Was ist Gentrifizierung? Ist es ein Prozess, den Investoren bewusst betreiben, um die Innenstadt wirtschaftlich besser verwerten zu können? Oder spiegelt der Begriff nur die wirtschaftliche Logik eines aufgrund einer Mangelsituation umkämpften Wohnungsmarkts? Ist Gentrifizierung eine Entwicklung, die sich nach einem historischen Vorbild zu allen Zeiten und an allen Orten nach gleichem Muster abspielt? Wer Experten fragt, erhält unterschiedliche Antworten.
Lesen Sie zu diesem Thema die folgenden Beiträge:
- Gentrifizierung – Ein Begriff mit Spielraum
- Wie verläuft ein Gentrifizierungsprozess?
Andere Rahmenbedingungen, andere Entwicklungen - Käthes neue Nachbarn:
Gentrifizierung am Beispiel Kollwitzplatz - Interview mit dem Stadtforscher Sigmar Gude:
„An der Grenze der Mietzahlungsfähigkeit“ - Folgen der Gentrifizierung – Verdrängung allerorten
- Sanierung ohne Verdrängung:
Internationalen Bauausstellung (IBA) von 1987 - Gentrifizierung – Tatenlosigkeit kommt teuer
- Politik und Gentrifizierung: Gefahr erkannt?
- Buchtipps
Gentrifizierung – Ein Begriff mit Spielraum
Was ist Gentrifizierung? Ist es ein Prozess, den Investoren bewusst betreiben, um die Innenstadt wirtschaftlich besser verwerten zu können? Oder spiegelt der Begriff nur die wirtschaftliche Logik eines aufgrund einer Mangelsituation umkämpften Wohnungsmarkts? Ist Gentrifizierung eine Entwicklung, die sich nach einem historischen Vorbild zu allen Zeiten und an allen Orten nach gleichem Muster abspielt? Wer Experten fragt, erhält unterschiedliche Antworten.
Farbbeutel klatschen gegen sanierte Hauswände, Autos gehen in Flammen auf. „Reclaim your city“ fordern gesprühte Parolen und sagen der „Aufwertung“ innerstädtischer Kieze, und damit steigenden Mieten, den Kampf an. Gentrifizierung ist das Reizthema, das Misstrauen, Ängste und Aggressionen auslöst. Dabei war es erst einmal nichts als ein Fachbegriff. 1964 prägte ihn die britische Soziologin Ruth Glass für die Entwicklung eines der ärmsten Londoner Stadtteile. Nach baulichen Veränderungen im einstigen Industrie-Slum Islington waren mehr und mehr Mittelstandsfamilien zugezogen: „gentry“ – niederer Adel, wie die Wissenschaftlerin die Zuzügler nannte. Seither steht Gentrifizierung für den allmählichen Austausch einkommensschwächerer durch einkommensstärkere Bewohner in einem Stadtgebiet. Wo Erneuerung und Modernisierung eine Wohngegend aufwerten, ziehen jene fort, die die steigenden Mieten nicht mehr zahlen können, finanziell besser gestellte Bewohner halten Einzug und prägen mit ihrem Lebensstil nach und nach den gesamten Kiez.
Für die Aufwertung einer urbanen Lage gibt es inzwischen viele Beispiele – sowohl in westlichen, als auch in ehemals osteuropäischen Ländern. „Sie unterscheiden sich durch das Maß an staatlichem Eingreifen und staatlicher Steuerung“, stellt die Soziologin Talja Blokland fest. So wurde für die Entwicklung der stillgelegten Londoner Docks 1981 vom britischen Umweltminister eigens eine Entwicklungsgesellschaft gegründet, um die verfallende Gegend wiederzubeleben. Mit gezielten Maßnahmen, der Schaffung einer Spezialzone, innerhalb derer Unternehmen beispielsweise von der Grundstückssteuer befreit waren, wurden Investitionen in den „Docklands“ attraktiv. Und sie funktionierten als Auslöser für einen wahren Immobilienboom. Mittlerweile haben sich die Einwohnerzahlen in dem Londoner Stadtteil verdoppelt. Es entstanden Appartementhäuser und Einkaufszentren in alten Lagerhäusern und Werften. Heute sind die „Docklands“ ein lebendiges Geschäftszentrum und eine exklusive Wohnlage – neben dem, in scharfem Kontrast dazu, durchaus auch noch heruntergekommene Unterkünfte der einstigen Werftarbeiter stehen. Denn für eine Modernisierung der Sozialwohnungsblöcke sorgte die Regierung nicht.
„Die Prager Innenstadt ist dagegen ein klassisches Beispiel für die völlige Abwesenheit von Regeln – sie steht für einen ungebremsten Markt“, so Talja Blokland, die sich mit Stadtentwicklungsprozessen in den USA und Europa beschäftigt. „Hier hat nach dem Fall der Mauer ein Ausverkauf vor allem an amerikanische Investoren und eine Vertreibung der einheimischen Bevölkerung stattgefunden, wie es sie im Westen nirgendwo gegeben hat.“ Die tschechische Regierung habe bewusst auf alle Einschränkungen und Regelungen verzichtet, mit dem Ergebnis, dass sich die Innenstadtbewohner die exorbitant hohen Mieten nicht mehr leisten konnten und zum Teil in die Plattenbaubezirke Prags oder ins Umland ausgewichen sind.
„Gentrifizierung ist nach meiner Auffassung ein willentlich von Investoren gesteuerter Prozess“, erklärt David Eberhardt vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU). „Dessen Ziel besteht darin, in einem bestimmten Gebiet eine Wertsteigerung von großem Umfang durchzusetzen.“ Alles andere und insbesondere die auch in Berlin zu beobachtenden Umwälzungen am Wohnungsmarkt, so der Wohnungswirtschaftler, seien notwendige Modernisierungsprozesse: „Berlin ist ein Magnet, viele wollen hier wohnen und sind dafür auch bereit, hohe Mieten zu zahlen.“ Außerdem, so Eberhardt, würden die Haushalte immer kleiner, viele drängten wieder in die Innenstadt, wo – aufgrund der immer noch zu niedrigen Mieten – viel zu wenig neu gebaut werde.
