Berlin teilt sich immer deutlicher in arme und reiche Stadtviertel auf. Mehrere Innenstadtquartiere veredeln sich zunehmend zu besonders teuren Wohnlagen. Wie funktioniert diese Gentrifizierung? Warum schlägt die Entwicklung in Prenzlauer Berg voll durch, in Moabit aber kaum? Und was hat das alles mit der Getränkeordnung zu tun?
Das Magazin „Der Spiegel“ teilte im März in seiner Titelstory „Großstadt ohne Größenwahn“ Berlin in zwei Lager auf: Mitte, Friedrichshain, Kreuzberg und Prenzlauer Berg seien das „Bionaden- und Latte-macchiato-Berlin“, der Rest der Stadt sei „Schultheiss“. Im „Latte-macchiato-Berlin“ säßen die Menschen den ganzen Tag frühstückend in Cafés, sähen in ihre Laptops und besprächen Projekte und Konzepte. Im „Schultheiss-Berlin“ gehe es hingegen zu wie in der Absturz-Kneipe „Magendoktor“ am S-Bahnhof Wedding.
Der „Caffè Latte“ muss gar nicht in den gestylten Sitzlandschaften der Coffeeshops genossen werden – auch wenn man ihn als „Kaffee Pappe“ im Becher mit sich herumträgt, gilt man schon als Vertreter der jungen Modernen und Kreativen, die Berlin angeblich so sehr prägen. Wer hingegen wie eh und je „Beer to go“ auf der Parkbank trinkt, gehört seltsamerweise nicht dazu – er muss sogar damit rechnen, vom Ordnungsamt verscheucht zu werden.
Legendäre Schuhladendichte
Paradebeispiel des „Latte-macchiato-Berlins“ ist die Spandauer Vorstadt in Mitte. Aus jüdischem Scheunenviertel, Heinrich Zille, Hackeschen Höfen, Tacheles und Franz Biberkopf wurde nach der Wende ein schiefer Altstadtmythos gestrickt, der sich schnell verselbstständigte. Der Off-Kunstszene in der Auguststraße folgten etablierte Galerien, die Oranienburger Straße wurde zur Kneipenmeile, um den Hackeschen Markt wurden reine Bürogebäude hochgezogen und die Schuhladendichte dieser Gegend wurde legendär. Jeder, der „dabei sein“ wollte, schien hier herziehen zu müssen. Mietpreisbeschränkungen, die in dem seit 1993 bestehenden Sanierungsgebiet verhängt wurden, blieben wirkungsloser als sonst wo. Man findet problemlos Mieter, die das Doppelte hinlegen, auch Nettokaltmieten von mehr als zehn Euro pro Quadratmeter werden gezahlt. Gäbe es an der Rosenthaler Straße und Linienstraße nicht die Plattenbauten, in denen die Mieterschaft relativ konstant blieb, wäre von den alten Bewohnern wohl kaum noch jemand da. „Der Bevölkerungsaustausch der vergangenen Dekade hat der Stadt insgesamt gutgetan“, meint „Der Spiegel“ dazu.
Mit weniger Aufsehen, aber umso radikaler ging der Wandel der Friedrich-Wilhelm-Stadt vonstatten. Das Quartier zwischen Friedrichstraße, Invalidenstraße und Spree wurde unversehens zum Teil des Regierungsviertels. Die „Bonner“ können sich hier wie zu Hause fühlen. Gastronomen haben aus der Gegend um die Albrechtstraße ein kleines „Kölsch-Viertel“ gemacht. Die Mietpreise befinden sich ebenfalls auf rheinischem Niveau. Ein Großteil der angestammten Bevölkerung war der Modernisierungswelle hilflos ausgesetzt, die Mietsteigerungen wurden durch keinerlei soziale Schutzinstrumente gebremst, wie es zum Beispiel mit einer Sanierungssatzung möglich gewesen wäre. Der Milieuschutz kam 1999 für die meisten schon viel zu spät. Wegen seiner Wirkungslosigkeit hat der Bezirk Mitte nun beschlossen, ihn wieder aufzuheben.
„Pariser Flair mitten in Berlin“ verspricht der Luxuswohnkomplex „Palais Kolle Belle“, der an der Ecke Kollwitz-/Belforter Straße entstehen soll. Bis zu 867.300 Euro muss man für eine der 74 Eigentumswohnungen hinlegen, dafür bekommt man 250 Quadratmeter mit zwei Balkonen und drei Bädern hinter einer Fassade, die an Pariser Bürgerhäuser erinnert. An teuren Wohnanlagen ist Prenzlauer Berg nicht mehr arm, aber hier wird ungewohnt offen und provozierend mit dem Luxus geworben. „Ob Boheme, Bourgeoise oder De Luxe: Hauptsache, Sie fühlen sich wohl.“
Den Anwohnern der Kollwitzstraße geht das vielbeschworene „Pariser Flair“ schon länger auf die Nerven. Der Fahrradladen, die Apotheke und der Elektrogerätehändler haben zugemacht, stattdessen sind Designerläden, Boutiquen und Kneipen gekommen. Die Gastronomie macht sich nicht nur in immer mehr Ladenräumen breit, sondern auch mit ihren Tischen, Stühlen, Sonnenschirmen und Heizpilzen auf den Gehwegen. An manchen Ecken kommen zwei Fußgänger kaum noch aneinander vorbei, und an den Kreuzungen sind die Fußgängerüberwege oft mit dicht geparkten Imponierautos zugestellt.
