Oft konnten junge Männer im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nur als sogenannte Schlafgänger ein Bett finden. Die Ledigenheime, die damals von Vereinen, Gesellschaften, Gemeinden oder Philantrophen gegründet wurden, schufen dringend benötigte Übernachtungsmöglichkeiten. Das Konzept findet heute wieder Anklang – wobei das Angebot natürlich nicht mehr auf unverheiratete Männer beschränkt ist.
In großen Buchstaben und in geschwungener Schrift prangt auch heute noch das Wort „Ledigenheim“ an der Fassade des großen Gebäudes in der Charlottenburger Danckelmannstraße 46/47. Diese stolze öffentliche Titulierung galt dem ersten deutschen Arbeiterwohnheim, das am 1. April 1908 seine Türen öffnete. Der Architekt und Charlottenburger Stadtbaurat Rudolf Walter hatte ein „Unterkunftshaus in erster Linie für unverheiratete junge Männer gebaut, die sonst auf Schlafstellen angewiesen sind, Männer mit bescheidenem Einkommen, doch immer im Vollbesitz der Kräfte und daher erwerbsfähig“, wie eine zeitgenössische Beschreibung ausführt.
Das Ledigenheim war verhältnismäßig groß angelegt: Bis zu 370 Männer konnten in einfach möblierten, sechs Quadratmetern großen Einzelzimmern des Wohnheims leben – ein eigener Raum war damals keine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus wurde ein hotelähnlicher Komfort und Service bereitgestellt.
Der soziale Gedanke beschränkte sich aber nicht nur auf das Dach über dem Kopf. Den männlichen Bewohnern standen eine Volksbücherei, eine Volksbadeanstalt und eine Volksspielhalle im Haus zur Verfügung. „Der Eigenart des Hauses entsprechend besitzt dieses selbstverständlich allen ‚herrschaftlichen Komfort‘ und gediegene Ausstattung“, wie Franz Salomon in der „Bauwelt“ von 1929 urteilte. Wegen des rigorosen Zutrittsverbots für Frauen hatte es in der Nachbarschaft allerdings auch den Namen „Bullenkloster“ bekommen. Entgegen vieler Befürchtungen war der Ruf des Heimes jedoch solide und gut. Sogar ökonomisch wurde der Heimbetrieb zum Erfolg. Nicht zuletzt trugen drei angegliederte Geschäfte zur Wirtschaftlichkeit des Komplexes bei. Die Ausstattung des Hauses schlug sich allerdings in einem entsprechenden Mietpreis nieder, so dass sich doch nur wieder gute Verdiener das Wohnen darin leisten konnten. Träger des Heims war keine Wohlfahrtsinstitution, sondern die 1905 gegründete „Volkshotel AG Ledigenheim“.
Vom Ledigen- zum Studentenwohnheim
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war das Ledigenheim wegen der kriegsbedingten Wohnungsnot voll besetzt, galt aber als ausgesprochene Notunterkunft. Ende der 60er Jahre schließlich standen immer mehr Zimmer leer, so dass die Aktiengesellschaft 1971 das Heim an die Gewobag verkaufte. Diese wiederum schloss das Haus und baute es um, wobei sie die Außenfassade originalgetreu rekonstruierte und sanierte. Heute ist das Gebäude ein Studentenwohnheim mit 154 Einzelzimmern.
Das massenhafte Auftreten von Schlafburschen und Untermietern war eine Folge der aufblühenden Industrie, die in den späten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu großen Wanderungsbewegungen und Zuzug in die Städte führte. Vor allem die Zahl der Durchreisenden und Alleinstehenden stieg stetig an: Junge Leute waren gezwungen, dorthin zu gehen, wo sich Arbeit bot. Während die weiblichen Zuwanderer meist als Dienstmädchen eine passende Unterkunft bei ihren Arbeitgebern fanden – und wenn es auch nur der Schlafboden in der Kammer war -, mussten die jungen Männer nicht selten von Haus zu Haus ziehen und dort um Unterschlupf für ein paar Tage bitten, ein frühes „Couchsurfing“ sozusagen.
Die Schlafgänger waren den Behörden bald ein Dorn im Auge. Ihnen wurden Gewaltverbrechen, Unmoral und vor allem die Verführung von Ehefrau und Kindern der abwesenden Vermieter vorgeworfen. Geschlechtskrankheiten verbreiteten sich, es kamen immer mehr uneheliche Kinder zur Welt, man fürchtete eine Verrohung der Sitten. So würden die Kinder von klein auf an „Liederlichkeit und Verkommenheit“ gewöhnt, hieß es. Die Schlafgänger und Untermieter wurden zudem verantwortlich gemacht für die verheerende Überbelegung vieler Arbeiterwohnungen. Soziale Vereinigungen gingen schließlich daran, vor allem in den großen Städten das „Schlafburschenunwesen“ zu bekämpfen. So auch in Weißensee, wo die Gemeinde von ihrem Baurat Carl James Bühring ein Ledigenwohnheim errichten ließ. 1913 eröffnete es an der Pistoriusstraße seine Pforten. Noch heute kann man an den gleichförmigen Fensterreihen zur Woelckpromenade hin ablesen, wie sich im Inneren die kleinen Zimmer längs der Flure aufreihten. Das Haus diente zwischenzeitlich als Gesundheitsamt, wird heute aber vom Verein zur Rehabilitation Behinderter wieder als Wohnheim genutzt.
