Vor 50 Jahren starb der Architekt Hans Scharoun. Ihm verdankt Berlin nicht nur die Philharmonie und die Staatsbibliothek am Kulturforum, sondern auch eine Reihe wegweisender Wohnhäuser.
Im September 1893 in einer Bremer Kaufmannsfamilie geboren und aufgewachsen in Bremerhaven war Scharouns ganzes Leben vom Hafen geprägt. Die Gebäude, die er entworfen hat, zeigen immer wieder Schiffsmotive: geschwungene Wände, die an einen Schiffsbug erinnern, bullaugenartige runde Fenster oder Balkonbrüstungen, die wie eine Reling aussehen.
Ein Architekturstudium begann Scharoun 1912 an der Technischen Hochschule Berlin, musste es aber abbrechen, als er 1915 zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Eingesetzt wurde er in einem Militär-Baubüro in Ostpreußen. Nach dem Krieg blieb er in Insterburg und arbeitete dort als Architekt, obwohl er sein Studium nicht abgeschlossen hatte. Zu den Bauhaus-Architekten in Weimar und Berlin pflegte er Kontakt, und mit Wettbewerbsbeiträgen machte er auf sich aufmerksam. 1925 wurde er an die Kunstakademie in Breslau berufen.
Mit einem Einfamilienhaus beteiligte er sich an der Bauausstellung des Deutschen Werkbundes, die 1927 in Stuttgart stattfand. Mit der Mustersiedlung am Weißenhof wollten 16 Architekten zeigen, dass „die Probleme der neuen Wohnung nur von der veränderten materiellen, sozialen und geistigen Struktur unserer Zeit aus zu begreifen sind“. Die Häuser erregten mit ihren flachen Dächern und glatten weißen Wänden Aufsehen und wurden von konservativen Kritikern als „Araberdorf“ verspottet.
Die Wohnheime: modern, durchdacht, komfortabel
In den folgenden Jahren machte Scharoun mit Ledigenwohnheimen von sich reden. Neben einer großen Anlage in Breslau entstanden von 1929 bis 1931 drei solcher Apartmenthäuser in Berlin. Vor allem die Gebäude am Kaiserdamm und am Hohenzollerndamm zeichnen sich durch moderne Formen, durchdachte Grundrisse und ihren Wohnkomfort aus. Der zahlungskräftigen Bewohnerschaft – darunter nicht nur Ledige, sondern auch Paare – standen Dienstleistungen wie in den großen Hotels zur Verfügung.
Seit dieser Zeit konzentrierte Scharoun seine Arbeit auf den Wohnungsbau in Berlin. Der Architekturkritiker Werner Hegemann nannte ihn ein „wirres Kraftgenie“. Vorläufiger Höhepunkt seines Schaffens war die 1929 bis 1931 gebaute Ring-Siedlung in Siemensstadt, benannt nach dem Architektenzusammenschluss „Der Ring“, der die Großsiedlung gemeinsam geplant hatte. Scharoun entwarf dabei den Siedlungsplan sowie die markanten Wohnblocks am Eingang der Siedlung. Die Gebäude erinnerten mit Dachterrassen, Sonnendecks, Balkongondeln und halbrunden Einschnitten so sehr an ein Schiff, dass der Kopfbau am Jungfernheideweg im Volksmund „Panzerkreuzer“ genannt wurde, obwohl er mit seiner weißen Farbe eher wie ein friedlicher Passagierdampfer erscheint.
Mit der NSDAP-Machtübernahme wurden die modernen Architekten zunehmend angegriffen. Das Neue Bauen verunglimpften die Nazis als „kulturbolschewistisch“. Seine bekanntesten Vertreter wie Bruno Taut, Walter Gropius, Martin Wagner, Ernst May oder Ludwig Mies van der Rohe flüchteten ins Exil. Währenddessen blieb Hans Scharoun in Deutschland und versuchte sich mit privaten Aufträgen über Wasser zu halten. Die neuen Machthaber schrieben traditionelle Bauformen und eine „anständige Baugesinnung“ vor. Um den Vorgaben zu entsprechen, zeigen die Einfamilienhäuser, die Scharoun in dieser Zeit entworfen hat, zur Straße eine biedere Fassade mit Satteldach und Fensterläden. Zum Garten hin öffnen sich die Häuser aber mit großen Fensterfronten, geschwungenen Wänden und ausladenden Terrassen. Als 1939 der Krieg begann, brachen auch diese Aufträge weg. Gleich nach der Kapitulation wurde er am 17. Mai 1945 vom sowjetischen Stadtkommandanten Bersarin zum Berliner Stadtbaurat ernannt.
