Leitsätze:
1. Auch wenn die Orientierungshilfe nicht Bestandteil des qualifizierten Berliner Mietspiegels 2003 ist, kann sie zur Spanneneinordnung herangezogen werden.
2. Die im Mietspiegel mitgeteilten durchschnittlichen Werte für Betriebskosten haben an der Vermutungswirkung des § 558 d Absatz 3 BGB teil.
LG Berlin, Urteil vom 20.6.03 – 63 S 367/02 –
Mitgeteilt von RAen Christoph Müller & Ernst Warner
Urteilstext
Aus den Entscheidungsgründen:
… Denn dem Kläger steht gegenüber den Beklagten ein Anspruch auf Zustimmung zu einer Erhöhung der Bruttokaltmiete von 47,44 um 31,25 Euro auf 507,69 Euro monatlich ab 1. Mai 2002 nicht zu (§§ 558 ff. BGB).
Das Mieterhöhungsverlangen vom 4. Februar 2002 ist gemäß § 558 a BGB formell wirksam. Es ist durch die Bezugnahme auf den Berliner Mietspiegel 2000 ausreichend begründet worden. Die Klage ist ferner innerhalb der Frist des § 558 Abs. 2 Abs. 2 BGB erhoben worden und somit zulässig. Der Mietzins ist seit 15 Monaten unverändert (§ 558 Abs. 1 BGB). Er soll sich nach dem Zustimmungsverlangen auch nicht um mehr als 20 Prozent erhöhen (§ 558 Abs. 3 BGB).
Indes übersteigt der geforderte Mietzins den ortsüblichen Vergleichsmietzins.
Zur Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete für die Wohnung der Beklagten ist der gemäß § 558 d BGB als qualifizierter Mietspiegel geltende Berliner Mietspiegel 2003 mit dem Stichtag 1. März 2002 heranzuziehen, weil die streitgegenständliche Erhöhung zum 1. Mai 2002 wirksam werden soll.
Für die Wohnung der Beklagten ist unstreitig das Feld G 2 des Berliner Mietspiegels 2003 einschlägig. Der Mittelwert beträgt 4,50 Euro netto kalt bei einer Spanne von 2,77 bis 5,56 Euro.
Unter Anwendung der zum Berliner Mietspiegel 2003 zugehörigen Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung ergibt sich im Ergebnis lediglich der Mittelwert des Mietspiegelfeldes G 2. Zwar unterfällt die Orientierungshilfe nicht im Sinne des § 292 ZPO der Vermutungswirkung des Mietspiegels selbst. Die Kammer hält sie dennoch für grundsätzlich anwendbar.
So ist der Vermieter dafür beweispflichtig, dass die bei einer Mieterhöhung begehrte neue Miete das Ortsübliche nicht übersteigt (BVerfG 53, 361). Die in § 558 d Abs. 3 BGB enthaltene gesetzliche Vermutung führt zunächst zu einer Beweiserleichterung dergestalt, dass bei Existenz der Ausgangstatsache – dies ist hier das Vorliegen des qualifizierten Mietspiegels – die gesetzliche Schlussfolgerung greift, so dass zunächst davon auszugehen ist, dass die innerhalb der Spanne liegenden Mietwerte den ortsüblichen Vergleichsmietzins für die Wohnungen des jeweiligen Mietspiegelfeldes widerspiegeln. Da der Berliner Mietspiegel 2003 indes jeweils Spannen ausweist, innerhalb derer die vorgenannte gesetzliche Vermutung gilt, verbleibt es nach Auffassung der Kammer innerhalb der Spanne bei der nach allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen geltenden Verteilung der Darlegungs- und Beweislast. Das bedeutet, dass im Rahmen der Spanne jede Partei die für sie jeweils günstigen wohnwerterhöhenden beziehungsweise wohnwertmindernden Tatsachen vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen hat. Hierbei ist die Orientierungshilfe nach Auffassung der Kammer als Erfahrungssatz Gegenstand freier Beweiswürdigung insoweit, als bei Vorliegen der in ihr aufgeführten Merkmale jeweils ein positiver oder negativer Einfluss auf die in der jeweiligen Spanne ausgewiesene Miete indiziert wird. Denn die Orientierungshilfe ist zwar auf Grund eines fehlenden statistisch signifikanten Einflusses auf den Mietzins durch die in ihr enthaltenen Merkmale nicht Bestandteil des qualifizierten Mietspiegels geworden, dies schließt indes eine auf Grund der Erfahrung (auch mit den vorangehenden Mietspiegeln) dennoch vorhandenen Einfluss auf die Höhe des jeweils vereinbarten Mietzinses nicht aus. Die Orientierungshilfe ermöglicht eine sachgemäße Differenzierung bei der Einordnung konkreter Wohnungen in die jeweilige Spanne der Mietspiegelfelder. Es handelt sich damit bei ihr um eine im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 285 ZPO anzuwendende Erkenntnisquelle, die unter Zuhilfenahme allgemeiner Erfahrungen zur Ableitung einer konkreten Sachverhaltsfeststellung führt. Sofern also das Vorliegen bestimmter wohnwerterhöhender oder wohnwertmindernder Merkmale aus der Orientierungshilfe vorgetragen und bewiesen ist, kann im Wege einer sachgerechten Differenzierung der innerhalb der Spanne befindliche ortsübliche Vergleichsmietzins ermittelt werden.
