Leitsatz:
Zu den Wohnwertmerkmalen des Berliner Mietspiegel 2003 „verdichtete Bebauung“ und „Lage in stark vernachlässigter Umgebung“.
AG Neukölln, Urteil vom 10.3.04 – 19 C 214/03 –
Mitgeteilt von RAin Barbara Vogt
Urteilstext
Aus den Entscheidungsgründen:
… a) Die Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung ist im Rahmen freier Beweiswürdigung nach § 286 ZPO anwendbar. Das Gericht verkennt nicht, dass die Orientierungshilfe nicht Bestandteil des qualifizierten Mietspiegels ist; es schließt sich aber LG Berlin, GE 2003, 1082, LG Berlin, GE 2003, 1022 und AG Neukölln, GE 2003, 1023 an. …
b) Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass nach der einheitlichen Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung in den Merkmalgruppen 2 und 3 die wohnwerterhöhenden Merkmale überwiegen.
c) In den Merkmalgruppen 1, 4 und 5 überwiegen zur Überzeugung des Gerichts die wohnwertmindernden Merkmale.
aa) Die Wohnung der Beklagten liegt unstreitig im Erdgeschoss eines vierstöckigen Quergebäudes.
(1) Zur Überzeugung des Gerichts ist außerdem von einer „verdichteten Bebauung“ auszugehen. Der Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung ist freilich nicht zu entnehmen, wie die Arbeitsgruppe Mietspiegel das Merkmal „verdichtete Bebauung“ verstanden hat. Eine Erläuterung ist weder der Orientierungshilfe selbst noch den Grundlagendaten zu entnehmen. Auch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat auf Nachfrage mitgeteilt, dass es dort keine allgemeine Vorstellung des Merkmals gäbe. Die Arbeitsgruppe Mietspiegel habe sich unter verdichtet vor allem die „typischen Berliner Hinterhöfe“ vorgestellt. Nach Ansicht des Gerichts muss eine Definition des Begriffs „verdichtete Bebauung“ zwar daran anknüpfen, dass sich dieses Merkmal in der Merkmalgruppe 4 – Gebäude – findet. Es heißt dort aber „bei verdichteter Bebauung“. Hierdurch wird an mehrere, umliegende Gebäude und eben nicht nur an das Gebäude angeknüpft. Unter „verdichtet“ ist also das „dicht geworden sein“, mithin ein besonders enger Gebäudebestand auch der umliegenden Häuser zu verstehen. Es handelt sich um Häuser die „dicht an dicht“ stehen, die einen Eindruck der Geschlossenheit, der Lichtferne und Dunkelheit erwecken. Ein entsprechendes Gebäude darf nicht an eine freie Fläche grenzen, sondern muss von Mauern umgeben, gleichsam „eingemauert“ sein.
(2) Eben einen solchen Eindruck vermitteln nach den Feststellungen des Gerichts die beiden Hinterhöfe der B…-Str. in Verbindung mit dem Vorderhaus und den umliegenden Häusern der Wohnung der Beklagten. Um die im Quergebäude liegende Wohnung der Beklagten zu erreichen, muss man das Vorderhaus im Erdgeschoss durchqueren. Vorderhaus und Quergebäude liegen ca. 7 bis 8 Meter auseinander und sind durch einen Hinterhof getrennt. Der Hinterhof wird nach Westen durch eine ca. 2 Meter hohe Mauer eingefasst. Auf der Mauer ist ein ca. 1,50 Meter hoher grüner Metallzaun. Nach Osten gibt es keine eigentliche Begrenzung, aber Büsche. Der Innenhof öffnet sich hier bei gleicher Breite den weiteren Häusern B…-Str. und weiter auf ca. 80 Meter. Der Eindruck ist schlauchig, dunkel und eng. Aus dem Quergebäude ragen ca. 1 Meter tiefe Balkone in den Hinterhof. Im Hinterhof selbst befindet sich ein überdachter Stellplatz für Müllbehälter, ferner ein Fahrradständer, eine Schaukel, ein Kinderspielhaus und Bäume. Alles ist dicht gedrängt. Das Vorderhaus und das Quergebäude sind vierstöckig. Hinter dem Quergebäude ist wiederum ein Hinterhof, der durch die Wohnung der Beklagten erreicht werden kann. Dieser Hinterhof wird nach Westen durch eine schmutzig-graue Brandmauer eingefasst, die höher als das Quergebäude ist. Auf dem Boden liegt abgebröckelter Putz. Dieser Hinterhof ist ca. 5 Meter breit. Die Terrasse der Beklagten guckt auf eine Remise, die die Wohnung überragt, und eine Mauer. Nach Osten ist auch hier keine Begrenzung: Der Innenhof öffnet sich bei gleicher Breite den weiteren Häusern B…-Str. und weiter auf ca. 100 Meter. Der Eindruck ist dunkel.
