Berlin wächst, die Bevölkerung wird älter und multikultureller. Der Wohnungsmarkt wird sich so schnell nicht entspannen, die Mieten und die Energiekosten werden voraussichtlich weiter steigen. Das sind die aktuellen Prognosen für Berlin. Eine Vorausschau auf die nächsten 125 Jahre bis zum Jahr 2138 wäre kühn. Ein Ausblick auf die kommenden Jahrzehnte aber zeigt: Berlin bleibt Mieterstadt, und ein schlagkräftiger Mieterverein bleibt so notwendig wie eh und je.
Dass Prognosen mit Vorsicht zu genießen sind, zeigen die Ergebnisse des Zensus 2011, die am 1. Juni veröffentlicht wurden: Berlin hat fast 180.000 Einwohner weniger als in den fortgeschriebenen Melderegistern verzeichnet waren. Die Voraussage von 2012, dass Berlin bis 2035 auf 3,75 Millionen Einwohner anwachsen würde, ist damit hinfällig. An der Aufgabe, neue Wohnungen zu bauen, ändert das aber wenig, denn es gibt laut Zensus auch 40.000 Wohnungen weniger als in der amtlichen Wohnungsbestandsfortschreibung.
Vorausschauendes Denken ist in der Wohnungspolitik unerlässlich, weil sich bei Bedarf nicht mal eben so Tausende Wohnungen aus dem Ärmel schütteln lassen und die Menschen sich nicht gern dorthin verpflanzen lassen, wo es freie Wohnungen gibt. Das bei Politikern weit verbreitete Denken in Vier- beziehungsweise Fünf-Jahres-Zyklen von Wahl zu Wahl wird dem nicht gerecht. Der enge Horizont einer Legislaturperiode treibt Politiker manchmal zu seltsamen Blüten, wie gerade wieder Bundeskanzlerin Angela Merkel bewies: Kurz nachdem die Mietrechtsänderung mit zahlreichen Verschlechterungen für Mieter in Kraft getreten ist, sprach sich die Kanzlerin plötzlich für eine Deckelung der Miethöhe bei Neuvermietungen aus. Der Deutsche Mieterbund fordert dies ebenso wie die Opposition seit Jahren vehement, doch die CDU-FDP-Koalition blockte immer rigoros ab. Die Bundestagswahlen im September vor Augen werden sogar eherne Grundsätze über den Haufen geworfen, um populäre Wahlversprechen zu machen. Das Beispiel zeigt: Steter Tropfen höhlt den Stein. Mietervereine brauchen einen langen Atem, bis ihre Überzeugungsarbeit politische Früchte trägt.
Gegen den Wind
Ein gewichtiges Argument ist dabei die Masse der Mitglieder. Die Mitgliederzahl des Berliner Mietervereins wächst seit Jahren kontinuierlich. Mit über 150.000 Mitgliedern ist er mit weitem Abstand der größte deutsche Mieterverein. Auch in den übrigen Mietervereinen des Deutschen Mieterbundes (DMB) gibt es nach Jahren des Mitgliederrückgangs seit einiger Zeit wieder Zulauf. 1,24 Millionen Haushalte sind in einem der 320 DMB-Mietervereine organisiert, der Mieterbund vertritt also rund drei Millionen Mieterinnen und Mieter. Damit entwickelt sich die Mieterbewegung erfreulicherweise entgegen dem allgemeinen Trend in den Interessenverbänden. So haben die Gewerkschaften mit einem anhaltenden Mitgliederschwund zu kämpfen, und den großen politischen Parteien laufen die Mitglieder geradezu in Scharen davon. Die Bereitschaft, sich kontinuierlich für gesellschaftliche Fragen einzusetzen, nimmt ab. Das heißt nicht, dass sich die Menschen gar nicht mehr engagieren: Wenn man konkret betroffen ist, etwa von Fluglärm oder einem Bauprojekt vor der eigenen Haustür, finden Bürgerinitiativen regen Zulauf. Interessenverbände wie Mietervereine oder Gewerkschaften werden hingegen immer mehr als punktueller Dienstleister verstanden, in den man eintritt, wenn sich ein Problem mit dem Vermieter oder dem Arbeitgeber abzeichnet, und auch wieder austritt, wenn das Problem gelöst ist. Mitglieder zu gewinnen, ist eine bedeutende Aufgabe, Mitglieder zu halten, ist nicht weniger wichtig.
Der demografische Wandel stellt für Mietervereine eine große Herausforderung dar. In der Bevölkerung wird der Anteil alter Menschen stark anwachsen. In Berlin werden 2030 rund 23 Prozent der Einwohner 65 Jahre oder älter sein, 2011 waren es noch knapp 19 Prozent. Der Berliner Mieterverein ist gewissermaßen ein Vorreiter des demografischen Wandels: Unter den ehrenamtlich Aktiven ist die vorherrschende Haarfarbe grau. Das überdurchschnittliche Alter der Mitglieder (53 Jahre) birgt dabei auch manchen Vorteil. Für Zukunftsthemen wie Barrierefreiheit, Wohnungsanpassung, betreutes Wohnen, Seniorenwohn- und Pflegeheime ist man im Berliner Mieterverein nachhaltig sensibilisiert.
