Der Begriff Finanzialisierung wird in seiner allgemeinen Form als eine verstärkte Einflussnahme des Finanzsektors auf die Realwirtschaft mit ihren Waren und Dienstleistungen definiert. Darunter fallen immer mehr auch soziale Güter wie Wohnraum. Die Finanzbranche wandelt Wohnhäuser in abstrakte Finanzprodukte um und unterwirft sie den Mechanismen eines rein am Gewinn orientierten Finanzmarktes.
Um einen Zugang zur Auseinandersetzung mit der Finanzialisierung der Stadt zu öffnen, erkundeten die Stadtethnologin Kathrin Wildner und die Künstlerin Ines Schaber im Rahmen einer Projektreihe der „neuen Gesellschaft für bildende Kunst“ (nGbK) im Oktober gemeinsam mit Interessierten eine Weddinger Nachbarschaft. „Durch den Spaziergang wollen wir erörtern, ob Finanzialisierung etwas Sichtbares ist“, sagt Kathrin Wildner.
Der Weg führt entlang kürzlich erworbener Häuser des Unternehmens Albert Immo, gefolgt von einer Erkundung umliegender Straßenzüge in Kleingruppen. Schnell kommt der Verdacht auf, dass eine Kapitalanlage nicht mit luxuriöser „Aufwertung“ gleichzusetzen ist: Die Fassaden der Mietshäuser geben wenig Preis über ihre Geschichte und die Deals, die sich fernab der Gebäude abspielen. In einem der Häuser von Albert Immo befinden sich auf jeder Etage mehrere Einbohrungen über den Fenstern, die die Fassade etwas brüchig aussehen lassen. „… macht den Eindruck, dass sich Finanzialisierung hier eher daran zeigt, dass kein Cent mehr in die Instandhaltung fließt“, äußert ein Gruppenteilnehmer.
Können wir Finanzialisierung sehen?
Beim Gang auf die Rückseite des Hauses werden die Eindrücke durch Informationen eines dort angetroffenen Bewohners ergänzt: Das Gebäude ist seit Jahren unsaniert, manche Wohnungen im Vorderhaus haben keine Badezimmer. Doch im Nebengebäude wurde kurz nach dem Kauf mit Sanierungen begonnen, die schon Monate andauern. Ein Antrag auf Umwandlung in Eigentumswohnungen wurde genehmigt und veranlasst Mieter zu der Vermutung, dass ein weiterer Besitzerwechsel nicht unwahrscheinlich ist.
Besonders wenn Eigentümer unbekannt sind, wirft die gemeinsame Begehung und Einordnung der Eindrücke Fragen auf. An einer Ecke: ein unscheinbarer Altbau. Die Fassade in schlichtem Grau – verziert mit ein paar alten und unlesbaren Graffiti. Zwei Schritte weiter: ein strahlendes Haus, mit begrüntem Innenhof und frisch lackierten Holzfensterläden, im Erdgeschoss ein „Blumen-Concept Store“. Das Schaufenster vermittelt, dass hier mit Terminvergaben statt Öffnungszeiten gearbeitet wird. „Ist der schicke Komplex ein sichtbares Zeichen von Finanzialisierung?“, fragt jemand. „Ich glaube, ich habe gehört, dass der Gebäudekomplex einem sozialen Träger gehört und die Mieten bezahlbar sind“, sagt ein anderer mit Achselzucken.
Der ethnographisch gedachte Spaziergang regt dazu an, mit offenen Augen durch die Straßen unserer Kieze zu gehen, den Ort bewusst und in all seinen Facetten und Widersprüchen wahrzunehmen. Wir sehen ein marodes Haus mit teilweisem Leerstand und hören, dass es kürzlich verkauft wurde. Wir tasten uns durch Austausch von Informationshäppchen zur Eigentümerstruktur und Investitionsvorhaben, „schmecken und riechen, dass etwas nicht stimmt“, quasi ein Ermittlungsvorgang mit den Sinnen. Daraus entwickelt sich schließlich die Möglichkeit, neue Perspektiven und Forderungen auszuloten, die jenen Dynamiken entgegenwirken, die uns das Verständnis von Wohnraum als Finanzprodukt beschert haben.
Vera Colditz
Die X-Properties Projektreihe
„X-Properties – Zur De-/Finanzialisierung der Stadt“ ist ein Rechercheprojekt der neuen Gesellschaft für bildende Kunst („nGbK“) und untersucht Veränderungen im Stadtraum, die das Finanzkapital im Berliner Wohnungsmarkt verursacht. Das Ziel ist die Entwicklung einer kollektiven Perspektive, die eine der Finanzialisierung entgegenstehende wünschenswerte Stadt formuliert. Die Reihe besteht aus einer Verbindung umfangreicher Recherchen mit Kunstprojekten, Talk-Runden, Workshops und angeleiteten Stadtführungen. Als Begleitheft ist eine Ausgabe der Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt erschienen.
vc
www.ngbk.de
05.12.2022