren Sieg der CDU-Allianz höhnisch eine Banane aus dem Revers zauberte – die Geste eines schlechten Verlierers und die Verhöhnung der friedlichen Revolution zu einem Akt der Beschaffung von DM und Bananen, aber auch ein Vorgeschmack auf das schwierige Zusammenwachsen zweier Kulturen. Berlin mit seiner Tür-an-Tür-Nachbarschaft von Ost und West war nun Labor der Wiedervereinigung. Der Berliner Mieterverein und seine Dachorganisation begleiteten von nun an den schwierigen Übergang in ein neues wohnungswirtschaftliches und mietrechtliches System, für den nicht zuletzt West-Berlin Pate stand. Dort hatte man erst kurz vor dem Mauerfall die Mietpreisbindung abgeschafft.
Jahrzehnte später würde der BMV-Vorsitzende Franz-Georg Rips die Bilanz ziehen: „20 Jahre nach dem Mauerfall stehen sich die Ost- und West-Berliner beim Wohnen näher als in allen anderen Lebensbereichen.“ Ein Ergebnis, an dem die Mieterorganisationen maßgeblich mitgewirkt haben.
1999 – Station drei
In diesem Jahr wurde Berlin mit der Eröffnung des Reichstags de facto zur Bundeshauptstadt und zum Regierungssitz. Der Berliner Mieterverein unternahm etwas, das auch Menschen tun, wenn sie Erfolg haben und in die Jahre kommen: Er betrieb Traditionspflege. Mit seinem Gesamtberliner Vorstand, mit neuen Räumen im Osten der Stadt und mit einer weiteren Verdopplung der Mitglieder gegenüber 1989 erschien eine Jubiläumsausgabe des MieterMagazin mit einem Titel des Urahnen von 1898. 111 Jahre war die Organisation nun alt und ließ sich angesichts dieser Schnapszahl im Deutschen Dom feiern. Längst war aus der ehemals wilden Mieterbundsopposition ein anerkannter und angehörter Mitstreiter geworden. Aus den Aktivisten von damals war eine rot-rote und grüne Allianz geworden.
Der Berliner Mieterverein verkroch sich selbstverständlich nicht in der eigenen Stube. Die globalen Probleme, die schon im letzten Jahrzehnt mit dem Einzug grüner Themen wichtiger wurden, prägten zunehmend das Alltagsgeschäft und die Politik. 1999 war das Jahr, in dem der Potsdamer Klimaforscher Stefan Rahmstorf als einer von weltweit zehn Wissenschaftlern den hochdotierten „Jahrhundertpreis“ der amerikanischen James-S.-McDonell-Stiftung für seine bahnbrechenden Arbeiten zum Klimamodell des Golfstroms erhielt. Diese Arbeit enthielt wie viele Forschungen seit den Club-of-Rome-Warnungen von 1972 unangenehme Botschaften zur Entwicklung des Weltklimas.
Meldungen aus der Wissenschaft gab es zuhauf, aber ihr Weg in das Alltagsbewusstsein geht über die Wohn- und Fernsehzimmer und die Brieftasche. Auch dafür war gesorgt. Nachrichten über Umweltkatastrophen häuften sich in den Folgejahren. Vor allem aber war 1999 ein Wendejahr für die Energiepreisentwicklung. Die Durchschnittspreise für eine Heizöllieferung von 3000 Litern hatte 1998 noch 647 Euro betragen. Im Jahr 2000 hatte sich dieser Preis auf 1231 Euro verdoppelt. Auch wenn der Anstieg überwiegend auf ökonomische Ursachen und nicht auf endliche Reserven zurückging, brachte die Heizkostenentwicklung über das Portemonnaie in Erinnerung, wie sehr das Leben und Arbeiten in den westlichen Industrieländern an fossilen Rohstoffadern hängt. Eine Verstopfung dieser Arterien – aus welchen Gründen auch immer – steht für einen globalen Infarkt unseres Zivilisationsmodells.
Die zunehmende Sensibilisierung für die weltweite Energie- und Klimaproblematik erreichte auch die Mieterbewegung. Auf dem Deutschen Mietertag 2007 legte Club-of-Rome-Mitglied Franz Josef Radermacher dem Deutschen Mieterbund die Mitwirkung an einem globalen Marshall-Plan zur Abwendung einer Klimakatastrophe mit ihren heute noch kaum vorstellbaren sozialen Folgen nahe. Selten hatte man Mieterfunktionäre und -aktivisten nachdenklicher gesehen.
