Wer mit wachen Augen durch die Stadt geht, wird vielerorts versteckte Zeichen und Botschaften finden, deren Urheber nicht auszumachen ist. Wer montiert überall in der Stadt kleine Korkmännchen auf Straßenschilder? Und warum? Ist es Kunst, wenn Verkehrspoller oder Baumstämme mit Wolle umstrickt werden? Was steckt hinter dem Trend, alte Turnschuhe über Laternenmasten zu hängen? Gemeinsam ist all diesen urbanen Phänomenen, dass die Akteure sich den öffentlichen Raum aneignen – in der Regel ohne sich um Erlaubnisse zu kümmern. Einige wollen provozieren, andere das Stadtbild verschönern und wieder andere haben eine im weitesten Sinne politische Botschaft.
Mitte der 90er Jahre tauchte er erstmals in Kreuzberg auf, der legendäre 6er-Maler. Seine Werke – die Ziffer 6 in weißer Farbe – prangen auf abgestelltem Sperrmüll, Plakatwänden, Müllcontainern und an vielen anderen Orten im öffentlichen Straßenland. Lange Zeit ging das Gerücht um, es handele sich um einen durchgeknallten Spinner. Irgendwann wurde seine Identität bekannt. Der 6er Maler nennt sich 4rtist.com und versteht sich – wie es sein Künstlername andeutet – als Straßenkünstler. Mittlerweile hat er in der ganzen Stadt nach eigener Aussage rund 650.000 Zeichen hinterlassen, wobei viele natürlich nur von kurzer Dauer sind. Er wolle damit die Leute anregen, über ihr Tun nachzudenken, sagt er. Viele Menschen würden immer nur das machen, was andere tun, statt auch mal etwas Ungewöhnliches zu wagen. Bis heute fährt er mit seinem Fahrrad, einem Farbeimer und Pinsel durch die Stadt und malt seine Sechsen, manchmal auch einfache Gesichter.
Während die Werke des 6er-Malers nicht zu übersehen sind – und manchem als Schmierereien gelten – fallen die kleinen Street-Yogis oben auf den Straßenschildern nur aufmerksamen Passanten auf. Die Korkmännchen, die verschiedene Yoga-Stellungen zeigen, haben dem Erfinder ungeahnte Popularität verschafft. „Mit einer solchen Resonanz hätte ich niemals gerechnet“, sagt Josef Foos. Bundesweit haben die Medien über ihn berichtet. Dabei hatte der Yogalehrer aus Neukölln ursprünglich mit „Urban Art“ nichts am Hut. Eher zufällig war er eines Tages auf die „Little People“ des britischen Streetart-Künstlers Slinkachu gestoßen. Der hatte seine bemalten Modelleisenbahnfiguren in den Straßen von London platziert. „Das war die Initialzündung, diese Figuren haben mein Herz angesprochen“, erklärt Josef Foos.
Rund 1500 Yogis hat er seit 2009 auf Straßenschilder geklebt. Längst ist er nicht nur in Neukölln und Umgebung unterwegs, sondern auch in Köpenick, Friedenau, und Marzahn. „Die meisten Leute freuen sich, wenn sie mich sehen, einige bedanken sich bei mir“, erzählt er. Um Werbung für Yoga geht es ihm bei seiner Aktion ebenso wenig wie ums Geschäftemachen. Zwar kann man die Street-Yogis seit kurzem auf seiner Website (www.street-yoga.de) bestellen.
Ärgerlich sind nur die Souvenirjäger
Doch das ist nur für Leute, die keine Geduld zum Selberbasteln haben, wie er betont. Und warum steckt er unzählige Stunden in das Basteln und Anbringen von Korkfiguren? Foos: „Mir macht es Spaß.“ Die Yogis sollen den Menschen Freude und Glück bringen und ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Nachahmer sind vom Künstler gerne gesehen. Ein Ärgernis seien jedoch die Souvenirjäger, die die Yogis klauen.
Von Josef Foos stammen auch die „Ghosties“ und ähnliche papierne Figuren, die über U-Bahn-Schächten angebracht werden. Immer wenn eine U-Bahn darunter durchfährt, steigen sie in die Höhe und bilden wilde Formen. Selbst für gehetzte Großstädter auf dem Weg zur U-Bahn ist dies ein magischer Moment. Dass sie meist nur einen Tag halten, tut der Sache keinen Abbruch. Es gehört nun mal zum Wesen der Street Art, vergänglich zu sein. Ärger mit dem Ordnungsamt hat Foos übrigens noch nie gehabt. Zwar ist es eigentlich nicht erlaubt, was er da tut. Aber da die Figuren sehr klein sind und nichts beschädigt wird, drückt die Verwaltung offenbar ein Auge zu.
