Klassizistische Prachthäuser in sanften Erdtönen und verglaste Neubauten mit Blick auf Ostsee oder Mälarsee – dieses Stockholm-Bild, das jede IKEA-Cafeteria schmückt, bröckelt. Mietwohnungen sind rar geworden in der selbsternannten „Hauptstadt Skandinaviens“. Gerade mal 30 Prozent beträgt ihr Anteil am Wohnungsmarkt. In ein paar Jahren werden sie ganz aus dem Stadtbild verschwunden sein.
Als Antonio Cortazzo den zerknitterten Zettel hervorkramt, flackert die Bitterkeit für einen Moment wieder auf. Und die kommt nicht vom Espresso, für den der Italiener in der ganzen Stadt bekannt ist, sondern vom Stockholmer Wohnungsmarkt. Es ist eine Annonce, fein säuberlich aufbewahrt – eine „Kuriosität“, wie er sagt. „Vasastan, 3 Zimmer, 79 Quadratmeter, Miete: 8300 Kronen, ab sofort für ein Jahr“, liest er laut. Als der Architekt, der vor drei Jahren im Auftrag einer schwedischen Firma in die Stadt kam, dieses einzige Mietangebot im Immobilienteil der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter las, war er drauf und dran, seine Koffer zu packen. Arrividerci Svezia. Da hatte er schon eine zermürbende Odyssee quer durch Stockholm-City hinter sich: Provisionszahlungen bei vier verschiedenen Agenturen, sechs Umzüge in zwei Jahren und Untermietverhältnisse zum Wucherpreis. Cortazzo weiß, wovon er spricht: „Einen Laden aufzumachen, das war leicht. Eine Wohnung zu finden – unmöglich!“ Zusammen mit seiner Freundin Maria Trappolini betreibt er seit zweieinhalb Jahren ein kleines Café in Stockholms Nobelviertel Kungsholmen. Dass die beiden so lange durchgehalten haben, hat sich gelohnt: Der Laden brummt, Cappuccino und Delikatessen verkaufen sich bestens, die Catering-Aufträge erledigen inzwischen zwei Angestellte. Aber auf dem Wohnungsmarkt ging es den beiden Italienern wie vielen anderen. Es kommt nicht selten vor, dass hoch qualifizierte ausländische Arbeitskräfte, für die es hier einen Markt mit Zukunft geben könnte, die Stadt resigniert wieder verlassen, weil sie keine Bleibe finden.
Wer in Stockholm eine Wohnung sucht, braucht Geduld, starke Nerven und viel Zeit. Gegen Gebühr helfen private Agenturen wie „Bostaddirekt“ oder „Stockholmshem“ weiter. Allerdings ist die Chance auf einen Hauptmietvertrag gleich Null. Wer einen Hauptmietvertrag will, der muss oft sehr viel Geld dafür hinlegen. Oder er trägt sich in eine der vielen Wartelisten ein. Antonio und Maria hatten schließlich Glück. Nach acht Monaten Wartezeit machte die kommunale Wohnungsvermittlung ihnen ein Angebot. Etwas außerhalb der Stadt zwar, aber mit Hauptmietvertrag.
Die Lage habe sich in den letzten zwei Jahren ein wenig entspannt, meint Per-Ove Brogren, Pressechef des Stockholmer Mietervereins. Denn die Agentur habe es geschafft, zunehmend private Vermieter ins Boot zu holen. Rund ein Drittel der 10000 vermittelten Wohnungen im Jahr 2006 stammen aus privater Hand – ein kleiner Rekord, jubelte Dagens Nyheter. Dass immer noch 170.000 Menschen auf eine Wohnung warten – für Schwedens größte Tageszeitung nur eine Randnotiz. 275 Kronen (30 Euro) im Jahr kostet es, auf der Warteliste zu stehen.
Mit der Geburt auf die Warteliste
Birgitta Lund hat ihre Söhne, vier und zwei Jahre alt, gleich nach der Geburt angemeldet. Wenn die Jungen 20 Jahre alt sind, könnten sie auf eine Wohnung in Kungsholmen hoffen. Ob sie dann auch eine bekommen, ist allerdings fraglich – zumal die Regierung angekündigt hat, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen zu forcieren. Für Brogren eine besorgniserregende Tendenz: „Werden die Pläne tatsächlich umgesetzt, wird die Warteliste noch länger und der Bestand an Mietwohnungen geringer.“ Er findet zwar, das schwedische Modell habe auch seine Vorteile – stabile Mieten, sozial gerechtes Wohnen, fest verankerte Rechte. Aber in vier Jahren werde es in der Innenstadt keine Mietwohnungen mehr geben, prophezeit Peder Palmstierna, sein Kollege vom schwedischen Mieterbund.