Die Diskussion, was Gentrifizierung ist und was nicht, wird nach Auffassung von Talja Blokland kaum irgendwo so politisch und aufgeheizt wie in Deutschland geführt. „Falsch wäre es, Gentrifizierung nur als einen von Investoren getriebenen Prozess zu sehen“, so die Professorin, die heute an der Humboldt Universität lehrt und forscht. „Städte entwickeln und verändern sich ständig.“ Und wer weiß schon, welche Gebiete der Innenstadt morgen für Studenten und Künstler interessant sind, für jene, die als „Pioniere“ vielen Gentrifizierungsprozessen vorangehen? Wer konnte noch vor 20 Jahren ahnen, dass der Drang gerade junger Familien in die grünen Siedlungen am Rand der Städte sich umkehren würde und der Trend zurück in die Städte geht? Eine sich verändernde ökonomische Situation, flexible Arbeitsverhältnisse und die Ansiedlung solcher Wirtschaftszweige wie der IT-Branche, der Werbung und der Medien in den urbanen Zentren haben eine Rückkehr vor allem junger, gut ausgebildeter Menschen in die Stadt gefördert.
Susanne Frank, Soziologin der Universität Dortmund, verweist auf einen besonderen Aspekt der Gentrifizierung: „Der Prozess führt auch zu einer Dynamik in Familien- und Partnerschaftsmodellen: Gentrifizierung weicht die traditionelle Rollenverteilung auf.“ Gerade Frauen, so Susanne Frank, seien in dieser Entwicklung ein entscheidender Motor: gut ausgebildet, berufstätig, karriereorientiert. Sie suchen nicht nur den schnellen Zugang zu Freizeit- und Kulturmöglichkeiten. Sie brauchen für einen ökonomisch gestalteten Familienalltag kurze Wege und gute Versorgungssysteme. Sie knüpfen ihre eigenen Netzwerke – und bauen so den Kiez auf ihre Art um. Talja Blokland: „Irgendwann wird die Frage: ,Was braucht ein Viertel?’ eben nur noch von der Mittelschicht beantwortet.“ Das kann bedeuten, dass in die Räume der Schülerhilfe oder der Arbeitslosenberatung ein Kurs für Baby-Yoga einzieht. Und eben, dass viele der ehemaligen Bewohner mit ihrer Sozialstruktur an den Rand und aus dem Viertel herausgedrängt werden.
Freilich: „Wenn die Stadt allen gehört, dann gehört sie auch der libanesischen Familie mit fünf Kindern“, so die Soziologin. „Die wollen genau wie Mittelstandsfamilien einen schönen Spielplatz und saubere Straßen. Aber das geht nur, wenn für alle bezahlbarer Wohnraum vorhanden ist.“
Die für die Berliner Innenstadt immer noch typische Form der Durchmischung zu erhalten, so David Eberhardt vom BBU, sei die Aufgabe, die sich die Politik auf die Fahnen schreiben müsse. „Es muss gezielt Wohnraum zu niedrigen Mieten vorgehalten werden. Wir brauchen in Lagen wie am Südkreuz auch nicht noch mehr Büros und Hotels, sondern bezahlbaren Wohnraum!“
Rosemarie Mieder
Wie verläuft ein Gentrifizierungsprozess?
Andere Rahmenbedingungen, andere Entwicklungen
Gentrifizierung ist der Austausch einer statusniedrigeren Bevölkerungsgruppe durch eine mit einem höheren Status und mit höherem Einkommen. Sie beginnt mit dem Zuzug von „Pionieren“, zumeist Studenten und alternativen Künstlern. Die machen den Kiez interessant für Investoren, die die Bausubstanz aufwerten und so die Basis für den Zuzug sogenannter „Gentrier“ legen.
Es sind nicht nur die sukzessive steigenden Mieten, die die ursprünglichen Bewohner in andere Gebiete abdrängen, sondern auch die Einkehr eines neuen Lebensstils. Das führt langfristig innerhalb der Stadt zu einer zunehmenden Segregation, das heißt Entmischung der Bevölkerung. Sozial ähnliche Gruppen konzentrieren sich mehr und mehr in bestimmten Gebieten, wo sie untereinander bleiben.
Am Beginn eines Gentrifizierungsprozesses – soweit herrscht Einigkeit unter den Wissenschaftler – steht eine Wertsteigerung innerhalb eines bestimmten Gebietes. Welche Strukturen und Akteure jedoch eine solche Wertsteigerung von Wohnraum oder Boden auslösen, scheint in verschiedenen Ländern und unter verschiedenen stadtentwicklungspolitischen Bedingungen unterschiedlich zu sein.
rm
MieterMagazin 1+2/11
Foto: Christian Muhrbeck
Die Londoner Docklands gelten als klassisches Beispiel eines Gentrifizierungsprozesses
Foto: Arpingstone
Die Innenstadtbewohner der tchechischen Hauptstadt Prag erlebten nach 1989 eine Verdrängung durch ausländische Investoren
Foto: Wikipedia
Künstler und Studenten sind häufig die Vorboten von Aufwertungsprozessen – Tacheles in Berlin
Foto: Christian Muhrbeck
Käthes neue Nachbarn –
Gentrifizierung am Beispiel Kollwitzplatz
Der „Kolli“ war schon zu DDR-Zeiten eine besondere Adresse. Hier lebten Intellektuelle und Kreative, Aussteiger und Oppositionelle und schufen eine für Ost-Berlin ungewöhnliche Szene. Deren Ruf, aber auch das bauliche Potenzial des verfallenen Gründerzeitkiezes, riefen nach dem Mauerfall Investoren auf den Plan. Bald verhüllten Baugerüste ganze Straßenzüge. Wo die Hüllen fielen, zogen Besserverdiener ein. Der Prozess des Bewohneraustauschs, der sich hier wie im Reagenzglas vollzog, läuft im Kreuzberger Gräfekiez, um die Bergmannstraße oder entlang der Schöneberger Akazienstraße deutlich langsamer ab. Die Konsequenzen jedoch sind meist die gleichen: Wer mit einem geringen Einkommen in Gegenden „mit Aufwertungspotenzial“ lebt, läuft früher oder später Gefahr, weichen zu müssen.