Das globale Problem hinterließ in diesem Jahrzehnt seine Spuren in der Tagespolitik. Themen rund um die Einsparung von Energie und CO2-Ausstoß, die energetische Gebäudesanierung, Transparenzinstrumente für den Energieverbrauch, Heizkostenspiegel und ökologische Mietspiegel schoben sich in den Vordergrund. In der alltäglichen Beratungspraxis bekamen Betriebskosten als zweite Miete eine ähnlich große Bedeutung wie die Nettomiete.
Über den Blick auf weltpolitische Zusammenhänge mag man leicht vergessen, dass Mietervereine vor allem Dienstleister sind. Für jede nichtstaatliche Organisation, die ohne Subventionen auskommen muss, ist eine stabile Mitglieder- und Einnahmenbasis existenznotwendig. Den Beweis, dass politische Außenwirkung und professionelle Dienstleistung im Rechtsberatungsbereich zusammengehören, hat der Berliner Mieterverein über Jahrzehnte erbracht. Die Mitgliederentwicklung spricht dabei ihre eigene Sprache. Solche Mitgliederzuwächse werden schwieriger, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sich wie in den vergangenen Jahren für viele Mieter verschlechtert haben und in den meisten Städten Deutschlands keine Wohnungsknappheit mehr besteht – Rahmenbedingungen, die sich im letzten Jahrzehnt auch in Berlin eingestellt haben.
Trotz dieser widrigen Umstände konnte der Berliner Mieterverein eine positive Bilanz vorweisen, die sich vor allem einem professionellen Management verdankte. Von den Erfahrungen seines Berliner Landesverbandes hat denn auch der Deutsche Mieterbund profitiert und das professionelle Know-how der Berliner wurde über die Mitwirkung in der sogenannten Zukunftskommission des Verbandes in die Gesamtorganisation eingespeist.
2009 – Station vier
„Wir stehen an der Schwelle zu einer globalen Rezession“, so der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, im Oktober 2008 in Washington. „Die Lage ist sehr ernst.“ Eine Finanzkrise hat kurz vor dem Jahreswechsel 2009 die Welt daran erinnert, dass es ihren Führungseliten nicht nur an ökologischem, sondern auch an ökonomischem Sachverstand und häufig auch an moralischer Integrität gemangelt hat. An Warnungen vor den Folgen einer Politik, die von der Religionsgemeinschaft des Shareholder-Value statt von Nachhaltigkeitsprinzipien regiert wurde, hatte es nicht gefehlt. Die Interventionen reichten vom Club-of-Rome 1972 bis hin zu den weniger prominenten Einmischungen von Attac in jüngster Zeit.
Auch der Berliner Mieterverein hatte Seite an Seite mit seinem Dachverband vor den Folgen blinder Privatisierung, vor Hedge-Fonds, REITs und sogenannten Cross-Boarder-Leasing-Geschäften gewarnt und 2006 ein „Schwarzbuch Privatisierung“ vorgelegt. In kürzester Zeit wurde mit der Deutschen Annington ein sogenannter Neuer Investor zum größten Vermieter Deutschlands. Die Folgen ließen nicht auf sich warten. In der Rückschau hieß es: „Der Deutsche Mieterbund hat sehr frühzeitig vor der Überführung öffentlichen Vermögens in einen Spekulationskreislauf gewarnt, dessen Regeln und Folgen von der Mehrheit der Akteure nicht durchschaut wurde.“
In der Tat hatte die internationale Spekulation mit Wohnimmobilien und der Handel mit den darauf bezogenen Risikobeleihungen und Derivaten ihren Anteil am Beinahe-Kollaps des internationalen Kreditsystems. Eine weitere Erinnerung daran, dass globale Krisen weder den Heimatort noch die eigenen vier Wände verschonen. Der Kreis schließt sich. Radermacher erinnert daran, dass wir de facto Weltbürger und nur ein winziger Fleck in einem bedrohten Ökosystem sind. Aber weder unser politisches noch unser alltägliches Verhalten trägt dieser Tatsache bisher Rechnung.
Ausblick
Das Jahr 2009 markiert nicht nur einen Führungswechsel, sondern ist auch Anlass für einen Ausblick. In positiver Abwandlung des bekannten Gorbatschow-Zitats kann man sagen, dass das Leben diejenigen belohnt, die früh genug die Zeichen der Zeit erkennen. Diejenigen Menschen und Institutionen, die dabei Katalysatoren von Veränderungen sind, begreifen oft erst im Nachhinein, warum sie zu ihren Leistungen in der Lage waren. Als Hartmann Vetter antrat, tat er dies zunächst als Presserechtler gegen die BILD-Zeitung. Mit Erfolg. Auch deshalb endete er – nicht ohne die vereinsintern üblichen kleinkarierten Zwischengefechte und Machtkämpfchen – schließlich als Geschäftsführer.