„Der Kollwitzplatz ist keineswegs eindeutig und durchgängig gentrifiziert“, hebt Sigmar Gude vom Stadtforschungsinstitut Topos hervor. Es gebe noch verhältnismäßig viele Altbewohner und Leute mit geringem Einkommen, vor allem in den Straßen mit kleineren Wohnungen, wie etwa in der Rykestraße. „Sehr weit ist die Entwicklung indessen im Bötzowviertel“, sagt Sigmar Gude. Auch hier sind um die Jahrhundertwende große Wohnungen für bürgerliche Mieter gebaut worden. „Wenn man dann gleich um die Ecke noch einen schönen Park hat, ist das ein attraktives Gebiet.“ In den anderen Vierteln Prenzlauer Bergs nimmt der Druck auf die Mieten dagegen „nur“ allmählich zu. Das Gebiet um den Teutoburger Platz wird für viele erst durch die Nähe zum Szeneviertel Mitte attraktiv. Dieses Phänomen hat Topos selbst in Lichtenberg beobachtet: Im Kaskelkiez ziehen verstärkt kinderlose Doppelverdiener zu. „Offenbar gibt es schon Schwierigkeiten, in den eigentlich angesagten Quartieren um den Boxhagener Platz was zu finden“, so Gude.
Szeneviertel strahlen aus
Gespalten ist die Entwicklung auch in Kreuzberg. Während SO 36 weiterhin von Armut geprägt wird, verzeichnet Topos im Gebiet um die Bergmannstraße seit Jahren einen Zuwachs an Gutverdienern. Auch am Chamissoplatz sind vereinzelt kräftige Mietsteigerungen zu beobachten. Durch die Miet- und Belegungsbindungen, die aus der Zeit als Sanierungsgebiet fortbestehen, ist diese Entwicklung allerdings noch gebremst.
Viel deutlicher ist die Widersprüchlichkeit der Kiezentwicklung auf engstem Raum zum Beispiel in Schöneberg: Sonnabends flanieren gesetzte Damen und Herren über den Markt auf dem Winterfeldtplatz, versorgen sich in den Weinläden mit edlen Tropfen und auch sonst wirkt die Szenerie wie aus einem Werbespot für französische Zigaretten. Nur wenige Meter in Richtung Potsdamer Straße prallt das Savoir-vivre auf den harten Berliner Alltag mit Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Straßenstrich, Drogenkonsum und Hoffnungslosigkeit. Diese Seite scheinen Immobilienentwickler nicht zu kennen. Offenbar haben sie das bürgerliche Samstagmittagbild vor Augen, wenn sie im Vertrauen auf hohe Mietsteigerungspotenziale in der Gegend Häuser kaufen, sie teuer sanieren und mit allem möglichen Schnickschnack ausstatten, um sie schließlich als Eigentumswohnungen an Anleger zu verkaufen, die sich auch vom Heile-Welt-Image blenden lassen.
Jens Sethmann
MieterMagazin 6/07
Den ganzen Tag frühstücken und Projekte besprechen: „Latte“-Viertel am Boxhagener Platz
Foto: Christian Muhrbeck
Fast kein Durchkommen mehr: Gastronomie am Hackeschen Markt
Foto: Christian Muhrbeck
Die Anwohner nervt’s:
Jubel und Trubel am Kollwitzplatz
Foto: Kerstin Zillmer
Einbahnstraße Gentrifizierung?
In den 80er Jahren gab es in Kreuzberg im Gefolge der Künstler, Studenten und „Szenemenschen“ einen merklichen Zuzug von Gutverdienern. Die beginnende Aufwertung von SO 36 traf aber auf erheblichen Widerstand. So mussten sich die teuren Restaurants der „Yuppies“ Fäkalienattacken erwehren. Die Gentrifizierung verebbte aber mit dem Fall der Mauer – nicht nur weil die Entwicklung sich in den Ostteil verlagerte, auch weil SO 36 für bürgerliche Schichten eben doch zu laut, zu schmutzig und zu ausländisch ist. Nach der Wende gingen die sogenannten Pioniere der Gentrifizierung verstärkt nach Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain und setzten dort eine Szeneentwicklung in Gang, die auch die nächste Generation anzieht. In vergleichbaren West-Berliner Gebieten wie Moabit waren die Mieten für diese Leute schon zu teuer. Anders als in SO 36 hat sich diese Entwicklung in Prenzlauer Berg verfestigt. Die Zugezogenen haben sich hier fest niedergelassen und Kinder bekommen. „Die werden dort auch wohnen bleiben“, schätzt der Soziologe Sigmar Gude. „Ich sehe nicht die Gefahr, dass das wieder zurückkippen wird.“ Das gelte auch für die Kreuzberger Quartiere Bergmannstraße und Chamissoplatz. „Wie sich der Boxhagener Platz entwickelt, wenn der große Hype um die Kneipenszene mal vorbei ist, muss man aber abwarten“, so Gude.
js
17.12.2015