Vorliegend führt dies zu folgendem Ergebnis:
Die Merkmalgruppe 1 (Bad/WC) ist neutral zu bewerten, weil das vom Kläger vorgetragene Merkmal der wohnungsbezogenen Kaltwasseruhr in der Orientierungshilfe keinen Niederschlag mehr gefunden hat.
Die Merkmalgruppe 2 (Küche) ist unstreitig neutral zu bewerten.
Die Merkmalgruppe 3 (Wohnung) ist zu Gunsten des Klägers positiv zu berücksichtigen.
Der unstreitig vorhandene Kabelanschluss ist mangels weiterer Anhaltspunkte offensichtlich ein im Sinne der Orientierungshilfe rückkanalfähiger Breitbandkabelanschluss, da anderenfalls derzeit in Berlin nur ein äußerst eingeschränkter Fernsehempfang möglich wäre, was die Beklagten selbst nicht behaupten. Soweit sie weiterhin vortragen, auf Grund einer von ihnen selbst installierten Satellitenempfangsanlage auf den Kabelanschluss nicht angewiesen zu sein, ist dies unerheblich, weil allein die zur Verfügungstellung durch den Vermieter entscheidend für die Wohnwerterhöhung ist. Nach der Orientierungshilfe zum Berliner Mietspiegel 2003 sind des Weiteren die Merkmale der guten Belichtung beziehungsweise Besonnung der Wohnung sowie das Merkmal der Gegensprechanlage nicht mehr wohnwerterhöhend zu berücksichtigen.
Bei den wohnwertmindernden Merkmalen liegt das Merkmal „kein nutzbarer Balkon“ hier nicht vor; eine hierdurch herbeigeführte Wohnwertminderung setzt nach Auffassung der Kammer voraus, dass zwar ein Balkon mitvermietet worden ist, dieser jedoch aus technischen oder tatsächlichen Gründen nicht nutzbar ist. Vorliegend ist ausweislich des Mietvertrages ein Balkon indes nicht vermietet worden.
Die Merkmalgruppe 4 (Gebäude) ist hier negativ zu berücksichtigen. Das wohnwerterhöhende Merkmal der Wärmedämmung, die zusätzlich zur vorhandenen Bausubstanz vorliegen muss, ist hier nicht gegeben, da unstreitig lediglich eine baualterstypische Außenwand von 52 Zentimeter Stärke vorhanden ist.
Wohnwertmindernd ist weiter zu berücksichtigen, dass sich das Treppenhaus – unabhängig von dem seitens des Klägers im September 2000 durchgeführten Wandanstrich – ersichtlich wieder in einem renovierungsbedürftigen Zustand befindet, wie die Inaugenscheinnahme des Amtsgerichts ergeben hat. Die dortigen Feststellungen gehen von vorhandener Graffiti im Treppenhausbereich und vergrauten beziehungsweise verschmutzten Wänden aus. Diese Feststellungen werden im Übrigen von den Beklagten auch nicht konkret angegriffen.