Wie schmal der Grat zwischen erlaubtem und illegalem Tun im öffentlichen Raum ist, zeigt das Beispiel Stolpersteine. Mittlerweile kennt jeder die in den Bürgersteig eingelassenen Messingtafeln, die an die Opfer des NS-Regimes erinnern. In den Bezirken gibt es Koordinierungsstellen, und die Verlegung wird oft von einem öffentlichen Festakt begleitet. Doch die ersten Steine, die der Künstler und Bildhauer Gunter Demnig 1995 in Köln verlegte, wurden ohne Genehmigung der Behörden in den Boden geklopft. Es brauchte jahrelange Überzeugungsarbeit, bis die meisten Kommunen die Gedenktafeln im öffentlichen Raum erlaubten oder sogar aktiv unterstützten. In München sind sie bis heute untersagt. Gunter Demnig geht es bei dem Kunstprojekt darum, das Erinnern an die Ermordeten in den Alltag zu rücken. Anders als die großen Gedenkstätten, die man gezielt aufsuchen muss, begegnen einem die Stolpersteine im öffentlichen Straßenland. Sie machen einem somit sehr viel eindringlicher klar, dass im betreffenden Wohnhaus einst Nachbarn lebten, die deportiert und ermordet wurden.
Während man für die Stolpersteine den Blick nach unten heften muss, fallen die Geisterfahrräder selbst vorbeirasenden Autofahrern auf. Und das sollen sie auch. Die weiß gestrichenen Räder werden an Unfallstellen von tödlich verunglückten Radfahrern aufgestellt. Damit soll zum einen der Verstorbenen gedacht, zum anderen sollen alle Verkehrsteilnehmer zu mehr Rücksichtnahme ermahnt werden. Die Idee kommt ursprünglich aus den USA. 2003 wurde erstmals in St. Louis in Missouri ein „Ghostbike“ aufgestellt. In Berlin wurde die Aktion 2009 vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) aufgegriffen. „Das Feedback ist sehr positiv, doch leider gibt es an manchen Standorten extremen Vandalismus“, erklärt Jürgen Saidowsky, Koordinator für Verkehrssicherheitsprojekte beim ADFC. Das ist besonders traurig, weil es sich schließlich um Mahnmale handelt. Für die Angehörigen muss es schlimm sein, wenn das Rad kaputt getreten wird oder wenn das Schild, auf dem der Todestag steht, abgerissen wurde. „Manche Angehörige wollen grundsätzlich nicht, dass ein Geisterrad aufgestellt wird, weil sie nicht jedes Mal beim Vorbeigehen an den tödlichen Unfall erinnert werden wollen“, sagt Saidowsky. Die Aktion wird von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung unterstützt, das Aufstellen muss von den Bezirksämtern genehmigt werden.
Ewig verbunden – mit der Brücke
Viele andere Botschaften, denen man im öffentlichen Raum begegnet, sind dagegen illegal. Wobei manche gar keinen tieferen Sinn haben. Bestes Beispiel: die Liebesschlösser, die weltweit als Zeichen ewiger Verbundenheit an Brücken gehängt werden. Mittlerweile hat das Ganze ein solches Ausmaß angenommen, dass manche Städte den Brauch verboten haben. Auch in Berlin gilt es als Ordnungswidrigkeit, was natürlich nicht heißt, dass die Sache damit vom Tisch ist. In Paris musste unlängst sogar eine Brücke gesperrt werden, nachdem ein Teil des Geländers unter der Last der Schlösser zusammengebrochen war. Dort bildete sich eine Anti-Schlösser-Initiative zum Schutz der historischen Brücken.
Angeblich geht der Brauch zurück auf Absolventen der Sanitätsuniversität San Georgio in Italien. Als Symbol für das Ende ihrer Studienzeit hängten sie die Vorhängeschlösser ihrer Spinde an die Brücke und warfen die Schlüssel ins Wasser. Durch Auslandsreisen und dank sozialer Netzwerke verbreitete sich die Schlösser-Mode rasend schnell um die ganze Welt. Ob Amsterdam, Köln oder Ljubljana – überall findet man die Schlösser an allen möglichen und unmöglichen Orten.