Breit ausladend und irgendwie wuchtig sitzt sie auf ihrem Sockel und schaut hinüber auf helle, schön sanierte Gründerzeitfassaden. „Det soll Käthe sein?“, lauteten einst bissige Kommentare, als das Denkmal der Künstlerin Käthe Kollwitz 1960 enthüllt worden war. Damals lebten schon längst nicht mehr jene hier, für die die Häuser im südlichen Teil Prenzlauer Bergs um 1900 einmal gebaut worden waren. Anstelle höherer Beamter, gut bezahlter Angestellter und Vorarbeiter waren Arbeiter aus volkseigenen Betrieben, Künstler und Wissenschaftler eingezogen. Wer am „Kolli“ von der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) oder seinem Betrieb oder Institut Wohnraum zugewiesen bekam, wem irgendwie ein Ringtausch gelungen war oder wem es gelang, eine leer stehende Wohnung im Hinterhaus einfach zu „besetzen“, der konnte sich glücklich schätzen. Der nahm auch in Kauf, dass der klamme Staat DDR dem Kiez jahrzehntelang nicht viel mehr als ein Denkmal zu bieten hatte und rüstete sich privat gegen den Verfall – mit baulicher Eigeninitiative, mit subversiven Ideen, mit einer künstlerischen Szene, wie sie so an kaum einem anderen Ort zu finden war.
„Der Ruf des Kollwitzplatzes tönte über die Mauer hinweg“, erinnert sich Sigmar Gude. Der Soziologe, der für das Stadtplanungsbüro Topos arbeitet und in den 80er Jahren schon die Veränderungen in Kreuzberg untersuchte und beobachtete, war nach dem Mauerfall 1989 dann auch schnell vor Ort, um sich umzusehen. „Und mir war bald klar: Hier würde sich eine einschneidende Entwicklung vollziehen.“ Der „Kolli“ war wie ein Magnet, der erst einmal Studenten und alternative Künstler anzog. Man konnte zusehen, wie buchstäblich über Nacht Kneipen und Cafés in leere Parterrewohnungen zogen, wie an schäbigen Wänden auf einmal Bilder und Fotos hingen und die tristen Räume zu Galerien erklärt wurden. Wie eine wilde Clubszene entstand, die sich mit jeder Woche zu wandeln schien.
Sigmar Gude: „Die ersten Akteure kamen übrigens aus Ost-Berlin und der einstigen DDR. Erst ab 1994 traten einkommensstärkere Wessis auf den Plan.“ Da war die Gegend schon Sanierungsgebiet. Die marode Bausubstanz verlangte geradezu nach finanzstarken Investoren – und sie hatte einiges zu bieten. Denn noch immer war Käthe von großartiger Gründerzeit umgeben.
So wie am Kollwitzplatz liefen die Prozesse auch an anderen Stellen der Ost-Berliner Innenstadt ab: In der Spandauer Vorstadt beispielsweise, einem Gebiet nahe dem Alexanderplatz, zwischen Karl-Liebknecht-Straße, Torstraße und Friedrichstraße. Vor allem das einstige Scheunenviertel um die Große Hamburger Straße, Linien- und Auguststraße lockte mit leeren verfallenden Häusern, mit interessanten Gewerbehöfen und überraschenden Baulücken. Eine Straße wurde nahezu sofort nach der Wende auch für Touristen aus aller Welt der Anziehungspunkt Ost-Berlins schlechthin: die Oranienburger mit ihren Kellerkneipen, den Prostituierten und der wilden autonomen Ruine des „Tacheles“.
Dass mit dem Einzug der Szene auch ein Auszug begann, wer wollte das zu Beginn der 90er schon wirklich wahrnehmen? Am Kollwitzplatz waren Studenten die ersten, die bereitwillig das Feld räumten. Nach Untersuchungen des Stadtforschers Sigmar Gude zogen sie „eine Tür weiter“, in preiswerte Wohnungen der umliegenden Gebiete, beispielsweise nach Pankow. Aber nach und nach machten auch viele der anderen Mieter Platz. Die meisten mussten nicht einmal dazu gezwungen werden: Mit einer Abfindung von einigen tausend DM waren viele froh, endlich aus der Wohnung mit der Ofenheizung heraus zu kommen, andere wichen mit einem Umzug zermürbenden Sanierungsarbeiten aus. Gab es doch in der Stadt noch genügend preiswerten und teils auch schon modernisierten Wohnraum. Und für nicht wenige erfüllte sich endlich der Traum vom eigenen Häuschen im Grünen. Sigmar Gude: „Im Gegensatz zu Kreuzberg ist festzustellen, dass hier alles sehr ruhig, sehr brav und mit großem Vertrauen in den Staat ablief.“ Sie sahen sich zumeist eben nicht als „Vertriebene“, die Bewohner des „Kolli“.
In kaum zehn Jahren war der Bevölkerungsaustausch über die Bühne. Nun wohnen hier die deutlich besser Verdienenden: Das Einkommen, 1993 noch ein Drittel unter dem Berliner Durchschnitt, hatte diesen schon sieben Jahre später hinter sich gelassen und liegt heute 30 Prozent darüber.
Mit zwei großen Erhebungen untersuchte das Stadtplanungsbüro Topos über zehn Jahre die Situation im Gebiet der Bergmannstraße Nord, der Gegend zwischen Mehringdamm, Marheineke-Kiez und Südstern, einem attraktiven Gründerzeitquartier, ganz ähnlich dem im Prenzlauer Berg.
