Der Countdown läuft: Berlin wird bald zum eisernen Energiesparen gezwungen. Ab 2021, so will es eine Richtlinie der EU aus dem Jahr 2010, sollen die Mitgliedsstaaten Niedrigst- oder Nullenergiehäuser als Standard für Neubauten einführen. Acht Jahre bleiben, um Null-Energiehäuser in Serie zu bauen. Berlin ist davon noch weit entfernt, doch an manchen Ecken der Hauptstadt tut sich etwas. In wenigen Monaten werden ein paar Energiesparer in das erste Mehrfamilien-Nullenergiehaus Berlins ziehen können.
Man stelle sich vor: Es ist Winter, der Wind weht eisig, auf den Straßen liegt Schnee. In der Wohnung müsste schon längst die Heizung aufgedreht sein, doch weit und breit ist keine zu sehen. Es gibt sie schlichtweg nicht.
Dies ist kein Rückblick ins 19. Jahrhundert, es ist eine Vorschau darauf, wie in klimaneutralen Städten künftig gewohnt werden kann. Denn viele Energiesparhäuser funktionieren mit einem speziellen Lüftungssystem, das eine Heizung erübrigt. In einigen deutschen Regionen wie rund um Hannover oder Frankfurt am Main gibt es davon bereits etliche Häuser, nur wenige aber in der Hauptstadt.
„Berlin ist auf diesem Gebiet ein Entwicklungsland“, sagt Architekt Christoph Deimel. Er hat sich mit seiner Kollegin Iris Oelschläger auf energiesparendes Bauen spezialisiert und errichtet gerade in der Boyenstraße in Mitte das erste Berliner Mehrfamilien-Nullenergiehaus. Im kommenden Frühjahr sollen die Käufer der 21 Wohnungen einziehen können.
Null Energie bedeutet nicht, dass gar keine Energie verbraucht wird, sondern dass das Haus nur ein Minimum verbraucht, das es auf dem Dach und im Keller wiederum selbst erzeugt. Auf dem Dach fängt eine Fotovoltaikanlage Sonnenlicht ein, im Keller verbrennt ein Blockheizkraftwerk Gas und produziert dadurch Strom und Wärme. Den Rest spart das Haus durch eine fast perfekte Dämmung ein. Die Außenwände sind ähnlich aufgebaut wie bei Fachwerkhäusern, wobei ausschließlich Holz verwendet wurde. Nur die tragenden Wände, das Gebäudeskelett, sind wegen des Brandschutzes aus Beton. Zur Wärmedämmung stehen Isofloc-Platten hinter der Holzwand, und die Fenster sind mit Dreifachverglasung ausgestattet. Das Haus wäre ein ziemlich abgeschotteter Raum, wenn da nicht ein kleines Gerät fast geräuschlos für Frischluft sorgen würde: Eine Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung.
Energiekosten halbiert
Es ist das Herz des Hauses, das die Luft durch die Zimmer pumpt wie Blut durch die Adern. Die frische Luft bläst es an der Decke in die Zimmer hinein, die verbrauchte Luft wird unter den Türen wieder abgezogen. Der Clou des Ganzen: Heizkörper sind überflüssig und doch wird es nie kalt. „Die Zimmer werden das ganze Jahr über eine Temperatur von 20 Grad haben“, versichert Deimel. Der Architekt weiß das nicht nur aus Skizzen und Berechnungen, sondern aus eigener Erfahrung. Seit drei Jahren wohnt er in Prenzlauer Berg in einem selbst entworfenen Passivhaus, ein besonders sparsames Niedrigenergiehaus. Das siebenstöckige Wohngebäude kommt ebenfalls ohne Heizung aus. Einziger Wermutstropfen: „Im Winter kann man die Temperatur im Schlafzimmer nicht besonders absenken, daran musste ich mich gewöhnen“, sagt er. Eine Kleinigkeit für ihn, nur ein Schulterzucken wert.
Auf der Haben-Seite steht für ihn der wichtigere Unterschied zum Normal-Neubau: Nur 15 Kilowattstunden Heizwärme braucht er pro Jahr und Quadratmeter. Im Nullenergiehaus in der Boyenstraße werden es dank nochmals verbesserter Dämmung sogar nur 12 Kilowattstunden sein. „Das Doppelte ist sonst der Durchschnitt“, sagt Deimel.
Entsprechend niedrig sind die Energiekosten. 50 Prozent werden die künftigen Bewohner der Boyenstraße 33/34 einsparen. Auch bei den Baukosten müssen sie nicht tiefer in die Tasche greifen als Bauherren durchschnittlicher Neubauten. Sie belaufen sich auf rund 2350 Euro pro Quadratmeter. Das ist am unteren Ende der Preisspanne für den Bau einer Eigentumswohnung in Mitte.
