Vor zehn Jahren wurde im Arbeitskreis „Anders Altern“ innerhalb der Berliner Schwulenberatung die Idee zu einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt für homosexuelle Senioren geboren. Im Sommer diesen Jahres wurde der „Lebensort Vielfalt“ eröffnet.
Als „Altersheim für Schwule“ titulierte die Presse das Haus in der Niebuhrstraße 59/60 in Charlottenburg. Doch lediglich 60 Prozent der Bewohner sind schwule Männer über 55 Jahre. 20 Prozent der Wohnungen sind für jüngere Homosexuelle reserviert und weitere 20 Prozent für Frauen oder heterosexuelle Männer. Zusätzlich gibt es eine betreute Wohngemeinschaft für Demenzkranke.
„In jedem Fall ist Schwulsein hier selbstverständlich, wir wollten ein diskriminierungsfreies Wohnumfeld schaffen“, betont Marco Pulver von der Schwulenberatung Berlin. Gerade ältere Schwule haben noch viel Diskriminierung erlebt und befürchten Vorurteile und schiefe Blicke in einem konventionellen Pflegeheim. In der Niebuhrstraße wohnen sie mit Gleichgesinnten unter einem Dach, können Kontakte knüpfen und gemeinsam ihre Zeit gestalten.
In der Planungsphase des Projektes habe es zwar auch Verfechter eines Hauses ausschließlich für Homosexuelle gegeben, aber schon bald setzten sich diejenigen durch, die kein „Ghetto“ wollten, sondern eine gemischte Bewohnerschaft – „… ein Haus für Schwule und Freunde von Schwulen“, wie es Marco Pulver formuliert.
Bei der Vergabe der 24 Wohnungen wurde streng auf den festgelegten Mix geachtet. Ausreichend Bewerber für die 24 Wohnungen gab es. 200 Personen standen auf der Warteliste – und das, obwohl die Mieten mit durchschnittlich 11 Euro warm nicht gerade günstig sind. Die vorhandenen Maisonette-Wohnungen liegen sogar noch darüber. Von Anfang an stand fest, dass es keine Eigentumswohnungen sein werden. „Das könnte sich unsere Klientel nicht leisten“, erklärt Pulver.
Große Nachfrage
Für Doris, eine von 33 Bewohnern, war dies sogar der ausschlaggebende Grund. Jahrelang war sie auf der Suche nach einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt zur Miete. „Ich habe in etlichen Gruppen mitgearbeitet, aber aus allen ist am Ende nichts geworden, meist wegen Finanzierungsschwierigkeiten“, erzählt die 64-Jährige. Über eine Bekannte, die auch hier eingezogen ist, stieß sie dann auf diese Gruppe. Ihre anfängliche Skepsis, als Frau ausgerechnet in ein Schwulenwohnprojekt zu ziehen, verschwand schnell: „Die Atmosphäre ist wirklich sehr angenehm, ich bin positiv überrascht.“ Allmählich entwickeln sich immer mehr gemeinschaftliche Aktivitäten. Über ein Schwarzes Brett können sich die Mieter zu Ausflügen, Grillabenden oder Theaterbesuchen verabreden. Es gibt eine Gemeinschaftsküche, wo gemeinsam gekocht und gegessen wird, und einen Garten, der im nächsten Frühjahr noch mit Grillecke und Gemüsebeeten ausgestattet werden soll.
Mit im Haus ist auch die Schwulenberatung mit ihren Angeboten, eine große Bibliothek und ein Café, wo auch Lesungen und andere Veranstaltungen stattfinden. „Mit diesem Konzept ist das Projekt einzigartig in ganz Europa“, sagt Pulver. Aufgrund der großen Nachfrage könnte es durchaus sein, dass der „Lebensort Vielfalt“ nicht das einzige Wohnprojekt dieser Art bleibt.
Birgit Leiß
MieterMagazin 12/12
Gemeinsame Aktivitäten gehören zum Alltag im Homosexuellen-Wohnprojekt in der Niebuhrstraße
Foto: Sabine Münch
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Das Haus in Zahlen
Das Haus Niebuhrstraße 59/60 stammt aus den 30er Jahren und wurde zuletzt als bezirkliche Einrichtung zur Familienförderung genutzt. Die Schwulenberatung Berlin erwarb die Immobilie im Jahre 2010 und schloss mit dem Bezirk einen Erbbaurechtsvertrag. Das Grundstück ist somit im Besitz des Bezirks geblieben. 2011/ 2012 wurde das fünfstöckige Haus komplett umgebaut und barrierefrei gemacht. Es entstanden 24 Wohnungen mit Größen zwischen 33 und 80 Quadratmetern, alle haben einen Balkon. Vier Wohnungen kosten nur 380 Euro und sind Hartz-IV-Empfängern vorbehalten. Für Kauf und Umbau musste die Schwulenberatung rund 6 Millionen Euro aufbringen. Die Hälfte davon wurde über die „Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin“ finanziert, der Rest über Spenden und einen Kredit. Derzeit ist der jüngste Bewohner 31 Jahre alt, der älteste 86. Bei Mieterwechsel entscheidet die Schwulenberatung als Vermieter über die Belegung. Der Mieterbeirat kann jedoch sein Veto einlegen.
bl
28.03.2013