Der Wurf verlangt Geschick
Das gilt auch für ein anderes Phänomen, das seit einigen Jahren die Welt erobert: Schuhe, die von Laternen oder Ampeln herunterbaumeln. „Shoefiti“, zusammengesetzt aus „shoe“ und „graffiti“ nennt man das. Um die Wurzeln ranken sich auch hier Legenden. Angeblich sollen schottische Männer seit jeher nach ihrer ersten Liebesnacht ihre Schuhe ins Fenster gehängt haben, sozusagen als Zeichen für den Verlust ihrer Unschuld. Nach anderen Quellen markieren Straßengangs in der Bronx mit baumelnden Schuhen ihr Revier. Auch in der Gegenwart hat das Ritual noch eine Bedeutung, etwa wenn amerikanische Rekruten am Ende des Militärdienstes ihre Stiefel über Zäune oder Kabel werfen. Doch die meisten Leute tun es einfach, weil sie es cool oder witzig finden. Übrigens gehört schon ein wenig Geschick dazu, die an Schnürsenkeln zusammengebundenen Treter so zu werfen, dass sie nicht gleich wieder herunterfallen. Es gibt einen – derzeit gesperrten – Blog, auf dem Menschen aus aller Welt Fotos und Theorien über die baumelnden Schuhe schicken. Doch was einige kreativ und witzig finden, betrachten andere als reinen Vandalismus. Gefährlich kann es werden, wenn die alten Treter über Stromleitungen geworfen werden.
Das „Urban Knitting“, auch „Guerilla Knitting“ genannt, konnte sich dagegen in Berlin nicht so recht durchsetzen. Dabei werden Laternenmaste, Parkuhren, Ampeln oder andere Gegenstände im öffentlichen Raum umstrickt. Je nach Anlass geht es darum, etwas zu verschönern, zu verfremden oder auch gegen etwas zu protestieren.
Graffiti war gestern, die Street Art hat sich weiterentwickelt und neue Formen gefunden, schreibt das Musikmagazin „Rolling Stone“. Neben Sprühdosen werden heute auch Frischhaltefolien, Schablonen und Mosaiken benutzt, um der Stadt einen Stempel aufzudrücken. Die Akteure wollen Zeichen setzen, zum Nachdenken anregen oder Alltägliches verfremden. Doch anders als der berühmte Banksy, dessen Schablonenbilder mittlerweile von Hausbesitzern mit Glasvitrinen vor Diebstahl geschützt werden, stehen die meisten Künstler immer mit einem Bein im Gefängnis. Der Berliner Senat empfiehlt Touristen selbstverständlich nur legal entstandene Werke als Fotomotiv – ganz so, als ob auch die Berliner Mauer mit behördlicher Genehmigung bemalt worden wäre.
Birgit Leiß
Tags: Jugendkultur oder Vandalismus?
Innenstadtbewohnern fallen die vollgekritzelten Haustüren und U-Bahn-Stationen meist gar nicht mehr auf, doch Besucher aus der Kleinstadt sind häufig fassungslos. Selbst Menschen, die Street Art aufgeschlossen gegenüber stehen, lehnen diese Schmierereien ab. Was bringt Leute dazu, ihre Namenskürzel auf Häuserwände zu sprühen? Welche Botschaft soll davon ausgehen?
Sogenannte Tags sind der Namensschriftzug eines Sprayers oder einer Gruppe, wobei in der Regel ein Pseudonym benutzt wird, etwa ein Spitzname oder eben ein Künstlername. Gelegentlich werden sie durch Zahlen, beispielsweise Hausnummern oder Postzustellbezirke erweitert. Der Begriff kommt vom englischen „tag“ (markieren, anheften). Tags werden als eine Art Copyright unter gesprühte Bilder gesetzt, aber auch als eigenständiges Motiv auf Wänden und Zügen angebracht.
„Tags dienen dazu, ein Territorium zu markieren und anderen Taggern zu signalisieren: Ich war hier“, heißt es in einem Graffiti-Online-Portal. Das Übersprühen von Tags gilt in der Szene als Beleidigung.
Oft seien Tagger junge Graffiti-Einsteiger oder Mitläufer, die sich auf das schnelle Hinterlassen ihrer Signatur beschränken, weiß man im Internet. Auf Technik werde nicht so geachtet beziehungsweise es fehle noch das handwerkliche Können. Von Ausnahmen abgesehen, komme es Taggern nicht so sehr auf künstlerische Qualität an, sondern vielmehr auf eine massenhafte Verbreitung.