bb) Die B…-Straße liegt unstreitig in einfacher Wohnlage.
(1) Nach den Feststellungen des Gerichts liegt die Wohnung der Beklagten außerdem in einer stark vernachlässigten Umgebung. Der Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung ist freilich nicht zu entnehmen, was die Arbeitsgruppe Mietspiegel unter diesem Merkmal verstanden hat. Und auch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat auf Nachfrage mitgeteilt, dass es keine allgemeine Vorstellung des Merkmals in der Arbeitsgruppe gegeben habe. Nach dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm bedeutet „vernachlässigen“ etwas zu unterlassen oder etwas außer Acht zu lassen, was zur sorgfältigen Erhaltung, zur Instandhaltung nötig ist. Nach der Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung genügt freilich dieses „einfache“ Unterlassen nicht.
Das Unterlassen muss zudem „stark“ sein, mithin müssen die zur Erhaltung und Instandhaltung notwendigen Schritte besonders dringlich sein, muss mit den Dingen besonders unsorgfältig umgegangen worden sein. Die Vernachlässigung muss also nachhaltig und – in gewisser Weise – für die Gegend prägend sein. Es darf sich nicht nur um einen vorübergehenden Zustand, sondern um eine besondere schlechte, nachlässige Haltung der Menschen zur ihrem Wohnumfeld handeln.
(2) So liegen die Dinge hier. An der Mehrzahl der Bäume der B…-Str., aber auch auf dem Bürgersteig selbst ist Unrat abgelagert worden. Es liegen dort zurzeit Bierdosen, Teppichreste, Holz, kaputte Stühle, ein kaputter Tisch, aufgeweichte Kartons, Papier, Zigarettenpackungen, ein zerschlagenes Fenster, „Silvestermüll“, schimmliger Blumenkohl, ein Lampenkarton, ein Klodeckel, ein altes Fahrrad und schimmlige Orangenscheiben. Neben einem überquellenden Müllcontainer am Anfang der B…-Str., Ecke H…-Straße, sind wahllos blaue Säcke abgestellt. Die Säcke sind teilweise aufgerissen. Die Wände der Häuser sind teilweise mit Graffiti beschmiert. Auf der gesamten Straße liegt an den Bäumen, aber auch auf dem Bürgersteig, Hundekot in großen Mengen. Die Gegend wirkt insgesamt grau und trist. Auch der sich an die B…-Straße anschließende S…-steig ist eine Müllhalde. Dort liegt in großer Anzahl jegliche Art von Hausmüll, Hundekot, aber auch kaputte Kinderwagen, Stoffreste und Altpapier. Die Art des Mülls, sein Alter und seine Häufigkeit lassen darauf schließen, dass es sich nicht um eine „Momentaufnahme“ handelt, sondern um einen Dauerzustand. Einigen Anwohnern ist es ganz offensichtlich gleich, dass ihr Wohnumfeld vermüllt und anekelnd ist. Der niederschlagende Zustand des Wohnumfelds ist über Wochen und Monate erreicht worden und kein nur vorübergehender. …
10.03.2013