Leitsatz:
Im Wohnraummietrecht reicht eine Zerrüttung des Mietverhältnisses im Sinne einer Zerstörung der das Schuldverhältnis tragenden Vertrauensgrundlage allein, ohne dass festgestellt werden kann, dass diese zumindest auch durch ein pflichtwidriges Verhalten des anderen Vertragsteils verursacht worden ist, grundsätzlich nicht aus, um einer Mietvertragspartei ein Recht zur außerordentlichen fristlosen Kündigung des Mietverhältnisses gemäß § 543 Abs. 1 BGB zuzubilligen.
BGH vom 29.11.2023 – VIII ZR 211/22 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 15 Seiten]
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Vermieter und Mieter wohnten im selben Mehrfamilienhaus. Das Mietverhältnis darf man tatsächlich als „zerrüttet“ bezeichnen: Seit dem Jahr 2014 kam es zwischen den Parteien zu regelmäßigen Auseinandersetzungen wegen angeblicher beidseitiger Vertragsverletzungen, wie etwa Verstößen gegen die Haus- und Reinigungsordnung, Lärmbelästigungen, fehlerhaftem Befüllen und Abstellen von Mülltonnen sowie Zuparken von Einfahrten. In einem auch an eine im Haus lebende Familie türkischer Abstammung gerichteten Schreiben erklärten die Vermieter – nach den Feststellungen des Berufungsgerichts inhaltlich unzutreffend –, die Mieter hätten sich rassistisch über Ausländer geäußert.
Im Mai 2020 erstatteten die Mieter eine Strafanzeige gegen die Vermieter wegen Verleumdung, in der sie unter anderem angaben, die Vermieter hätten behauptet, die Mieter hätten sich rassistisch über türkischstämmige Mitbürger geäußert. Ferner hätten die Vermieter die Mutter des einen Mieters aufgrund der Anzahl ihrer Kinder als „asozial“ bezeichnet. Die Vermieterin habe den Mitmieter zudem mit den Worten „Du Penner“ beleidigt und sich im Treppenhaus schreiend über das mangelnde Putzverhalten der Mieter diesen gegenüber geäußert. Darüber hinaus parke die Vermieterin die von den Mietern angemietete Garage regelmäßig absichtlich zu.
Wegen dieser Strafanzeige und des „zerrütteten“ Mietverhältnisses erklärten die Vermieter die außerordentliche fristlose Kündigung des Mietverhältnisses.
Amts- und Landgericht wiesen die Klage ab. Der BGH sah für die Revision der Vermieter keinen Erfolg.
Das Berufungsgericht habe frei von Rechtsfehlern angenommen, dass die Zerrüttung des Mietverhältnisses und die von den Mietern gegen die Vermieter erstattete Strafanzeige die von den Vermietern erklärte außerordentliche fristlose Kündigung nicht rechtfertigen können. Ein wichtiger Kündigungsgrund im Sinne der § 543 Abs. 1 Satz 2, § 569 Abs. 2 BGB sei nicht gegeben.
Im Wohnraummietrecht reiche eine Zerrüttung des Mietverhältnisses im Sinne einer Zerstörung der das Schuldverhältnis tragenden Vertrauensgrundlage allein, ohne dass festgestellt werden könne, dass diese zumindest auch durch ein pflichtwidriges Verhalten des anderen Vertragsteils verursacht worden sei, grundsätzlich nicht aus, um einer Mietvertragspartei ein Recht zur außerordentlichen fristlosen Kündigung des Mietverhältnisses gemäß § 543 Abs. 1 BGB zuzubilligen. Vorliegend sei mangels Feststellbarkeit einer konkreten, für die Zerrüttung des streitgegenständlichen Mietverhältnisses ursächlich gewordenen Pflichtverletzung der Mieter weder eine außerordentliche fristlose Kündigung dieses Mietverhältnisses wegen der Störung des Hausfriedens gemäß § 543 Abs. 1, § 569 Abs. 2 BGB noch wegen des Vorliegens eines sonstigen wichtigen Grunds im Sinne von § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB gerechtfertigt gewesen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei ein wichtiger Grund zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen nach den Vorschriften der § 626 Abs. 1, § 543 Abs. 1, § 314 Abs. 1 BGB im Allgemeinen nur dann gegeben, wenn der Grund, auf den die Kündigung gestützt werde, im Risikobereich des anderen Vertragsteils liege.
Dementsprechend habe der Bundesgerichtshof für den Bereich des Gewerberaummietrechts bereits entschieden, dass für eine Mietvertragspartei ein Recht zur fristlosen Kündigung gemäß § 543 Abs. 1 BGB in der hier gegebenen Fallgruppe der Zerrüttung nur bestehen könne, wenn infolge des (pflichtwidrigen) Verhaltens des anderen Vertragsteils die Durchführung des Vertrags wegen der Zerstörung der das Schuldverhältnis tragenden Vertrauensgrundlage derart gefährdet sei, dass dem Kündigenden unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses auch bei Anlegung eines strengen Maßstabs nicht mehr zugemutet werden könne (vgl. BGH vom 15.9.2010 – XII ZR 188/08 –).
Diese Grundsätze würden in gleicher Weise auch für den Bereich des Wohnraummietrechts gelten.
Entgegen der Ansicht der Vermieter könne auch der Vorschrift des § 573 a Abs. 1 BGB nicht entnommen werden, dass bei einem Dauerkonflikt – unabhängig von dessen Ursachen – der Mieter fristlos gekündigt werden könne. Denn diese Vorschrift regele lediglich die ordentliche Kündigung des Vermieters bei einem von ihm selbst bewohnten Gebäude mit nicht mehr als zwei Wohnungen. Zur außerordentlichen fristlosen Kündigung bei einem Mehrfamilienhaus – wie hier – verhalte sie sich dagegen nicht.
Ob die Erstattung einer Strafanzeige einen schwerwiegenden Verstoß gegen die mietvertraglichen Pflichten darstelle, der eine fristlose (oder hilfsweise eine ordentliche) Kündigung rechtfertige, sei unter Berücksichtigung und Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalls zu beurteilen. Eine grundlos falsche Strafanzeige gegen den Vertragspartner könne hierbei einen zur Kündigung berechtigenden Umstand darstellen, ebenso wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben im Rahmen einer Strafanzeige. Bei der einzelfallbezogenen Gesamtabwägung sei auch zu berücksichtigen, ob der Anzeige-erstatter zur Wahrnehmung berechtigter eigener Interessen oder staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten gehandelt habe.
Das Berufungsgericht habe hier rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Behauptung der Vermieter, die Mieter hätten sich rassistisch über Ausländer geäußert, nicht der Wahrheit entsprochen habe, und deshalb die von den Mietern erstattete Strafanzeige insofern zutreffend sei.
Frei von Rechtsfehlern sei zudem die Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach ein wichtiger Grund zur Kündigung auch nicht ausnahmsweise in diesem der Wahrheit entsprechenden Vorwurf wegen eines etwaigen denunziatorischen Charakters der Strafanzeige gesehen werden könne. Denn im vorliegenden Fall hätten die Mieter die Vermieter wegen des begründeten Verdachts einer Straftat zu ihrem Nachteil angezeigt und damit in Wahrnehmung eigener berechtigter Interessen (vgl. § 193 StGB) gehandelt.
28.04.2024