Die Erhebung erfragte die Einwohnerstruktur, Berufe und Einkommen, die Haushaltsgrößen, aber auch Herkunft, Wohndauer, Freizeitverhalten, die sozialen Netzwerke und Nachbarschaften. Festgestellt wurde ab Ende der 90 Jahre ein Zuzug von Einkommensstärkeren. Seit 2006 sind das vor allem viele Einpersonenhaushalte. Sie stellen inzwischen mehr als die Hälfte aller Haushalte im Gebiet. Auch wenn das Quartier noch immer durchmischt ist, Bewohner mit Migrationshintergrund, Rentner, Familien mit Kindern, viele Menschen mit niedrigem Einkommen hier wohnen – im Zuge der Modernisierung um die Bergmannstraße Nord hat eine spürbare Bewegung und ein Bewohnerwechsel stattgefunden. In nur 24 Prozent der modernisierten Wohnungen finden sich noch die ursprünglichen Haushalte, die anderen sind umgezogen – wenn auch zumeist erst einmal in eine andere noch nicht modernisierte Wohnung im Gebiet. Aber mit zunehmender Modernisierung könnte sich auch das ändern. Etwa ein Fünftel der Haushalte im Gebiet Bergmannstraße Nord, so stellt die Studie fest, seien derzeit von Verdrängung bedroht, weil sie mit einem geringen Einkommen in Wohnungen mit „Aufwertungsspielraum“ wohnen. Und wenn Investoren und Vermieter den nutzen, steigt die Miete – bis sie eben für den einkommensschwächeren Teil des Bevölkerungs-Mixes nicht mehr bezahlbar ist.
Sigmar Gude: „Gleichzeitig bringt das soziokulturelle Entwicklungen mit sich, stößt Lebens- und Freizeitprozesse an, verändert Infrastruktur und Konsummöglichkeiten.“ Noch funktionieren um die Bergmannstraße Nord die alten gewachsenen Nachbarschaften, noch hat sich die soziale und kulturelle Infrastruktur nicht wesentlich geändert. Das mag daran liegen, dass gerade das Gebiet um den Marheinekeplatz lange schon ein gewachsener, lebendiger Kiez war, mit gemütlichen Kneipen und Cafés, mit kleinen Läden und Boutiquen. Kein Verfall, keine Konsumwüste wie etwa im Ostteil der Stadt nach der Maueröffnung, wo neue Projekte und Aktivitäten wie von einem Schwamm aufgesaugt wurden. Wo Veränderung nicht nur möglich, sondern auch bitter nötig war.
Ist eine solche Entwicklung wie in der Berliner Mitte auch in den Vierteln Neuköllns vorstellbar? Hat sie vielleicht schon begonnen? Zur jüngsten Untersuchung von Topos gehört eine Erhebung über das Gebiet Richardplatz-Süd. Hier leben knapp 12.000 Menschen, die meisten sind zwischen 25 und 45 Jahren alt – sie wohnen in Ein- oder Zweipersonenhaushalten. Auch wenn hier keine hochherrschaftlichen Gründerzeitbauten die Regel sind – der gepflegte Richardplatz mit seinem noch dörflichen Charakter hat Charme und auch die Straßen ringsum gehören zu den besseren Gegenden Neuköllns. Überdurchschnittlich viele, die hier leben, so stellt die Studie fest, sind arm: 28 Prozent der Haushalte. Wie überall betrifft es mehr ausländische, aber auch 20 Prozent der deutschen Haushalte stehen auf Hartz-IV-Niveau. Die Mieten sind in den letzten drei Jahren um 13 Prozent angestiegen, bei Neuvertragsabschlüssen sind die Anstiege noch deutlich größer. Seit 2007 verzeichnet die Gegend Zuzug. Zumeist sind es Studenten, die die noch immer preiswerteren Quartiere Neuköllns für sich entdecken.
„Studenten sind ja die flexibelste Gruppe“, stellt Sigmar Gude fest. „Sie wohnen in der Regel auf Zeit in einer solchen Gegend – und sie haben auch schnell ihr Bündel gepackt und ziehen weiter, wenn es zu teuer wird.“ Aber sie haben einen Teil ihrer Freizeit im Gepäck, ziehen Aussteiger, Kulturabenteurer, Szene-Siedler nach. Sie gehören zu jenen „Pionieren“, so die Sozialstudie, die – zusammen mit der Mietentwicklung – eine erste Stufe der Gentrifizierung einläuten können.
Wie viel Zeit vergeht von ihrer Ankunft bis zur Eröffnung der ersten Clubs und Mojito-Bars? Und dann bis zum Einzug von Espressomaschinen-Verkäufern, Bio-Händlern, Schokoladenmanufakturen und Wohndesignern?
„Ich bin mir der weiteren Entwicklung nicht sicher“, sagt Sigmar Gude. „Auch, weil längst nicht mehr so viele gut verdienende junge Leute in diese Stadt streben, wie das in den 90er Jahren der Fall war.“ Dennoch, und da ist sich der Soziologe sicher, der Mietendruck, der auf den Innenstadtquartieren liegt, wird weiter wachsen. Derzeit sind es im Durchschnitt schon über 30 Prozent, was Haushalte von ihrem Einkommen für die Miete aufbringen müssen – Tendenz steigend. Dabei ist preiswerter Wohnraum, in den ausgewichen werden kann, längst nicht mehr so verfügbar wie noch vor 15 Jahren, als die ersten Bewohner den „Kolli“ verließen.
Rosemarie Mieder
Interview mit dem Stadtforscher Sigmar Gude:
„An der Grenze der Mietzahlungsfähigkeit“
Der Soziologe Sigmar Gude arbeitet beim Institut Topos im Bereich der Stadtforschung.
MieterMagazin: Über Gentrifizierung wird in Berlin heiß diskutiert. Kann man genau sagen, wo solche Prozesse in der Stadt ablaufen oder ablaufen werden?
