Im Alter von 90 Jahren ist der Architekturprofessor Hardt-Waltherr Hämer gestorben. Hämer, von allen nur „Gustav“ genannt, gilt als der Erfinder der behutsamen Stadterneuerung und als Retter Kreuzbergs. Der streitbare Architekt hat nicht nur einen gänzlich neuen Umgang mit der gebauten Stadt durchgesetzt, sondern auch die Bewohner zu aktiven Planungsbeteiligten gemacht.
Sanierung – das hieß bis weit in die 70er Jahre: Abriss und Neubau. Die Bewohner der Altbauten wurden nicht groß gefragt, wo und wie sie leben wollten. Baugesellschaften, Architekten und Politiker meinten zu wissen, was für sie das Beste ist – nämlich eine Wohnung im Grünen mit Licht, Luft und Sonne, Bad und Zentralheizung, Balkon, Aufzug und Müllschlucker. Im damals deutschlandweit größten Sanierungsgebiet Wedding-Brunnenstraße wurden die Mietshäuser straßenweise abgerissen und die Bewohner ins Märkische Viertel umgesiedelt. Das war der Lauf der Zeit. Wer wollte sich dem Fortschritt in den Weg stellen? Als Hardt-Waltherr Hämer 1967 Professor an der Hochschule für bildende Künste (HfbK, heute: UdK) wurde, bekam er den Auftrag, für die drei Häuser Putbusser Straße 29 bis 31 ein Konzept zu erstellen. Die Eigentümerin, eine Wohnungsbaugesellschaft, stellte von vornherein klar, dass die Häuser abzureißen seien, denn ihre Architektur sei schlecht und 80 Prozent der Holzbalken verfault. Außerdem sollte beim Abriss möglichst viel Dreck und Lärm gemacht werden, damit die verbliebenen Mieter zum Auszug bereit wären.
„Als Architekten durften wir mit den Bewohnern nicht über das mögliche Wohnenbleiben reden“, erzählte Hämer 2008 in einem Interview. Unter dem Vorwand, die Wohnungen aufmessen zu müssen, suchte er dennoch die Mieter auf. Dabei kam heraus, dass mehr als die halbe Mieterschaft lieber in ihrer reparierten Wohnung bleiben wollte als in eine moderne Neubauwohnung zu ziehen. Bei der Untersuchung der Bausubstanz stellte sich zudem heraus, dass die Balken kaum Schäden hatten. „Wir kamen immer mehr zu der Überzeugung“, erinnerte sich Hämer, „dass dieses ganze Wegräumen der vorhandenen Stadt eine ganz idiotische Angelegenheit ist.“ Gegen große Widerstände konnte er erreichen, dass in der Putbusser Straße zumindest die Vorderhäuser stehen blieben und bis 1970 in einem Modellprojekt mit einem geringen Ausstattungsstandard modernisiert wurden. Die Modernisierung erwies sich als 13 Prozent preiswerter als ein vergleichbarer Neubau.
Kostenargument überzeugte die Widersacher
Das führte in Berlin aber noch lange nicht zu einem Umdenken. Schließlich führte Hämer für das Bundesbauministerium eine Modellstudie durch, in der er vorrechnete, dass die Modernisierung Berliner Altbauten noch wesentlich preiswerter zu machen war als in seinem vorhandenen Beispiel aus der Praxis. Diese Studie erregte so viel Aufsehen, dass der Berliner Senat nicht umhin kam, ihn 1975 mit der praktischen Durchführung seines Modells zu beauftragen. Man überantwortete ihm den Block 118 im Charlottenburger Sanierungsgebiet Klausenerplatz: Hier war zwar ohnehin kein totaler Kahlschlag geplant, er konnte nun aber auch Seitenflügel und Hinterhäuser erhalten und erneuern – und das im Einvernehmen mit den Mietern, die in ihren Wohnungen bleiben durften.
„Stadterneuerung ohne Verdrängung“ war Hämers erklärtes Ziel. Das Wohnungsunternehmen Neue Heimat hatte als Sanierungsträger den Bauablauf immer wieder torpediert, doch nach dem vorläufigen Abschluss des Pilotprojekts im Jahr 1978 war auch die finanzielle Bilanz hervorragend: Die Aufwendungen betrugen nur 64 Prozent der Kosten von Abriss und Neubau.
Damit war der Durchbruch für eine „behutsame Stadterneuerung“ geschafft. 1979 wurde Hämer zum Planungsdirektor der Altbauerneuerung der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Berlin ernannt. Die Altbau-IBA wollte in der östlichen Hälfte Kreuzbergs die „kaputte Stadt retten“ – so der Slogan.