Ob der Mieterverein auch in Zukunft an der Spitze einer emanzipatorischen Bewegung agieren wird, hängt von der Art ab, ob und wie er sich der neuen großen Themen und politischen Herausforderungen annimmt. Dazu gehören die regionale Mitwirkung bei der weltweiten Senkung des CO2-Ausstoßes, die vielen, kleinen aber wichtigen Beiträge zur Senkung des Energieverbrauchs, zum Ersatz fossiler durch regenerierbare Energieträger. Aber auch der Kampf gegen die zunehmende soziale Spaltung unserer Gesellschaft, die nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch in einer Großstadt wie Berlin verhindert werden muss. Für die globalen Herausforderungen einer nachhaltigen Politik gibt es noch keine geeigneten Institutionen und keine „internationalen Standards und Regulierungsmöglichkeiten“, wie es Franz Josef Radermacher formuliert. Aber auch bei der Umsetzung einer sozialen Klimaschutzpolitik auf regionaler Ebene gibt es Schwierigkeiten. Das Wissen um globale Zusammenhänge sichert in keiner Weise die individuelle Handlungsbereitschaft. Dafür braucht man Mediatoren und Moderatoren. Neben Parteien und Parlamenten ist dies auch die Aufgabe von Organisationen, die sich der sozialen und ökologischen Verantwortung stellen.
Der Berliner Mieterverein gehörte bisher dazu. Im Berliner Mieterverein hat der Marathon-Mann Hartmann Vetter den Staffelstab an Reiner Wild übergeben und er hat mehr als seine Pflicht getan. Nun sind die Nachfolger dran.
ah
2008 war ein Jahr der Debatten über Schuld und Verdienste der Generation, die man neben Woodstock, Anti-Vietnam-Demos und Studentenunruhen auch für eine beispiellose Liberalisierung der Alltagskultur verantwortlich gemacht hat. Von damals an durfte man mit 16 ungestraft bei der Freundin schlafen, ungepflegt langhaarig durch die Gegend laufen und das soziale Umfeld missionieren. Altersmäßig gehört der Hauptgeschäftsführer dazu.
Aber ist er deshalb, wie es sein Vorsitzender Franz-Georg Rips formulierte, auch „ein typischer 68er“ – einer, der „ein wenig stolz ist auf das, was erreicht wurde, etablierte Strukturen zu hinterfragen, zum Teil aufzubrechen, eine neue politische ökologische Bewegung installiert zu haben, in Bereichen der Gesellschaft Liberalität in einem guten Sinne herbeigeführt zu haben“? Da ist was dran wird der sagen, der ihn lange kennt.
Aber gehört er auch zu denen, die, so Rips, „einen kleinen Schuss von Arroganz mit sich herumtragen, weil sie das Gefühl haben, in Wirklichkeit doch alles besser zu wissen und besser zu können“? Realitäten liegen immer im Auge des Betrachters. Über den sanften Tadel des Vorsitzenden kann man getrost hinweggehen. Sicher ist, dass der von Bild-Zeitungschef Diekmann behauptete „Epochenbruch in Richtung Mittelmaß, Egozentrik und Faulheit“ durch die Person Vetter nicht symbolisiert wird.
Der ist ein Mensch mit einem Arbeitsethos, das eher den Weberschen Bourgeois mit seinem protestantischen Ethos charakterisiert und sehr erfolgreich gewirkt hat. Ein Antihedonist und Sparer, dessen IKEA-möbliertes Chefzimmer selbst einer Wohngemeinschaft von heute zu spartanisch wäre. Schließlich ein Chef, dessen rau-westfälischer Ton manchen Nicht-Eingeweihten zwar verschreckt, der sich aber für seine Belegschaft in Stücke reißen ließ. Die „Lebensstilrevolution“, die die 68er ausgelöst haben sollen, ist jedenfalls wie so manch anderes Klischee an Hartmann Vetter vorbeigegangen. Dafür ist Schelte wohl nicht angebracht.
Und schließlich: Wer diese Generation beschimpft, der kritisiert ihre Eltern ebenso wie die Kinder der 68er. Und die sind laut einer neueren Shell-Jugendstudie traditionellen Werten wie Fleiß, Familie und Sicherheit sehr zugetan.
ah
MieterMagazin 12/09
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05.06.2013