Das Märkische Viertel im Norden Berlins ist immer für Emotionen gut: Vor 20 Jahren schoss „Mein Block“ des Rappers Sido in die deutschen Musik-Charts. Das Stück, Berliner Gangsta-Rap, Nabelschau eines Underdogs, hatte die Plattenbauten der Trabantenstadt zur Kulisse. Entstanden war das Viertel in den 60er und 70er Jahren. In der Riege der Planer und Architekten taucht nur eine einzige Frau auf: Astra Zarina.
Aus den letzten Kriegswirren konnte die Familie von Astra nach Österreich an den Weißensee flüchten. Nach Kriegsende, 18 Jahre alt, begann sie ein Studium bei Egon Eiermann in Karlsruhe, bis zum Vordiplom 1949.
Es folgten große Entwicklungsschritte in den USA: ein gefeierter Bachelor-Abschluss an der University of Washington, zum Masterstudium bewarb sie sich in Harvard am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und am Illinois Institute of Technology – den renommiertesten Architekturuniversitäten der Staaten, wenn nicht der Welt. An beiden Hochschulen wurde sie angenommen. Sie entschied sie sich für das MIT und schloss dort 1956 mit Auszeichnung ab. 1960 führte sie ihr Weg zu Minoru Yamasaki, dem späteren Planer des World Trade Centers, der seine Utopien damals aber auf erdnähere Projekte richtete und einmal auch scheiterte: Seine 1956 fertiggestellte Sozialsiedlung Pruitt-Igoe in St. Louis wurde 1972 als misslungenes Experiment gesprengt, die Sozialstruktur schien nicht mehr zu retten – Vorbild für den futuristischen Film „Koyaanisqatsi“.
So schlimm steht es mit dem Märkischen Viertel heute nicht. Die Zahl der Diebstähle, der Raubüberfälle hat sich in den letzten zehn Jahren halbiert, aber im Gespräch mit den Jugendlichen dort wird klar: Das MV ist und bleibt die perfekte Kulisse für den Rap über Gewalt und Drogen: „Jeder will hier raus. Will Erfolg. Etwas Besseres.“ Auch Sido lebt längst mit Frau und Kindern hinterm Gartenzaun eines Berliner Vorort-Hauses.
1963 stellte sich Astra Zarina zusammen mit ihrem Mann, dem Architekten Douglas Phillip Haner, in Berlin als Architektin für das Märkische Viertel vor. In der Aufstellung der Planungskommission um Werner Düttmann, dem damaligen Berliner Senatsbaudirektor und den Architekten Georg Heinrichs sowie Hans Christian Müller kommt ihr Name nicht vor, nur Haner, ihr Mann. Für 1148 Wohnungen ist ihr Entwurf gedacht, in vierter Rangfolge hinsichtlich des Umfangs, an nordöstlicher Stelle – die Mauer ragt wie eine Speerspitze in das Gebiet. 1968 zerbrach Zarinas Ehe während der Projektphase, und sie zerbrach fast am Projekt.
Die heiligen drei Könige der Berliner Stadtplanung
Nach der Scheidung blieb sie allein für die Wohnungsplanung verantwortlich, zwei männliche Architekten stellt man ihr „zur Seite“. Haner schied also früh aus. Und dennoch: Genannt wurde er, der Name Zarina fehlte selbst noch in einer Broschüre des Senats von 1972 zum Märkischen Viertel, die alle Architekten und ihre Wohnbauprojekte ausführlich würdigte – die ausländischen Kollegen sogar hervorgehoben. Nur: Astra Zarina ist nicht genannt. Sie wehrte sich auf ihre Art und zeichnete einen bitterbösen Comic auf italienisch, das sie nach einem Stipendium der American Academy in Rom beherrschte. Da sind im Comic die Heiligen Drei Könige Werner Düttmann, Georg Heinrichs und Hans Christian Müller. Sie rufen: „Wir suchen junge Architekten! Unbekannte! Mit neuen Ideen! Lass uns eine Stadt bauen, eine große, für 60.000 Einwohner – möchtest du 1000 Wohnungen bauen?“ Zarina plante eingeschossige Ladenzeilen vor den zurückgesetzt platzierten Mehrgeschossern. Die Zugänge wurden über Brücken erschlossen, die Parkplätze sollten tiefer liegen. Viel zu avantgardistisch! Also noch mal von vorne, ein neuer Entwurf. Geschäfte werden nicht benötigt, man kaufe im Einkaufszentrum, wo auch gleich das Café wartet.