Sigmar Gude: Dazu sind umfangreiche Untersuchungen notwendig. Allein steigende Mieten, die alteingesessene Bewohner verdrängen, reichen als Indiz nicht aus. Gentrifizierung ist ja nicht einfach nur der Austausch von Bevölkerung, sie hat soziokulturelle Folgen, verändert bisherige Lebens-, Freizeit- und Konsummöglichkeiten, zerstört alte Nachbarschaftsbeziehungen und schafft neue. Das heißt, dass solche Prozesse in der Regel über lange Zeiträume ablaufen – und nicht jede beginnende Gentrifizierung läuft auch bis zum Ende durch.
MieterMagazin: Aber in Ihren Untersuchungen weisen Sie immer wieder auf den gewachsenen Mietendruck hin, der oft schon am Beginn solcher Prozesse steht.
Sigmar Gude: Das ist richtig, aber diese Tendenz gilt eben generell: Wenn wir in den 80er Jahren noch durchschnittlich 15 bis 20 Prozent unseres Einkommens für Miete ausgegeben haben, sind es heute 30 Prozent. Damit sind viele an der Grenze ihrer Belastungsfähigkeit angekommen. Und ein Ende der Mietpreisentwicklung sehe ich noch nicht. Wenn sich Politiker und Medien deshalb auf das Thema Gentrifizierung einschießen, dann erfasst das nur einen Teil des Problems.
Interview: Rosemarie Mieder
MieterMagazin 1+2/11
Kollwitzplatz, Bergmannstraßen-Kiez, Rixdorfer Richardplatz: drei Quartiere – ein Szenario?
Fotos: Christian Muhrbeck
Sigmar Gude
Foto: Topos
Folgen der Gentrifizierung – Verdrängung allerorten
Mit der in West-Berlin entwickelten „behutsamen Stadterneuerung“ ist es in den 80er Jahren gelungen, Häuser zu sanieren, ohne die Bewohner zu verdrängen. Auf dem heute prosperierenden Berliner Wohnungsmarkt sind die Mieter schon durch gängige Mietsteigerungen und die jahrelange wohnungspolitische Untätigkeit des Senats bedroht. Verdrängung findet auch ohne Aufwertung statt. Die Gentrifizierung in einigen bevorzugten Stadtteilen ist dabei nur die Spitze des Eisbergs.
Berlins Wohngebiete waren im Vergleich mit anderen Städten immer stark sozial durchmischt. Dennoch gab es eine grobe Einteilung in bürgerliche Gegenden und Arbeiterviertel, die über viele Jahrzehnte relativ stabil blieb. Erste Ansätze einer Gentrifizierung, die dieses traditionelle Schema in Frage stellte, gab es in den 80er Jahren in Kreuzberg.
Mit dem Erfolg der Altbau-IBA (siehe Kasten: „IBA: Sanierung ohne Verdrängung“) wuchsen die Ängste vor einer „Yuppiesierung“. Es wurde schick, in Kreuzberg zu wohnen. Gleichzeitig entfiel 1987 die West-Berliner Preisbindung für Altbaumietwohnungen. Wohin sich die Mieten entwickeln sollten, zeigten etwa die Preise, die für ausgebaute Dachgeschosse verlangt wurden: Nach Recherchen des Berliner Mietervereins lagen sie 1988 im Schnitt bei 15,70 DM pro Quadratmeter – damals exorbitant hohe Preise. Der autonome Widerstand gegen die „Umstrukturierung“ und „Veredelung“ richtete sich zum Beispiel gegen ein „Schickimicki“-Restaurant in der Oranienstraße, das mit einem Kübel voller Fäkalien angegriffen wurde, aber auch gegen die Verfechter der behutsamen Stadterneuerung. So wurde das Büro des alternativen Sanierungsträgers „Stattbau“ verwüstet, ein taz-Redakteur attackiert und Kreuzbergs damaliger alternativer Baustadtrat Werner Orlowsky bedroht.
Dass Kreuzberg der Yuppiesierung – das Wort Gentrifizierung war damals noch nicht geläufig – entging, liegt vor allem am hohen Fördermitteleinsatz, ist aber auch dem Fall der Mauer zu verdanken. Ab 1990 gerieten dann sofort die Ost-Berliner Altbaubereiche in den Fokus der Immobilienentwickler. Vor allem die Innenstadtbezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain boten mit ihren teilweise stark heruntergekommenen Altbaubeständen ein enormes Aufwertungspotenzial mit gigantischen Mietsteigerungsmöglichkeiten. Ab 1994 kam die Sanierung des Ostens voll in Fahrt.
Die Modernisierung und Instandsetzung zehntausender Wohnungen war nach Überzeugung des Senats nicht mehr vom Staat allein zu bewältigen. Deshalb wurden die privaten Hauseigentümer mit ins Sanierungsboot geholt: Mit Fördergeldern wurden sie ermuntert, ihre Häuser zu erneuern. Als Gegenleistung erwartete der Senat, dass Miet- und Belegungsbindungen für einkommensschwache und sanierungsbetroffene Mieter eingehalten werden. Diese Sozialbindungen werden in der Praxis jedoch meist unzulänglich kontrolliert, so dass einige Eigentümer gebundene Wohnungen an nicht berechtigte Mieter zu überhöhten Preisen vermieteten. Das Förderprogramm zur Wohnungssanierung ist bereits 2001 eingestellt worden.
Der Versuch der Altbezirke Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Lichtenberg und Pankow, die sanierungsbedingten Mietsteigerungen ab 1998 mit einer allgemeinen Mietobergrenze zu beschränken, schlug fehl. Die Mietobergrenze wurde von Anfang an von den Eigentümern bekämpft und 2006 endgültig vom Bundesverwaltungsgericht kassiert. Seither steht den Bezirken in den Sanierungsgebieten kein wirksames mietendämpfendes Instrument mehr zur Verfügung.