„Hauptsache ein Dach über dem Kopf, oder? Da fragt man nicht, wo“, meint Palmstierna mit einer Mischung aus Ironie und Verzweiflung. Existenzielle Bedürfnisse haben individueller Wahlfreiheit offenbar schon lange den Rang abgelaufen im Kampf um eine Bleibe. Hinzu kommt: Was in den konservativ regierten Bezirken schon seit Jahren betrieben wird, die Umwandlung in Eigentumswohnungen, soll nun auch in den Vororten anlaufen.
Die traditionell von Einwanderern und sozial Benachteiligten bewohnten Randgebiete, meist triste Hochhausklötze mit wenig Grün, sollen so attraktiver werden. Dass dieses Ziel realistisch ist, bezweifelt Palmstierna. Seine düstere Prognose für die Zukunft: noch mehr Ausgrenzung statt Integration. Denn wer kauft schon eine Wohnung in einem sanierungsbedürftigen Haus?
Die Lösung? Palmstierna lächelt versonnen: „Ein vernünftiger Mix aus beidem, Eigentums- und Mietwohnungen, in allen Vierteln – das wäre die Lösung.“ Mietshäuser für Haushaltshilfen und deren Familien gleich neben den Immobilien der Reichen. Oder ein Reihenhaus zum Kaufen in Rinkeby und Tensta, Stockholms Problemvororten. Oder ein Haus mit Singlewohnungen für Studenten, einen Häuserblock vom schicken Villenviertel entfernt.
Wenn Stockholm in Zukunft immer weniger Wohnungen baut und die vorhandenen verkauft, und das bei steigendem Bedarf, dann ist das ganze System faul, findet Peder Palmstierna. „Es ist mir wirklich unangenehm, das so zu sagen, aber mal ehrlich: Was soll da am schwedischen Modell noch gerecht sein?“ Der Bruch in der bis dahin sozial ausgeglichenen schwedischen Wohnungspolitik kam nicht erst in den 90er Jahren mit Bankencrash und Wirtschaftskrise. Die Sozialdemokraten hätten den Subventionsabbau der Konservativen fortgesetzt. Die Kürzungen der Subventionen im Baugewerbe führten aus Sicht des Mieterbundes zu einer Krise im Wohnungsbau. Kleinere Unternehmen seien von den großen verdrängt worden. Ein wahres Paradies für Spekulanten. Im Januar 2007 ist die staatliche Investitionszulage ersatzlos weggefallen – ein Anreiz weniger, um Mietwohnungen zu bauen, meint Nils Olof Nilsson, Chef von „Skanska Miethäuser“.
Zurück zu den Eltern
Was bleibt? Überfüllte Wartelisten bei kommunalen und privaten Agenturen, immer wieder neue Adressen oder – vor allem für viele junge Leute oft der einzige Ausweg – zurück zu den Eltern. Susanna Eliasson zog es nach zehn Jahren als Musikpädagogin in München in ihre Heimatstadt Stockholm zurück. Kurz vor der Einschulung ihrer Tochter blieb der alleinerziehenden Mutter nur noch eine Wahl: Schulden machen bei den Eltern für eine Eigentumswohnung. Mit knapp 40 keine leichte Entscheidung. Inzwischen geht ihr Kind im gutbürgerlichen Stadtteil Nacka zur Schule. Susanna hat ihr Zuhause gefunden, aber ein mulmiges Gefühl bleibt. Antonio und Maria wollen nicht in Schweden bleiben. Höchstens noch ein Jahr, dann packen sie die Koffer. Ihre Erfahrungen auf Stockholms Wohnungsmarkt nehmen sie mit. Arrividerci Svezia.
Katharina Schmidt
MieterMagazin 1+2/07
Jetzt haben sie gut lachen: Die Italiener Maria und Antonio haben eine Wohnung – nach acht Monaten
Alle Fotos: Katharina Schmidt
Geduld, Zeit und Nerven braucht, wer in Stockholm eine Wohnung sucht
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09.09.2019