Den zweiten Entwurf prägte eine filigrane Form, mit begehbaren, sehr großen Dachgärten – inspiriert durch Rom. Den Drei Königen ist es immer noch nicht gut genug: „Das sind Sozialwohnungen, weißt du?“ Sie: „Aber Dachgärten? Penthaus? Ateliers? Unter all den Leuten soll es niemanden geben, der ein großes quadratisches Zimmer möchte? … ein Maler, Fotograf, Architekt?“ Die Heiligen Drei Könige: „Die wenigen Leute dieser Art – falls es sie gibt – werden an einem Ort untergebracht!“ Zarina ist empört: „Dort, wo ich jetzt wohne, ist Platz für alle und alles, Schuhmacher, Obstverkäufer, Prinzessinnen, Maler, einige Schauspielerinnen … es gibt Bars, Restaurants, Reinigungen, Buchläden sogar einen Ausstopfer … es fühlt sich gut an … warum versuchen wir es nicht auch hier?“ „Du bist eine Romantikerin, Du musst mit der Zeit gehen! Die Leute dürfen keine Sonderwünsche haben.“ Zum Ende des Comics, grimmig, doch ohne Erfolg, demonstrieren Familien gegen die Hochhausschachteln, da bleibt die Architektin unter einem großen Fragezeichen stehen. Sie beschreibt, wie Heinrichs, Müller und Düttmann immer wieder ihre Ideen kippen und stattdessen das Projekt mit ihren Normierungen füttern. Geblieben ist von Astra Zarinas Ideen ihr Farbkonzept, klares Blau, klares Gelb, klares Rot, für den Sockel und den Dachstuhl – in einer Wohnanlage, die keine Verbindung zur Außenwelt hat, zum Leben auf einer Straße, einer Straße wie in Rom.
Ihr weiteres Schaffen unterstellte Astra Zarina einem geraden höchst aktuellen Gedanken: Es sollte nicht mehr um „höher, schneller, weiter“ in der Architektur gehen, sondern um den Erhalt. Die Architektin pendelte als Lehrende zwischen Rom und der Washington University. Und sie konnte ihre Auffassung von Architektur und Städteplanung, sicherlich auch geprägt durch die Erfahrungen im Märkischen Viertel, in der New York Times und der Cosmopolitan publik machen. Ihre Studierenden aus Washington nahm sie mit nach Rom und brachte sie erstmal in der eigenen Wohnung unter. Allen Studierenden wurde jeweils eine Rione, ein Stadtteil zugeteilt, der erforscht werden sollte. Erhalt der Substanz, der Historie, das sind ihre wichtigsten Paradigmen. Von 1984 bis 1994 war sie Direktorin des neuen „Rome Center“ der Washington University und feste Professorin. Gleichzeitig war sie eine Handwerkerin, die sich um jeden historischen Fenstergriff kümmerte.
Das Lebensprojekt Civita di Bagnoregio
Und dann das sterbende, mittelalterliche Bergdorf, Civita di Bagnoregio, unweit von Orvieto, etruskisch-römisch geprägt. Und gerettet von Astra. Heute kommen bis zu 3000 Touristen täglich dorthin. 1981 hatte die Architektin The Civita Institute gegründet: Lehre und kultureller Austausch zwischen Italien und den USA waren die Triebfeder – und die Restaurierung des sterbenden Bergdorfes, zusammen mit ihrem zweiten Mann Anthony Costa Heywood. Nicht der viel gepriesene kühne Entwurf charakterisiert ihre Auffassung von Architektur, es ist die Liebe zu den Menschen, die Liebe zum Leben. In Civita findet Astra Zarina am 31. August 2008 ihre letzte Ruhe.
Silke Kettelhake
Nachgebessert
Zwischen 2008 und 2015 investierte die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Gesobau insgesamt 560 Millionen Euro in 13.500 Wohnungen. In den 18.000 Wohnungen insgesamt leben 45.000 Menschen. Nach 2020 gab die Gesobau noch einmal 30 Millionen Euro für die Aufwertung und Neugestaltung der Außenanlagen aus: 53 modernisierte Spielplätze, Pflanzungen, Fuß- und Radwege, Beleuchtungen, Beschilderungen sowie Treffpunkte für Anwohner:innen aller Altersklassen wurden zeitgemäß überarbeitet und teils neu geschaffen. Nicht zu vergessen: Das Märkische Viertel ist Deutschlands erste und heute noch größte Niedrigenergiesiedlung dank eines Biomasse-Heizkraftwerks, das gleichzeitig den CO2-Ausstoß um über 90 Prozent verringerte. Möglicherweise ist das Märkische Viertel damit 50 Jahre nach seiner Entstehung den Vorstellungen Zarinas ein Stück näher. Auf dem Weg hierhin musste das Viertel in der Öffentlichkeit und den Medien aber auch Jahrzehnte als Prototyp der betongrauen und menschliche Bedürfnisse zurückweisenden Schlafstadt herhalten.
eska
27.11.2024