Die Szene hat ein gespaltenes Verhältnis zu Tags. Kaum einer will sich öffentlich davon distanzieren, aber man weiß natürlich, dass die Kritzeleien in der Bevölkerung nicht gut ankommen. Der Ruf von Graffiti als Kunstform leidet dadurch. Für viele ist das Tagging jedoch ein legitimer Ausdruck der Jugendkultur.
Solche Feinheiten sind den Hausbesitzern verständlicherweise egal. Für sie sind die Schriftzüge auf Haustüren und Fassaden Vandalismus, der Jahr für Jahr Millionenschäden verursacht – allerdings mit rückläufiger Tendenz, wie der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) kürzlich bekannt gab.
bl
Graffiti anno 79 nach Christus
Der Mensch scheint ein tief verwurzeltes Bedürfnis zu haben, in seiner Umgebung Botschaften zu hinterlassen. Bereits im antiken Pompeji wurden Liebesschwüre wie „Sabina, der schöne Hermos liebt Dich“ in die Häuserfassaden geritzt. Aber auch derbere Sprüche fand man in der durch einen Vulkanausbruch verschütteten Stadt. Heute gelten die Kritzeleien aus dem Jahre 79 n. Chr. als erste Urform von Graffiti.
Auch Tagger sind keinesfalls ein Phänomen unserer Zeit. Bereits vor 200 Jahren wurde der Wiener Beamte Joseph Kyselak durch die merkwürdige Angewohnheit berühmt, in der Landschaft auf Felswänden und Bäumen seinen Namen einzugravieren. Ob er damit seine Reisen durch die Alpenländer für die Nachwelt dokumentieren wollte, ist unklar.
Eine ganz praktische Bedeutung hatten dagegen die grafischen Zeichen, die Landstreicher und Gauner im Mittelalter an Ortseingängen, Türen, Klostermauern und Brücken hinterließen. Diese „Zinken“, wie man sie ab dem 16. Jahrhundert nannte, gaben anderen Herumziehenden Hinweise darauf, wo sie einen Schlafplatz, eine gute Möglichkeit zum Betteln oder leichtes Diebesgut finden konnten.
Es war also eine Geheimsprache innerhalb der eigenen Gemeinschaft, die von der übrigen Bevölkerung nicht verstanden wurde. Die Zinken waren bis zum Ersten Weltkrieg weit verbreitet, verschwanden dann und tauchten vor einigen Jahren wieder in Österreich auf. Nach Erkenntnissen der dortigen Polizei werden die kleinen Markierungen von Einbrecherbanden bei der Auskundschaftung an Hauswänden, Briefkästen und Türen angebracht. Sie sollen signalisieren, ob sich ein Einbruch lohnt oder nicht. Auch in Berlin, etwa in Neukölln, sind die Zinken seit einigen Jahren zu finden.
Im religiösen Bereich gibt es ebenfalls zahlreiche Symbole. So versahen die frühen Christen während ihrer Verfolgung Hauswände und Eingangstüren mit einem geheimen Symbol: ein Fisch, eines der ältesten Symbole für Jesus Christus. Die christliche Glaubensgemeinschaft erfuhr auf diese Weise, wo sie Gleichgesinnte treffen und Schutz finden konnten. Eine Art Segensspruch ist dagegen das zusammen mit der Jahreszahl versehene „C+M+B“, das in katholischen Gegenden bis heute an jedem Haus zu sehen ist. Zwischen dem 27. Dezember und dem 6. Januar ziehen dort Sternsinger von Haus zu Haus und schreiben das Zeichen mit Kreide an die Haustür oder den Türbalken. Volkstümlich werden die drei Buchstaben als Kürzel für die Heiligen Drei Könige (Caspar, Melchior und Balthasar) verstanden, doch eigentlich stehen sie für die lateinischen Worte „Christus mansionem benedicat“ (Christus segne dieses Haus).
Bekannt sind auch die Steinmetzzeichen, mit denen Handwerker im Mittelalter ihre Werke kennzeichneten. Dabei handelt es sich um eine individuelle Signatur, die jedem Steinmetz nach seiner Ausbildung verliehen wurde. An vielen Bauten, vor allem Kirchen, sind die Steinmetzzeichen noch heute im Mauerwerk erkennbar.
bl
06.03.2015