Langfristig gesehen werden die Bewohner in diesem Haus also um einiges günstiger leben als in einem Neubau, der noch auf eine Heizungsanlage setzt. Aber auch weil die Architekten Deimel und Oelschläger gut gehaushaltet haben, denn eigentlich gilt: Niedrigenergie-, Passiv- und Null-Energiehäuser sind teurer als normale Neubauten. Nicht weil das Bauen selbst mehr kostet, sondern weil wegen mangelnder Erfahrung großzügiger kalkuliert wird, wie die Architektin Monika Remann weiß, die in Potsdam eine Agentur für nachhaltiges Bauen betreibt.
Erst seit rund sieben Jahren werden in Berlin energiesparende Niedrig- oder Nullenergiehäuser errichtet. Anfangs wussten die Bauherren noch nicht, welche Richtung die ganze Entwicklung nehmen würde. Das Ganze war ein Experimentierfeld, und ist es, zumindest in Berlin, noch immer. Eines aber, das positivere Ergebnisse liefert, als von vielen erwartet wurde.
Beispiel: Arnimplatz. Dort in Prenzlauer Berg steht Berlins einziges Passivhaus, das als Mietshaus genutzt wird. Der Solar-Unternehmer Paul Grunow ließ es vor zwei Jahren für 41 Mietparteien bauen. Auch hier sorgt eine Lüftungsanlage für ausgeglichen warme Temperaturen in den Wohnungen, wenngleich für alle Fälle eine Heizungsanlage eingebaut wurde. „Von unserer Seite gibt es nur gute Erfahrungen“, sagt einer der Mieter, der seit März 2011 eine von Grunows Wohnungen bewohnt. Die Lüftungsanlage arbeitet zuverlässig gut, die Heizung hat er bisher noch kein einziges Mal benutzt. „Wir mussten sie auch im letzten Winter, als die Temperatur zwei Wochen lang bei minus 20 Grad lag, nicht anstellen – es war immer warm genug“, erzählt er. An die Geräusche der Lüftungsanlage hat er sich schnell gewöhnt: „Das ist wie leichtes Meeresrauschen.“ Jeder Verkehrslärm ist lauter. Den allerdings hört man kaum. Die Wände sind gut gedämmt. Den größeren Unterschied macht eher der Sommer als der Winter. Stundenlang das Fens-ter aufreißen und trotzdem im Kühlen sitzen, das macht eine Passivhaus-Wohnung nicht mit. Die Lüftungsanlage kann zu viel warme Sommerluft nicht schnell genug abtransportieren.
„Den ersten Sommer mussten wir uns noch etwas umgewöhnen, mittlerweile kommen wir damit gut zurecht“, sagt Grunows Mieter. Eine Risikounternehmung entpuppt sich als Erfolgsgeschichte. Warum aber ist es dann nach wie vor das einzige Passiv-Mietshaus in Berlin?
Imageproblem
Das Modell hat ein Imageproblem, vor allem bei Bauherren. Die Erfahrungen mit Öko-Häusern sind bisher gering, ein Mieter wird noch als potenzielles Problem gesehen. „Die Vermieter haben Angst, dass sie ständig angerufen werden, weil Mieter mit der neuen Technik nicht zurecht kommen“, vermutet Architektin Monika Remann. Dass das nicht der Fall ist, zeigt das Berliner Pilotprojekt am Arnimplatz: „Nach eineinhalb Jahren kann ich feststellen: Das Risiko ist nicht so hoch, wie es eingeschätzt wurde“, resümiert Vermieter Paul Grunow. Bisher hat er nur wenige Beschwerden mitbekommen. Das Fazit freut auch Monika Remann: „Ich hoffe, dass das Schwung in die Bude bringt.“
Wiebke Schönherr
MieterMagazin 11/12
„Bei Niedrigenergiehäusern ist Berlin Entwicklungsland“: Bauherr Christoph Deimel
alle Fotos: Christian Muhrbeck
Dreifachverglasung, Wärmerückgewinnung und Wärmedämmung machen Heizkörper überflüssig
www.passivhausprojekte.de/projekte.php
Zum Thema
Tag des Passivhauses
Wer schauen will, ob und wie es sich in einem Passivhaus gemütlich wohnen lässt, kann vom 9. bis 11. November hinter die Türen eines energiesparenden Hauses in Berlin oder Brandenburg blicken. Denn an diesem Wochenende findet deutschlandweit der Tag des Passivhauses statt. Bewohner sowie Bauherren und Architekten erzählen Interessierten, welche Erfahrungen sie mit ihren modernen Öko-Bauten gemacht haben, und zwar vor Ort in den selbst gebauten beziehungsweise selbst bewohnten vier Wänden. Besichtigt werden kann unter anderem ein Passiv-Reihenhaus in der Bernauer Straße 5, ein Passiv-Mehrfamilienhaus in der Bänschstraße 10 sowie ein Passiv-Einfamilienhaus in Neuenhagen bei Berlin.
ws
13.12.2015