Doch auch ohne Modernisierungen steigt das Mietniveau stark an. Das deutsche Mietrecht erlaubt, alle drei Jahre die Grundmiete um 20 Prozent anzuheben, solange die ortsübliche Vergleichsmiete nicht überschritten wird. Bei Neuvermietungen kann die Miethöhe vom Vermieter ohne Beschränkung frei festgelegt werden. Diese Mietsteigerungsmöglichkeiten werden weidlich ausgenutzt und schlagen auch bei der Berechnung der jeweiligen Mietspiegel zu Buche. Was dort als ortsübliche Vergleichsmiete abgebildet wird, bildet in den folgenden Jahren den Rahmen für weitere Mieterhöhungen. „Schon die ganz normale Mietsteigerung führt zu einer oft unzumutbaren Wohnkostenbelastung“, sagt Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins.
Verschärft wird die Lage durch die jahrelange wohnungspolitische Lethargie des Senats. Die Möglichkeit, über die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften einen mietpreisdämpfenden Einfluss auf den Wohnungsmarkt zu nehmen, wurde nicht genutzt. Statt dessen sind öffentliche Wohnungen im großen Stil verkauft worden. Von 1997 bis heute sank der Bestand städtischer Wohnungen von 450.000 auf 270.000. Die Käufer, oft international agierende Finanzinvestoren, nutzen alle Mieterhöhungsspielräume aus, damit sich die Investition so schnell wie möglich bezahlt macht und die hohen Renditeerwartungen ihrer Geldgeber erfüllt werden.
Ein beliebtes Mittel dazu ist die Umwandlung der Miet- in Eigentumswohnungen. Vor allem in den attraktiven innerstädtischen Vierteln steigt der Eigentumsanteil stark an. Dadurch werden viele Wohnungen dem Mietwohnungsmarkt entzogen. Zur Verknappung günstigen Wohnraums trägt auch die zunehmende Umnutzung bei. Das Verbot der Zweckentfremdung wurde 2002 vom Oberverwaltungsgericht außer Kraft gesetzt, weil – so das richterliche Argument – über die ganze Stadt gesehen kein Wohnungsmangel herrschte. Auch als in den City-Bezirken immer mehr Wohnungen zu Ferienapartments, Büros und Arztpraxen wurden, sah der Senat keinen Grund, gesetzgeberisch tätig zu werden. Die Leerstandszahlen, die immer wieder als Argument für die Untätigkeit der Landesregierung herhalten mussten, wurden bis heute trotz fundierter Zweifel nicht genauer hinterfragt.
Die Hartz-IV-Gesetze fördern ebenfalls die soziale Entmischung. Die Kriterien, welche Wohnungsgrößen und Mietpreise für Langzeitarbeitslose als angemessen gelten, führen dazu, dass die innerstädtischen Altbauquartiere über kurz oder lang zu „Hartz-IV-freien Gebieten“ werden.
In der Summe haben diese Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte bewirkt, dass ärmere Bewohner in innerstädtischen Quartieren ihre Miete nicht mehr bezahlen können und sich in anderen Gegenden eine billigere Wohnung suchen müssen. Auf dem boomenden Berliner Immobilienmarkt funktionieren also Verdrängung und Segregation auch ganz ohne die typischen Gentrifizierungsprozesse und beileibe nicht nur in den gentrifizierungsverdächtigen Szenekiezen. „Wir brauchen eine behutsame Stadtentwicklung, die sich auch an den Bedürfnissen der ansässigen Bevölkerung orientiert“, erklärt Reiner Wild. „Das ist in Berlin vielfach nicht der Fall.“
Jens Sethmann
Sanierung ohne Verdrängung:
Internationalen Bauausstellung (IBA) von 1987
Nach Protesten gegen die Kahlschlagsanierung und massenhaften Hausbesetzungen legte sich West-Berlin 1983 auf die behutsame Stadterneuerung fest, die den Mietern das Bleiben in ihren Häusern ermöglichen sollte. Dieser neuartige Ansatz wurde ein zentraler Bestandteil der Internationalen Bauausstellung (IBA) von 1987, deren Aktivitäten in Kreuzberg konzentriert wurden. Mit hohem Einsatz von öffentlichen Fördermitteln – zuletzt 380 Millionen DM im Jahr 1989 – wurden die Altbauten so modernisiert, dass die Bewohner auch weiter ihre Miete zahlen konnten. Dazu wurden auch oft die Ofenheizungen beibehalten und nicht durch eine Zentralheizung ersetzt. Die Einstiegsmiete für erneuerte Altbauwohnungen lag um 2,20 DM pro Quadratmeter niedriger als im Sozialen Wohnungsneubau. „In den Wohnungen, die saniert worden sind, leben nach der Erneuerung noch 95 Prozent der Mieter, die auch vorher dort gewohnt haben“, lautete 1984 die Zwischenbilanz von Günter Fuderholz, den IBA-Koordinator für die Luisenstadt. „Nur fünf Prozent haben das Gebiet verlassen, und zwar in allen Fällen freiwillig.“ Die Altbau-IBA zur „Rettung der kaputten Stadt“ erntete deshalb international große Anerkennung.
rm
MieterMagazin 1+2/11
In attraktiven innerstädtischen Lagen findet eine Verdrängung der ursprünglichen Bevölkerung auch durch Umwandlung in Eigentumswohnungen statt
Foto: Christian Muhrbeck
Die Umnutzung von Wohnraum zu profitableren Gewerbezwecken sorgt für weitere Marktanspannung in citynahen Lagen.
Foto: Christian Muhrbeck
Auch die Hartz-IV-Regularien sorgen für eine Entmischung der Bevölkerung in der Innenstadt.
Foto: Sabine Münch
Berliner Umbrüche der 80er Jahre: Hausbesetzerbewegung und Abkehr von der Kahlschlagsanierung in Kreuzberg
Fotos: Archiv MieterMagazin
Gentrifizierung – Tatenlosigkeit kommt teuer
Eine ungebremste Gentrifizierung stellt nicht nur die betroffenen Stadtteile und ihre Bewohner, sondern auch die ganze Stadt vor neue Schwierigkeiten. Zum Eingreifen stehen der Politik nur begrenzte Mittel zur Verfügung. Der Wille, sie einzusetzen, ist aber noch begrenzter. Teilweise erkennen Politiker Gentrifizierung noch nicht einmal als Problem.
