Leitsätze:
a) Aus dem Umstand, dass der generalklauselartige Kündigungstatbestand des § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB den in Absatz 2 dieser Vorschrift beispielhaft genannten Kündigungsgründen gleichgewichtig ist, folgt nicht, dass bestimmte – in Absatz 2 nicht aufgezählte – Fallgruppen eines Vermieterbedarfs von vornherein ein berechtigtes Interesse an der Kündigung des Mietverhältnisses begründeten (im Anschluss an Senatsurteil vom 29.3.2017 – VIII ZR 45/16, Rn. 24).
b) Die Beurteilung der Frage, ob ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses im Sinne von § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB vorliegt, erfordert vielmehr eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und eine umfassende Abwägung der gegenseitigen Belange (im Anschluss an Senatsurteil vom 29.3.2017 – VIII ZR 45/16, aaO Rn. 35). Auch ein von einem Vermieter verfolgtes gemeinnütziges, vornehmlich ein karitatives Nutzungsinteresse kann im Einzelfall ein Gewicht erreichen, das es rechtfertigt, trotz der hiermit für den Mieter verbundenen Nachteile dem Erlangungsinteresse des Vermieters den Vorzug zu geben.
c) Bei der gebotenen Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass sowohl die Rechtsposition des Vermieters als auch das vom Vermieter abgeleitete Besitzrecht des Mieters von der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt sind (im Anschluss an Senatsurteil vom 29.3.2017 – VIII ZR 45/16, aaO Rn. 25; BVerfGE 89, 1, 6 ff.; BVerfG, NJW 2000, 2658, 2659; NJW-RR 2004, 440, 441; NZM 2011, 479 Rn. 29). Vom Schutzbereich der verfassungsrechtlich verbürgten Eigentumsgarantie des Vermieters ist dabei nicht nur dessen Wunsch erfasst, die Wohnung zu privaten Zwecken zu nutzen, sondern auch dessen Absicht, sie für andere Vorhaben, insbesondere für eine wirtschaftliche Betätigung, zu verwenden (im Anschluss an BVerfGE 79, 283, 289 [„Grundlage privater und unternehmerischer Initiative“]; BVerfG, NJW 1998, 2662 [„wirtschaftliche Betätigung“]).
d) Bei der Abwägung der gegenseitigen Interessen im Rahmen der Beurteilung, ob ein berechtigtes Interesse für die Kündigung vorliegt, sind im Hinblick auf die vom Gesetzgeber eigens geschaffene Härteregelung des § 574 BGB aufseiten des Mieters allerdings – im Gegensatz zu den Vermieterinteressen, die vollständig einzufließen haben – (nur) die unabhängig von seiner konkreten Situation bestehenden Belange in die Abwägung einzustellen, also das generell bestehende Interesse, die Wohnung und damit den Lebensmittelpunkt nicht zu verlieren und nicht mit den unbeträchtlichen Kosten und anderen erheblichen Unzuträglichkeiten belastet zu werden, die ein Wohnungswechsel in der Regel mit sich bringt. Die besonderen Belange des Mieters im Einzelfall (individuelle Härte) sind erst auf Widerspruch des Mieters im Rahmen der Beurteilung, ob der Mieter die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen kann, zu berücksichtigen (im Anschluss an Senatsurteil vom 29.3.2017 – VIII ZR 45/16, aaO Rn. 49 mwN).
e) Auch wenn sich allgemein verbindliche Betrachtungen hinsichtlich der vorzunehmenden Einzelfallabwägung verbieten, ist zu beachten, dass die typisierten Regeltatbestände des § 573 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 BGB einen ersten Anhalt für die erforderliche Interessenbewertung und -abwägung geben. Die Anforderungen an das Vorliegen eines berechtigten Erlangungsinteresses des Vermieters hängen daher davon ab, ob der geltend gemachte Kündigungsgrund eine größere Nähe zum Eigenbedarfstatbestand oder zum Tatbestand der Verwertungskündigung aufweist (im Anschluss an Senatsurteil vom 29.3.2017 – VIII ZR 45/16, aaO Rn. 38 ff.).
BGH vom 10.5.2017 – VIII ZR 292/15 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 27 Seiten]
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Der Mieter bewohnt seit dem 1.7.1996 eine in einem Mehrfamilienhaus gelegene Wohnung. Der auf Räumung klagende Vermieter ist ein Verein. Er ist an einer Gesellschaft beteiligt, die Trägerin verschiedener sozialer Einrichtungen ist. Die Gesellschaft plant, den Gebäudekomplex mithilfe staatlicher Fördermittel zu sanieren und für ein soziales Wohnprojekt umzugestalten. Insgesamt sollen 23 Wohnplätze sowie eine Tischlerei und eine weitere Werkstatt entstehen. Die Kosten für das Projekt sollen über mit den zuständigen Kostenträgern zu vereinbarende Vergütungen für – in ihrer Höhe von der Anzahl der Wohngruppenplätze abhängige – sozialpsychiatrische Leistungen finanziert werden, zu denen auch ein Investitionsbetrag nach §§ 75 ff. SGB XII pro Tag und Wohnplatz zählt. Der Vermieter will das Grundstück an die Gesellschaft vermieten.