Kreuzberg war damals ein bauliches und soziales Krisengebiet: Die Häuser hatte man in Erwartung des angekündigten Flächenabrisses verfallen lassen. Hier wohnten vor allem Arme, Ausländer und Aussteiger. Die Hausbesetzerwelle von 1980/81 zeigte dann, dass viele bereit waren, für den Erhalt ihrer Wohnungen zu kämpfen. Das Misstrauen gegenüber der IBA als Prestigeprojekt des Senats (geschmäht als „Internationale Bluff-Aktion“, „iba-flüssig“) war anfangs groß. Durch die Einbeziehung der Betroffenen, unter anderem bei der Formulierung der „12 Grundsätze der behutsamen Stadterneuerung“, gewann Hämer aber Rückhalt bei den kritischen Mietern.
Im Rahmen der IBA sind bis 1987 mit 900 Millionen Mark Fördergeldern 7000 Wohnungen in Abstimmung mit den Bewohnern oder in Selbsthilfe erneuert worden. „Wichtiger als Zahlen aber ist, dass aus einer hoffnungslos verfahrenen Situation, aus Resignation und Widerstand wieder ein Stück Hoffnung, ein neu erwachtes Selbstvertrauen und wachsende Identifikation mit dem Kiez, der unmittelbaren Umgebung entstehen konnte“, bilanzierte Hämer 1990. Insgesamt ist er selbst in über 5000 Wohnungen gewesen und hat mindestens 50 000 Gespräche mit Betroffenen geführt, wie er 1998 in einem Interview erzählte: „Du lernst bei jeder Unterhaltung irgendetwas Neues.“
Ein Blick zurück kann nicht schaden
Mit dem Ende der IBA brach auch die üppige Förderung ab, so dass die Sanierung in Kreuzberg an Schwung verlor. Die von Hämer 1986 im Alleingang als IBA-Nachfolger gegründete „Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung S.T.E.R.N.“ war nach dem Mauerfall vor allem als Sanierungsbeauftragter in Prenzlauer Berg und Tiergarten tätig. Hämer leitete das Unternehmen bis ins Jahr 1997.
Ohne die starke Persönlichkeit Hämers hätte sich die behutsame Stadterneuerung sicher nicht durchgesetzt. Mit klarer, direkter Sprache hat er hartnäckig und unermüdlich gegen die eingefahrene Sanierungsbürokratie gekämpft und ging keinem Konflikt aus dem Wege. Er war trotz autokratischer Züge ein Teamarbeiter und hörte jedem zu. So konnte er als charismatischer Anwalt der Betroffenen öffentliche Unterstützung mobilisieren.
Die behutsame Stadterneuerung ist in Berlin zwar seit 1983 die offizielle Sanierungsstrategie, doch ihre soziale Seite ist in den letzten Jahren schleichend in Vergessenheit geraten. Die Erhaltung der Mietskasernen ist selbstverständlich geworden, aber nachdem sich der Senat ganz aus der Modernisierungsförderung verabschiedet hat, ist der Verdrängung der Mieter Tür und Tor geöffnet.
Angesichts der galoppierenden Gentrifizierung ist es höchste Zeit für eine Rückbesinnung auf das soziale Ziel der behutsamen Stadterneuerung.
Jens Sethmann
Ein Leben für das Bauen und Bewahren
Hardt-Waltherr Hämer wurde am 13. April 1922 in Hagen bei Lüneburg geboren. Im Krieg diente er als Eisenbahnpionier und verlor durch eine Schussverletzung sein rechtes Auge. 1945 wurde er für ein Jahr zum Bürgermeister der Flüchtlingsgemeinde Neu-Tramm ernannt. Noch während seines Studiums an der HfbK in Berlin entwarf er eine Kirche für das Ostseebad Ahrenshoop, die 1951 eingeweiht wurde.
Aufsehen erregte sein Entwurf für das Theater in Ingolstadt, das 1966 fertiggestellt wurde und sich trotz seiner Größe und der modernen Form harmonisch in die Altstadt einfügt. 1977 setzte er die Restaurierung der teilweise zum Abriss vorgesehenen Hellerhofsiedlung in Frankfurt am Main durch.
Auch nach dem intensiven Einsatz für die Altbausanierung und seinem Ausscheiden bei S.T.E.R.N. war an Ruhestand nicht zu denken. Ab 1998 engagierte er sich für den Erhalt des Studentendorfes Schlachtensee, das 2003 schließlich vor der Abrissbirne gerettet werden konnte. Zuletzt kümmerte er sich um die Restaurierung seines Erstlingswerks, der Schifferkirche in Ahrenshoop. Gustav Hämer starb hier am 27. September 2012 und wurde auch in Ahrenshoop beigesetzt.
js
MieterMagazin 11/12
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alle Fotos: Paul Glaser
Schifferkirche in Ahrenshoop
Hardt-Waltherr Hämer
Manfred Sack (Hrsg.): Stadt im Kopf – Hardt-Waltherr Hämer, jovis Verlag Berlin 2002, 256 Seiten, mit Video-DVD „Menschen und Steine“
17.12.2015