Tatenloses Zusehen kann Berlin auf lange Sicht teuer zu stehen kommen. Eine fortschreitende Gentrifizierung tauscht nicht nur einen Großteil der Bewohner aus, sie hat in der Folge auch erheblichen Einfluss auf die öffentliche Infrastruktur. Die zuziehende Bevölkerung ist verhältnismäßig homogen: Hochqualifizierte, berufstätige und gut verdienende Menschen im Alter zwischen 30 und 45 Jahren mit Kindern. Die Schulen, Kitas und Spielplätze, die deshalb neu eingerichtet oder wiedereröffnet wurden, könnten jedoch schon bald wieder überflüssig werden, wenn die Bevölkerung gemeinsam älter wird. Um sicherzustellen, dass Investitionen der öffentlichen Hand auch auf Dauer nutzbringend sind, muss die Stadtentwicklungspolitik eine möglichst gemischte Bevölkerungszusammensetzung in allen Stadtteilen im Auge haben.
Wichtig ist das auch, um eine lebendige Stadt zu erhalten. Wenn es nur noch Weinläden, Yoga-Studios und Latte-Macchiato-Cafés gibt, aber keine Trödler, Handwerksbetriebe oder Punk-Kneipen mehr, dann macht sich im Stadtteil distinguierter Wohlstand und gepflegte Langeweile breit. Für eine Stadt, die sich gern als aufregend und unkonventionell darstellt, wäre das ein großer Attraktivitätsverlust.
Auch mit Blick auf die gesamte Stadt ist es wichtig, Gentrifizierungsprozesse abzubremsen. Wenn einkommensschwache Haushalte woanders eine Wohnung neu anmieten müssen, zieht das oft höhere Wohnkosten nach sich. Viele Betroffene müssen dann Wohngeld und Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Die öffentliche Hand muss also mehr Geld ausgeben, um das Wohnen abzusichern.
Die fortschreitende Aufspaltung Berlins in arme und reiche Stadtviertel, die schon seit Jahren durch das „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ des Senats festgestellt wird, birgt großen gesellschaftlichen Sprengstoff. Dass es in Berlin noch sozial durchmischte Stadtteile gibt, ist ein Garant dafür, dass sich nicht – wie zum Beispiel in den Pariser Vorstädten – der Frust der Ausgegrenzten in gewalttätigen Unruhen entlädt.
„Aufwertung ist nicht grundsätzlich falsch“, sagt Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins (BMV). „Man muss aber so viele Bewohner wie möglich an der Entwicklung teilhaben lassen.“ Der BMV fordert, die Mieter in den Aufwertungsgebieten zum Beispiel mit Milieuschutzverordnungen zu schützen, aber auch die Mietbelastung der Haushalte insgesamt im Auge zu behalten. „Ganz verhindern kann man die Gentrifizierung nicht, aber man kann die Entwicklung abdämpfen“, so Reiner Wild.
Die Bereitschaft der Politik, in die Mechanismen des Immobilienmarktes einzugreifen, ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten beharrlich gesunken, gleich wer im Bund und in Berlin regierte. Das fehlende Geld der öffentlichen Hand ist nur ein Grund. Der Politik fehlen auch die rechtlichen Mittel, der sie sich allerdings oft selbst beraubt hat.
Der Milieuschutz ist gegen Gentrifizierung eigentlich das Instrument schlechthin. Doch er ist ein stumpfes Schwert geworden, nachdem die Bundesregierung das Baugesetzbuch im Jahr 1998 geändert hat. Bis dahin konnten in Milieuschutzgebieten Modernisierungsmaßnahmen versagt werden, wenn dadurch die Zusammensetzung der Bevölkerung gefährdet wurde. Seit 1998 muss jede Maßnahme, die einem zeitgemäßen Ausstattungsstandard dient, genehmigt werden, und die Mieter müssen die Modernisierungskosten tragen. Mit dem Milieuschutz kann man nur noch Luxussanierungen verhindern. Die Berliner Bezirke machen davon in unterschiedlichem Maße Gebrauch. So gibt es in Prenzlauer Berg acht Milieuschutzgebiete, Kreuzberg steht zu etwa zwei Dritteln unter diesem Schutz. Der Bezirk Mitte hat hingegen kapituliert und 2007 für die Friedrich-Wilhelm-Stadt den Milieuschutz aufgehoben, weil das schutzwürdige Milieu bereits weitgehend verdrängt worden war.
Seit 1998 können die Bundesländer in Milieuschutzgebieten die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen für bis zu fünf Jahre verbieten. Im Gegensatz zum Hamburger Senat, der diese Möglichkeit erfolgreich nutzt, um einen mietpreistreibenden Faktor auszuschalten, macht Berlin davon keinen Gebrauch.
Die behutsame Stadterneuerung der 80er Jahre, bei der die Mieten mit großem Fördermitteleinsatz niedrig gehalten werden konnten, ist Geschichte. Die Förderprogramme wurden 2001 abgeschafft. Spätestens seitdem es auch keine wirksamen Mietobergrenzen mehr gibt, werden die ausgewiesenen Sanierungsgebiete mehr als Gentrifizierungsgebiete wahrgenommen. Dabei könnte man mit dem Sanierungsrecht auch heute noch durchaus die Mietsteigerungen begrenzen, indem man zum Beispiel die bauliche Ausnutzung beschränkt oder Luxussanierungen nicht genehmigt.
Ein Sozialer Wohnungsbau, mit dem gezielt bezahlbare Wohnungen geschaffen werden könnten, findet seit 1997 nicht mehr statt. Die gigantischen Summen, die dafür bei geringem Nutzen aufgewendet wurden, brachten die Idee der sozialen Wohnraumversorgung so nachhaltig in Misskredit, dass kaum jemand wagt, den Gedanken neu aufzunehmen.