Stadtbaurat auf Bersarins Geheiß
Wie viele Architekten seiner Zeit betrachtete Scharoun die massiven Zerstörungen als Chance: „Die mechanische Auflockerung durch Bombenkrieg und Endkampf gibt uns jetzt die Möglichkeit einer großzügigen organischen und funktionellen Erneuerung“, sagte er 1946. Er bildete ein achtköpfiges Planungskollektiv aus Architektinnen und Architekten, Ingenieuren und Gartenplanern, das sofort mit einer Gesamtplanung für ein „Neues Berlin“ begann. Die Stadt sollte eine radikal neue Struktur erhalten: Entlang der Spree wollte man parallel liegende Funktionsbänder anordnen, die säuberlich nach Wohnen und Arbeiten getrennt waren. Hohe und niedrige Wohngebäude sollten locker in die „Stadtlandschaft“ hineingestreut werden. Wegen seiner völligen Abkehr vom bisherigen Berliner Stadtgefüge wurde der 1946 vorgestellte „Kollektivplan“ als utopisch und undurchführbar kritisiert.
Mit seinem Kollektiv arbeitete er aber dennoch weiter an einem detaillierten Plan für eine „Wohnzelle Friedrichshain“. Dieses Wohnquartier wurde jedoch nur bruchstückhaft verwirklicht, bevor Ost-Berlin 1950 an der Stalinallee auf eine ganz andere Architektursprache umschwenkte.
Scharoun bekam in diesen Jahren den Ruf eines Architekten, der viel philosophiert, aber nicht baut. Das änderte sich 1955, als er von der Wohnungsbaugesellschaft GSW den Auftrag zur Erweiterung der Siemensstadt in Charlottenburg-Nord erhielt. Hier konnte er Teile seiner Wohnzellen-Idee umsetzen. Die abgewinkelten Häuserzeilen verschiedener Höhen bilden „Wohngehöfte“, die nachbarschaftliche Grünanlagen umschließen.
1960 wurde der Grundstein für die Philharmonie im Kulturforum gelegt. Das 1963 fertiggestellte Konzerthaus mit dem schwungvollen Dach und hervorragender Akustik gilt als das Hauptwerk Scharouns. Weil das Dach an ein Zelt erinnert, bekam die Philharmonie den volkstümlichen Beinamen „Zirkus Karajani“ – benannt nach dem Chefdirigenten Herbert von Karajan.
Eine ganze Reihe von Großprojekten wurde in den 60er Jahren begonnen: Ein Wohnhochhaus am Zabel-Krüger-Damm, das Architektur-Gebäude der Technischen Universität am Ernst-Reuter-Platz und die AOK-Verwaltung am Mehringplatz, dessen Ringbebauung ebenfalls auf Scharoun zurückgeht. Die Fertigstellung der Staatsbibliothek am Kulturforum hat Scharoun nicht mehr miterlebt. Er starb am 25. November 1972 in Berlin. Begonnene Projekte wie der Kammermusiksaal und das Musikinstrumentenmuseum wurden von seinen Mitarbeitern vollendet.
Jens Sethmann
Architektonischer Überzeugungstäter
Ein häufiger Vorwurf an die Architekten von Großwohnsiedlungen lautet, dass sie selbst nie in den von ihnen entworfenen Häusern wohnen würden. „Einer von den Brüdern müsste mal gezwungen werden, in den eigenen Häusern zu hausen, in den hochgelobten Wohnungen hier, die so fortschrittlich sind“, forderte 1972 eine Bewohnerin des Märkischen Viertels. Hans Scharoun wohnte wirklich in seinen Häusern. Nach der Fertigstellung der Siemensstadt bezog er 1930 mit seiner Frau Aenne eine Wohnung im Jungfernheideweg 4. Es war die erste gemeinsame Wohnung der schon fast zehn Jahre verheirateten Eheleute. Vorher ist Scharoun zwischen Berlin, Breslau und Bremerhaven gependelt und hat meistens in seinen Büroräumen gewohnt. 1960 zog Hans Scharoun einen knappen Kilometer ostwärts in ein ebenfalls selbst geplantes Haus in Charlottenburg-Nord: Mit seiner zweiten Frau Margit bewohnte er im Heilmannring 66 a eine Atelierwohnung im Dachgeschoss. In einer Nachbarwohnung richtete er sich sein Büro ein. Scharoun war also als Wohnungsbau-Architekt ein Überzeugungstäter.
js
Literatur:
Hoh-Slodczyk/Huse/Kühne/Tönnesmann: Hans Scharoun. Architekt in Deutschland 1893 bis 1972, Verlag C.H. Beck, München 1992
Geist/Kürvers/Rausch: Hans Scharoun. Chronik zu Leben und Werk, Akademie der Künste, Berlin 1993
14.01.2023