Der vermietende Verein kündigte unter Darlegung des beschriebenen Projekts das – zu diesem Zeitpunkt allein noch bestehende – Mietverhältnis mit den Mietern gemäß § 573 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 BGB. Dabei machte er unter anderem geltend, ohne die Beendigung des allein noch bestehenden Mietverhältnisses könne das geplante Arbeits- und Lebensprojekt nicht realisiert werden, denn die Zahlung eines Investitionszuschusses von 2,1 Mio. Euro sei unabdingbar verbunden mit den neuen Wohnplätzen, die in dem Wohngebäude eingerichtet werden sollten. In der gekündigten Wohnung seien drei Wohnplätze vorgesehen.
Die Mieter widersprachen der Kündigung und machten geltend, ein Kündigungsgrund liege nicht vor. Zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht war mit der Umsetzung des Projekts auch im Wohnhaus bereits begonnen worden. Es wurden nicht nur das Nebengebäude, sondern auch einzelne Räume des Wohnhauses nach ihrer Sanierung schon genutzt.
Der BGH hält die Kündigung für unwirksam. Der Vermieter habe kein berechtigtes Interesse, das Mietverhältnis zu beenden.
Der Vermieter würde durch die Fortsetzung des Mietverhältnisses mit den Mietern – selbst wenn man ihm zusätzlich zu seinen wirtschaftlichen Interessen die Berufung auf die von der Gesellschaft verfolgten gemeinnützigen Interessen gestattete – keinen Nachteil „von einigem Gewicht“ erleiden. Damit überträgt der Senat seine im Urteil vom 29.3.2017 (– VIII ZR 45/16 –) entwickelte Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Anwendung der Generalklausel des § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB bei einem Geschäftsbedarf des Vermieters auf weitere Fälle des Nutzungsbedarfs des Vermieters.
Auch im nun entschiedenen Fall war einer der typisierten Regeltatbestände des § 573 Abs. 2 BGB nicht einschlägig. Der vom Vermieter zusätzlich zur Generalklausel nach § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB benannte Kündigungstatbestand der Verwertungskündigung (§ 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB) setze voraus, dass der Vermieter durch den Fortbestand des Mietverhältnisses an einer Realisierung des dem Grundstück innewohnenden materiellen Werts, was in erster Linie durch Vermietung und Veräußerung geschieht, gehindert sei. Nach eigenen Angaben hege der Vermieter jedoch überhaupt nicht die Erwartung, durch die Vermietung des – nach der Sanierung im Wert gestiegenen – Grundstücks an die Gesellschaft höhere Mieteinnahmen zu erzielen, sondern verfolge vielmehr die Absicht, das Anwesen der gewerblichen Nutzung zur Umsetzung eines sozialpolitisch erwünschten Zwecks zuzuführen. Damit scheide schon mangels wirtschaftlicher Verwertungsabsicht eine Verwertungskündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB aus.
Bei Anwendung der danach allein noch in Betracht kommenden Generalklausel des § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB verlange das Gesetz eine einzelfallbezogene Feststellung und Abwägung der beiderseitigen Belange der betroffenen Mietvertragsparteien.
Wenn das Interesse des Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses eine größere Nähe zum Eigenbedarf aufweise, reiche es regelmäßig aus, dass die Vorenthaltung der Mieträume für den Vermieter einen beachtenswerten Nachteil begründe. Sei das angeführte Interesse dagegen mehr mit der von § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB erfassten wirtschaftlichen Verwertung vergleichbar, müsse der Fortbestand des Mietvertrages für den Vermieter einen Nachteil von einigem Gewicht darstellen.
Im vorliegenden Fall wolle der Vermieter die Räume zwar aus Gründen der Gemeinnützigkeit Wohnzwecken zuführen und den Bewohnern eine Betreuung zukommen lassen. Dieses Nutzungsinteresse bleibe allerdings deutlich hinter dem Interesse beim Eigenbedarf zurück. Zudem verfolge der Vermieter eigene wirtschaftliche Interessen (Kostenersparnis bei der Sanierung) und sei als Gesellschafter an einem möglichen Gewinn beteiligt.
Alles in allem sei das Interesse des Vermieters näher an einer Verwertungskündigung als am Eigenbedarf. Er müsste daher einen Nachteil von einigem Gewicht darlegen können. Dies könne der Vermieter indes nicht, zumal das Projekt nicht gefährdet sei, wenn das Mietverhältnis fortgesetzt werde. Eine Folge sei lediglich, dass drei der geplanten 23 Wohnplätze nicht geschaffen werden könnten.
21.08.2017