Eine aktive Grundstückspolitik könnte indessen ebenfalls hilfreich sein. So könnte öffentliches Bauland gezielt an soziale Bauträger, städtische Wohnungsbaugesellschaften oder Genossenschaften vergeben werden, damit sie hier preiswerte Wohnungen bauen. Der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) setzt auf diese Karte, um das Wohnungsangebot zu vergrößern. Doch der -Senat vergibt landeseigene Flächen – mit Ausnahme einer Handvoll ausgewählter Grundstücke für Baugruppen – über den Liegenschaftsfonds an den Meistbietenden. Sozialverträgliche Bauvorhaben, mit denen nicht so viel Geld verdient werden kann, kommen dabei nie zum Zuge.
In einigen Punkten ist der Senat aufgewacht. Im November startete er eine Bundesratsinitiative zur Änderung des Mietrechts, nach der die Mietsteigerungsmöglichkeiten eingeschränkt werden sollen. Außerdem kündigte man an, dass sich die landeseigenen Wohnungsunternehmen bei Neuvermietungen künftig am Mietspiegel orientieren sollen. Bisher haben diese Gesellschaften teils kräftig an der Preisschraube mitgedreht.
Um ein so facettenreiches Problem wie die Gentrifizierung in den Griff zu bekommen, müssen auf allen Ebenen die einzelnen Möglichkeiten zum Gegensteuern genutzt werden. Nur so kann die soziale Durchmischung und die lebendige Vielfalt, die es in Berlin im Gegensatz zu vielen anderen Großstädten noch gibt, erhalten werden.
Jens Sethmann
Politik und Gentrifizierung: Gefahr erkannt?
Der Berliner Senat tut sich schwer, Gentrifizierung als problematische Entwicklung anzuerkennen. Selbst in einem Stadtteil wie dem ehemaligen Sanierungsgebiet Kollwitzplatz, wo die Verdrängung der Altbewohner augenfällig ist, wird das Thema umschifft: „Das Leben ist in diesem Gebiet lebenswert, die Bausubstanz ist gut, die Menschen fühlen sich wohl“, lautete 2009 die Erfolgsbilanz von Wolf Schulgen, Leiter der Abteilung Wohnungswesen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Auch Senatorin Ingeborg Junge-Reyer lobt die Kollwitzplatz-Sanierung lieber als „Beispiel familienfreundlicher und nachhaltiger Stadtentwicklung“, als sich die sozialen Folgen anzusehen.
Dass die Gentrifizierung vor allem aus der linken Ecke kritisiert und oft als Kampfbegriff gebraucht wird, macht es den etablierten Stadtpolitikern leicht, sie als Spinnerei abzutun.
Die Berliner CDU spricht von einer „Geisterdebatte“: „Von einer Mietenexplosion kann keine Rede sein. Die in ausgewählten Kiezen steigenden Mieten sind nicht pauschal auf die Mietenentwicklung im gesamten Stadtgebiet zu übertragen“, sagt Matthias Brauner, wohnungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion. Mit Blick auf die Bundesratsinitiative des Senats erklärt er: „Im Grunde geht es Rot-Rot nur um die Mietenentwicklung in wenigen Szenekiezen und damit um reine Klientelpolitik.“
Die Berliner FDP hält Gentrifizierung sogar für begrüßenswert. Im April 2010 stellte sie im Abgeordnetenhaus den Antrag, eine „Revitalisierung“ zu unterstützen, „auch in Form von Gentrifizierung, um eine vielfältige und sozial durchmischte Stadt zu ermöglichen“. Als gute Beispiele nennen die Liberalen ausgerechnet die schon weitgehend entmischten Gebiete Spandauer Vorstadt und Kollwitzplatz.
js
MieterMagazin 1+2/11
Prenzlauer Berg, Kreuzberg: Aufwertung ist nicht per se falsch, braucht aber eine lenkende Hand, zum Beispiel in Form des Milieuschutzes
Fotos: Christian Muhrbeck
Ohne durchmischte Bevölkerung wird die gerade reaktivierte Schule morgen vielleicht schon wieder überflüssig sein (Beispiel Scharnweberschule in Friedrichshain)
Foto: Christian Muhrbeck
Gentrifizierung – Buchtipps
Gentrifizierung kurz erklärt
Wie der Prozess der Gentrifizierung funktioniert, welche Auswirkungen er hat und wie verschiedene Stadtteilbewegungen sich dagegen wehren, zeigt der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm kurz und knapp in seinem Buch „Wir Bleiben Alle!“ auf. Welche Konflikte bei der Aufwertung und Verdrängung entstehen, erklärt der Autor verständlich und mit Beispielen aus Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main und anderen Städten. Gentrifizierung war schon Holms Forschungsgebiet, bevor es zum Modethema wurde. Er war in der Betroffenenvertretung Helmholtzplatz aktiv und lehrt zurzeit an der Universität Oldenburg. Seit 2008 ist er Autor des „Gentrification Blog“
(http://gentrificationblog.wordpress.com).
js
Andrej Holm: Wir Bleiben Alle! Gentrifizierung – Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung, Unrast-Verlag, Münster 2010, 80 Seiten, 7,80 Euro
Gentrifizierung symbolisch gesehen
In kaum einem Stadtteil ist das Phänomen der Gentrifizierung so deutlich erkennbar wie in Prenzlauer Berg. Der Göttinger Soziologe Thomas Dörfler versucht in einer wissenschaftlichen Arbeit nachzuweisen, dass der Wandel dieses Soziotops nicht nur politisch und ökonomisch zu erklären ist, sondern dass auch eine „symbolische“ Verdrängung durch andere Lebensstile stattfindet. Auf Grundlage von Bewohnerinterviews zeigt das Buch, wie die Milieus der „Ost-Alternativen“ und Studenten von der „Bourgeoisen Boheme“ und den Kreativen in den Hintergrund gedrängt wurden.
js
Thomas Dörfler: Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989, transcript Verlag, Bielefeld 2010, 336 Seiten, 32,80 Euro
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13.05.2018