Am 19. Mai 1990 wurde der Mieterbund der DDR in Ost-Berlin gegründet. Der damalige Präsident war Joachim Göring. Von einem „neuen Farbtupfer“ in der politischen Kultur der DDR sprach Wolfgang Ullmann, Vizepräsident der Volkskammer der DDR. Heute – 20 Jahre danach – sind die ostdeutschen Vereine fester Bestandteil der deutschen Zivilgesellschaft und des politischen Lebens geworden.
Als er in seinem Kölner Büro eintrifft, warten zwei Besucher auf Helmut Schlich, die dort nach einer Nachtfahrt seit 8 Uhr in der Früh ausharren. Professor Kaden und Stefan Klein wollen sich beim Direktor des Deutschen Mieterbundes (DMB) organisatorische und politische Tipps für den Aufbau der Mieterorganisation Ost holen. „Es gab eben gewisse Unterschiede zwischen dem Arbeitsbeginn im Westen und dem damals noch stark altindustriell geprägten Osten“, erinnert sich Helmut Schlich als damaliger Bundesdirektor des Deutschen Mieterbundes. Das geschilderte Ereignis fand Anfang der 90er Jahre kurz nach Mauerfall statt. Seitdem haben sich in Sachsen und im benachbarten „Land der Frühaufsteher“ Sachsen-Anhalt nicht nur die Büroanfangszeiten geändert.
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ – diese oft zitierte Aussage Michael Gorbatschows galt als Leitmotiv vieler Aktionen rund um den Aufbau des Mieterbundes Ost. Tausende von Kilometern legte Jost Riecke, der damalige „Ostbeauftragte“ des DMB, in seinem Auto zurück, um den „Wind of Change“ in die ostdeutschen Städte und Vereine zu tragen. Der Mieterbund leistete mit 4 Pfennig pro Mitglied und Monat von Seiten der Westvereine einen Solidarbeitrag, um diese und viele andere Aufbauhilfen zu finanzieren. Das waren immerhin 500 000 DM pro Jahr – insgesamt 2,5 Millionen DM.
Rasante Entwicklung
Zu den Städten, die das Gorbatschow-Motto besonders beherzigten, gehörte Leipzig. Dort wurde am 16. Februar 1990 der erste Mieterverein im Deutschen Mieterbund gegründet. Und ebenfalls in Sachsen entstand nur gut einen Monat später auch der Dresdener Mieterverein mit anfangs 93 Mitgliedern. 1996 konnte der Verein rund 15000 Mitglieder vorweisen. 2009 hatten die mittlerweile 83 Vereine in den ostdeutschen Bundesländern 235000 Mitglieder und stellten 20 Prozent der Mitglieder des Deutschen Mieterbundes. Für einen Zeitraum von nur 20 Jahren ist das eine stolze Bilanz. Immerhin war es eine Entwicklung, die nach dem Mauerfall praktisch bei Null begann.
Für das Wachstum gab es viele Beschleuniger. Neben der bereits genannten Aufbauhilfe Ost waren es manchmal auch Zufälle. Helmut Schlich: „Frau A. aus Güstrow in Mecklenburg reiste zu Bekannten nach Koblenz. Ihr Neffe, Mieterberater am Deutschen Eck, infizierte sie. Zurück in Güstrow trommelte sie Freunde und Bekannte zusammen – und schon entstand ein Mieterverein.“ In anderen Fällen entstanden Partnerschaften zwischen Landesverbänden. Im Norden kümmerten sich Hamburg und Schleswig-Holstein um Mecklenburg-Vorpommern. Der Verband von Nordrhein-Westfalen betreute und beriet Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Die Landesverbände von Hessen, Baden Württemberg und Bayern übernahmen Partnerschaften mit Sachsen und Thüringen.
Berlin, die geteilte Stadt, nahm in dieser Entwicklung eine Sonderstellung ein. Der Berliner Mieterverein als größter DMB-Verein in der westlichen Stadthälfte wirkte als Beschleuniger und Aufbauhelfer. Im Ostteil begann es in einem Gebäude Unter den Linden 36-38, das bis Ende 1989 Sitz des FDJ-Zentralrates war. Danach wurde es zum Hauptstadtstudio des ZDF. Jürgen Fischer, Mitglied der Gründungsinitiative für den Ostdeutschen Mieterbund, erinnert sich: An der Spitze der Initiative stand Michael Roggenbrodt, heute Geschäftsführungsmitglied des Gesamt-Berliner Vereins. „Das kleine Büro verfügte über einen Telefonanschluss und nur über ein Telefon. Noch kein Fax, kein Computer – und das Handyzeitalter setzte ohnehin erst Jahre später ein.“
Im Wohnen am weitesten vereint
Es ging schnell, manchen zu schnell. Denn Berlin war ab 1989 so etwas wie ein „Labor der Wiedervereinigung“ – eine Vereinigung, die nicht nur für das organisatorische, sondern auch für das Zusammenwachsen der Wohnungsmärkte und Rechtssysteme stand. Der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild: „Der Mieterverein und seine Dachorganisation haben den schwierigen Übergang in ein gesamtdeutsches wohnungswirtschaftliches und mietrechtliches System mit viel Engagement begleitet.“ Im Nachhinein sehen die Abläufe selbstverständlich, fast reibungslos aus. Aber Wild erinnert sich gut daran, welche enormen Kraftakte insbesondere der ostdeutschen Mitstreiter dafür notwendig waren.