Es fehlt indes an einem hinreichenden Vortrag der Beklagten zum behaupteten schlechten Instandhaltungszustand der Fassade, da ihrem Vorbringen nicht zu entnehmen ist, dass über die ganze Fassade verteilt großflächige Putzabplatzungen vorhanden sind. Dies wäre jedoch erforderlich, um zu einem insgesamt schlechten Instandhaltungszustand der Fassade zu kommen, da lediglich kleinere Putzschäden noch nicht zu einer Wohnwertminderung führen.
Die Merkmalgruppe 5 (Wohnumfeld) ist neutral zu bewerten. Dem Vortrag des Klägers fehlt es an Anhaltspunkten dafür, auf Grund welcher Tatsachen es sich bei der B.-Straße um eine besonders ruhige Straße handeln soll. Weder behauptet der Kläger, dass nur Anliegerverkehr dort stattfindet, noch dass auf Grund verkehrsberuhigender Maßnahmen die Verkehrsgeräusche unterhalb der Schwelle des üblichen Großstadtverkehrs liegen. Damit kann zu Gunsten des Klägers unterstellt werden, dass die von den Beklagten behaupteten Geräusch- und Geruchsbelästigungen durch die nahe gelegene Markthalle nicht vorliegen.
Des Weiteren ist das Sondermerkmal „wohnungsbezogene Kaltwasseruhr“ mit einem Zuschlag von 0,10 Euro pro Quadratmeter zu berücksichtigen.
Ferner sind zur Angleichung der im Mietspiegel enthaltenen Nettokaltmieten auf die zwischen den Parteien vereinbarte Bruttokaltmiete die durchschnittlichen kalten Betriebskosten, die für die streitgegenständliche Wohnung 1,17 Euro pro Quadratmeter nach dem Berliner Mietspiegel 2003 betragen, hinzuzurechnen.
Der Mietzins berechnet sich daher wie folgt:
Mietspiegel 2003 Rasterfeld G (Mittelwert): 4,05 Euro pro Quadratmeter
Sondermerkmal Kaltwasseruhr: + 0,10 Euro pro Quadratmeter
Ergebnis: 4,15 Euro pro Quadratmeter
zuzüglich Betriebskostenpauschale: + 1,17 Euro/Quadratmeter
Ergebnis: 5,32 Euro pro Quadratmeter x 85,10 Quadratmeter (Wohnungsgröße)
= ortsübliche Bruttokaltmiete 452,73 Euro.
Da die Beklagten bereits jetzt eine monatliche Bruttokaltmiete von 476,44 Euro entrichten, ist das Zustimmungsverlangen unbegründet, so dass das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen war. …
Gemäß § 543 Abs. 2 Ziffer 2 ZPO war vorliegend die Revision zum Zwecke der Fortbildung des Rechts beziehungsweise der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Denn – soweit ersichtlich – ist bislang lediglich eine Entscheidung des Amtsgerichts Berlin-Charlottenburg vom 30. Mai 2003 zu der Problematik der Anwendung der Orientierungshilfe zum Berliner Mietspiegel 2003 ergangen (GE 2003, 812 f.); das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg sah sich zwar ebenfalls nicht daran gehindert, die Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung anzuwenden, begründet dies mit der Qualität der Orientierungshilfe als Erläuterung zum Mietspiegel, welcher auf Grund sachkundiger Ermittlung zu Stande gekommen und daher mit gewissem Beweiswert versehen sei, wodurch das Gericht unter Würdigung der gesamten Umstände in die Lage versetzt werde, die ortsübliche Miete zu ermitteln. Es ist aber bislang gänzlich offen, wie die Rechtsprechung der Instanzgerichte im Raum Berlin mit der Orientierungshilfe und damit mit der Darlegungs- und Beweislast der über ein Zustimmungsverlangen nach § 558 ff. BGB streitenden Parteien umgehen wird. Andererseits erfordert der räumliche Geltungsbereich des Berliner Mietspiegels 2003 nach Auffassung der Kammer aus Gründen der Rechtssicherheit eine einheitliche Rechtsprechung zur Qualität der Orientierungshilfe im Rahmen der Beweisgrundsätze. …
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Im Ergebnis ebenso: LG Berlin vom 3.6.2003 – 65 S 17/03 –
15.03.2013