Ausdruck einer neuen Lebensform
Zunächst waren die Junggesellenhäuser eine Reaktion auf ökonomisch prekäre Verhältnisse und gesellschaftliche Normen. Je stärker sich aber das Lebensgefühl änderte, desto stärker wurde das Ledigenwohnheim zum Ideal einer Avantgarde, die den großstädtischen Intellektuellen als neue Lebensform propagierte: Als „Mann mit dem Koffer“ brachte der Architekt und Stadtplaner Ludwig Hilberseimer den neuen Typus treffend auf den Punkt. Das Idealbild des großstädtischen, nomadenhaft von Ort zu Ort ziehenden Menschen, der losgelöst von materiellem Ballast, familiärer und nationaler Bindung ein modernes Leben führte, schlug sich auch in den Ar-chitekturdebatten der 20er Jahre nieder. Bruno Taut entwarf 1920 für die Schöneberger Neubausiedlung „Lindenhof“ ein modernes Ledigenheim mit avantgardistisch geschwungenem Grundriss, in dessen Zimmern der Komfort ganz bewusst auf den eines Studentenheimes beschränkt war. Gleichzeitig wies das Haus zentrale Gemeinschaftseinrichtungen auf, die den arbeitenden, alleinstehenden Großstädter in seinem Alltag entlasten sollten. Wegen Kriegsschäden wurde das Haus abgerissen.
Sehr augenfällig sind die Prinzipien des Neuen Bauens auch am Ledigenheim in Breslau, das 1929 von Hans Scharoun entworfen wurde. Große Fensterflächen und durchgängige Balkone bestimmen die Fassadenfront des Flachdachbaus im Grünen, der heute als Hotel genutzt wird.
Europas einziges noch im ursprünglichen Sinne betriebenes Ledigenwohnheim befindet sich in München in der Bergmannstraße. 400 Männer wohnen dort: Arbeiter, Angestellte, Auszubildende und Arbeitslose aus mehr als 26 Nationen. Das 1927 eröffnete gemeinnützige Haus ist eine Anlaufstelle für diejenigen, die sich eine reguläre Miete nicht leisten können. Auch immer mehr Rentner suchen hier eine Dauerbleibe. Mittlerweile dürfen auch verheiratete Männer einziehen, Damenbesuch auf den Zimmern ist aber wie vor hundert Jahren tabu.
In Hamburg hat sich derweil eine Initiative gebildet, die das dortige Ledigenwohnheim von 1912 in der Rehhoffstraße im ursprünglichen Sinne revitalisieren will. Die zentrale Lage und die niedrige Miete lassen das Ursprungskonzept des Ledigenhauses angesichts steigender Mietpreise und wachsender Zahl von Singlehaushalten wieder attraktiv werden, ist der Verein überzeugt. Während sich mancher Loftbewohner heutzutage gerne 120 Quadratmeter leistet, suchen andere nach Kleinstunterkünften, die sie noch bezahlen können.
Jens Sethmann
MieterMagazin 12/12
Stein gewordener Zeitgeist: Das von Bruno Taut entworfene Ledigenwohnheim in der Berliner Lindenhof-Siedlung
Trotz beengter Verhältnisse waren Familien gezwungen, an Schlafburschen unterzuvermieten
Fotos aus: Kurt Junghans: „Bruno Taut 1880-1938 – Architektur und sozialer Gedanke“
Deutschlands erstes Arbeiterwohnheim in der Charlottenburger Danckelmannstraße
Foto: Christian Muhrbeck
Heute als Hotel genutzt: Hans Scharouns Ledigenwohnheim von 1929 im damaligen Breslau (heute: Wroclaw/Polen)
Foto: Julo/Wikipedia
Gegen das „Schlafburschenunwesen“: Ledigenwohnheim von 1913 in der Pistoriusstraße in Weißensee
Foto: Christian Muhrbeck
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Untermieter stundenweise
Schlafburschen waren meist jüngere Schichtarbeiter, die wegen der immensen Wohnungsnot und ihres geringen Einkommens nur Bettstellen als Übernachtungsmöglichkeit mieten konnten. Für einige Stunden übernahmen sie ein Bett des Wohnungsinhabers, während dieser seine Schlafstatt nicht benötigte. Die übrigen Räume der Wohnung standen ihnen jedoch nicht zur Verfügung, und die Schlafburschen erhielten auch keine Verpflegung. Es waren meist ärmere Familien in sowieso schon beengten Verhältnissen, die gezwungen waren, ihre Betten zu vermieten, um so die Miete für ihre Wohnung aufbringen zu können. Um 1900 wurden in jeder zehnten Berliner Wohnung Betten an Schlafburschen vermietet. Im wohlhabenden, zu jener Zeit noch eigenständigen Charlottenburg gab es rund 8000 Schlafburschen.
js
27.01.2017