War diese schnelle Vereinigungs- auch eine Erfolgsgeschichte? Die Diskussion über diesen Punkt fand wie im gesamtdeutschen DMB auch im Berliner Verein nicht immer versöhnlich statt. Verbandsführungen gesamtdeutscher Organisationen antworten ungern auf diese Frage. Fragt man die Betroffenen, dann haben sich bei der Wohnung und der Freizeit – und nur dort – die Zufriedenheitskurven in Ost und West angenähert. Um die schwierige Diskussion zu versachlichen, hatte der Berliner Mieterverein 2008 das „Institut Für Soziale Stadtentwicklung“ (IFSS) mit einer Studie beauftragt.
Dort kann man nachlesen, dass das Gesamtergebnis weder eine klar positive noch negative Gesamtbilanz zulässt. „Wer Negativmeldungen sucht, findet sie – wer Positivnachrichten braucht, wird ebenfalls fündig“, kommentiert Armin Hentschel, der Leiter des IFSS die Entwicklung. Die Einkommen im Osten seien niedriger, aber der Berliner Westen ist der Alleinerbe einer unbewältigten Integration von Ausländern. Beim „Altern“ hat der Westen Berlins die Nase vorn, die Jugend bevorzugt die Altbaugebiete im Osten. Andererseits: Der Altersdurchschnitt ist im Großsiedlungsbezirk Marzahn-Hellerdorf am schnellsten angestiegen.Eine gewisse Verdrängung der ostdeutschen Stammbevölkerung durch West-Berliner und Westdeutsche findet – so Hentschel – zwar in den Sanierungsgebieten von Mitte statt, aber sehr viel weniger in den „Szenegebieten“ von Prenzlauer Berg. Die im Osten besonders beklagte Eigenheimförderung hat zur Entleerung von Großsiedlungen am Stadtrand beigetragen, aber die politischen Repräsentanten, die dies kritisieren, müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die Ost-Berliner Bevölkerung der aktivste Teil der Suburbanisierung war. Schließlich: Die Mischung der Stammbevölkerung Ost und West schreitet vor allem im Osten schnell voran. Unter den mischungsfreudigen jungen Erwachsenen weiß in einigen Jahren niemand mehr, wer ursprünglich Ossi oder Wessi war.
Mag die gesamte Lebenswirklichkeit in Ost und West auseinanderfallen – beim Wohnen sieht es etwas anders aus. So jedenfalls sieht es der Präsident des DMB, Franz-Georg Rips für Berlin: „20 Jahre nach Mauerfall stehen sich die Ost- und West-Berliner beim Wohnen näher als in allen anderen Lebensbereichen.“ Dies ist ein Ergebnis, an dem der Deutscher Mieterbund als gesamtdeutsche Organisation mitgewirkt hat.
mm
MieterMagazin 12/10
Der Übergang in das Wohnungsmarktsystem des Westens war für die Ost-Bundesländer ein schwieriger Prozess
Foto: Archiv MieterMagazin
Maueröffnung 1989
Foto: Paul Glaser
Mieterdemonstration am Berliner Alexanderplatz 1993
Foto: Paul Glaser
20 Jahre gemeinsame Mieterbewegtheit – Anlass für einen nostalgischen Blick zurück
Foto: Udo Engelhard/DMB
Zum Thema
20 Jahre später …
Anlässlich des Jubiläums lud der Deutsche Mieterbund am 29. Oktober 2010 zu einem Abendessen auf der Moritzburg in Halle ein. Mit der Veranstaltung sollte das Engagement jener Personen gewürdigt werden, die vor 20 Jahren maßgeblich mit ihrer Arbeit zu dem Aufbau der ostdeutschen Landesverbände des Deutschen Mieterbundes beigetragen hatten. Auch der Berliner Mieterverein nahm mit einer Gruppe von Ehrenamtlichen „der ersten Stunde“ an dieser Veranstaltung teil.
Nach den Grußworten der Bürgermeisterin von Halle, Frau Dagmar Szabados, und Sachsen-Anhalts Bauminister Dr. Karl-Heinz Daehre, würdigte DMB-Präsident Franz-Georg Rips den heutigen Erfolg des DMB als gesamtdeutsche Mietrechtsorganisation. Mit Anekdoten und Erinnerungen folgte ein erfrischender Rückblick von Helmut Schlich, der die Anfänge des gesamtdeutschen Mieterbundes als damaliger Direktor des DMB begleitet hatte. In der unterdessen ausgelassenen und fröhlichen Stimmung ergänzte Ellen Schultz, Vizepräsidentin des DMB, den Rückblick des Alt-Bundesdirektors mit ihren persönlichen Erinnerungen – sie war 1990 maßgeblich an der Gründung der ostdeutschen Mieterorganisationen beteiligt.
Ein anschließendes geselliges Beisammensein gab denn auch den übrigen Altvorderen Gelegenheit zu einem Blick zurück auf 20 Jahre gemeinsame Mieterbewegtheit.
Wibke Werner
11.04.2013