Es gilt natürlich auch, junge Mitglieder anzuwerben. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Altergruppe zwischen 25 und 35 Jahren: Menschen, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben, einen eigenen Haushalt gründen, mit Partnern zusammenziehen und auch Kinder bekommen. „In diesem Fall fangen Miet- und Wohnsicherheit an, eine größere Rolle zu spielen“, weiß BMV-Geschäftsführer Reiner Wild. Dazu müssen die drei Standbeine des Mietervereins – moderne Dienstleistung, engagierte Interessenvertretung und umfangreiche, leicht zugängliche Informationen – weiter verbessert werden. „Wir überlegen natürlich auch, wie man den Mieterverein in seiner Gesamtheit den differenzierten Lebensstilen zugänglicher machen kann“, meint Wild.
So will sich der Verein auch für Mieter mit Migrationshintergrund stärker öffnen. „In Anbetracht der Bevölkerungsentwicklung ist dies nicht nur ein ‚Wollen‘, sondern ein ‚Müssen'“, erklärt der BMV-Geschäftsführer. Diversität heißt die Devise. Es gehe darum, etwas über die unterschiedlichen Lebensstile und Lebenswelten zu erfahren, die Kulturen kennenzulernen und entsprechende Beratungs- und Dienstleistungsangebote zu entwickeln. „Eine große Hilfe könnte die Kontaktaufnahme und Einbindung in Netzwerke migrantischer Organisationen sein“, sagt Wild.
Ein nicht minder anspruchsvolles Thema: Wie sieht das Wohnen der Zukunft aus? Das Thema Energie wird eine immer größere Rolle spielen. Die fossilen Rohstoffe werden knapper und teurer. Der Klimaerwärmung mahnt ein schnelles Umsteigen auf alternative Energieträger an. Die Bundesregierung hat vor drei Jahren als Klimaschutzziel für das Wohnen ausgegeben, bis 2050 den Primärenergieverbrauch und den CO2-Ausstoß um 80 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Dem ehrgeizigen Vorhaben lässt die Bundesregierung allerdings kaum Taten folgen. Die Förderprogramme für die energetische Gebäudesanierung sind unterfinanziert und werden zudem bei den alljährlichen Haushaltsberatungen als Steinbruch behandelt. Wenn sich daran nichts grundlegend ändert, werden am Ende die Mieter allein die Kosten der Energiewende tragen müssen – indem sie entweder die teuren Modernisierungen über die Mietumlage bezahlen, oder indem sie viel Geld durch den Schornstein verheizen, wenn der Eigentümer meint, auf Wärmedämmung, Isolierfenster und eine moderne Heizungsanlage verzichten zu können. Zu Fragen der Heiz- und Energiekosten hat der BMV bereits umfassende Beratungsangebote aufgebaut.
Auch bei der bereits angesprochenen, zweiten großen Zukunftsaufgabe droht die Zeche am Mieter hängen zu bleiben: „Deutschland wird grau, und im Jahr 2030 sind wir vermutlich die älteste Gesellschaft der Welt“, meint Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski. Gleichzeitig wollen die Menschen aber so lange wie möglich selbstbestimmt in ihren eigenen vier Wänden wohnen. „Für kinder- und enkellose Alleinstehende gibt es zu generationsübergreifenden Hausgemeinschaften keine Alternative, wenn sie nicht in einer Gesellschaft des langen Lebens alleingelassen werden wollen“, sagt Opaschowski. „Das Modell Altersheim hat ausgedient.“ Bis 2020 fehlen in Deutschland drei Millionen altersgerechte Wohnungen. Diesen vom Deutschen Mieterbund (DMB) lange beklagten Mangel hat die Bundesregierung im vergangenen Oktober auch in ihrem Bericht über die Wohnungswirtschaft eingeräumt. „Gut, dass die Verantwortlichen die Probleme endlich beim Namen nennen“, kommentiert DMB-Direktor Lukas Siebenkotten.
Berlin bleibt Mieterstadt
„Jetzt muss die Regierung aber auch handeln.“ Sie hatte zuvor die öffentliche Förderung für altersgerechte Umbauten eingestellt, eine Neuauflage ist nicht in Sicht. Es ist also zu befürchten, dass auch in Zukunft viele gebrechliche Menschen wegen Kleinigkeiten den ungeliebten Weg in ein Heim gehen müssen, zum Beispiel weil in ihrer Wohnung Türschwellen ein unüberwindliches Hindernis darstellen.
Und wie wird sich das arithmetische Verhältnis von Mietern zu Eigentümern entwickeln? Die Berliner werden auch künftig weit überwiegend zur Miete wohnen. Trotz der massenhaften Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen ist der Anteil der Mieter gegenüber den selbstnutzenden Eigentümern in den letzten Jahren nahezu konstant bei 85 Prozent geblieben. Das liegt daran, dass die meisten Wohnungskäufer ihre Wohnung als Kapitalanlage sehen und nicht selbst bewohnen, sondern weiter vermieten. Die meisten Berliner können und wollen sich kein Wohneigentum leisten. Sich für einen Wohnungskauf oder Hausbau auf Jahrzehnte zu verschulden, ist nicht jedermanns Sache. Als Mieter bleibt man zudem flexibel, was auf dem deregulierten und zunehmend globalisierten Arbeitsmarkt künftig wohl noch wichtiger werden wird. Von Arbeitnehmern wird heute schon erwartet, dass sie dorthin ziehen, wo es Arbeit gibt. Da wahrscheinlich mehr Mieter in Wohnungen leben werden, die sich in Einzeleigentum befinden, haben sie häufiger mit nicht-professionellen Vermietern zu tun. Das hat auch Auswirkungen auf die Arbeit des Mietervereins: Man wird sich beispielsweise verstärkt mit dem Wohnungseigentumsgesetz auseinandersetzen und häufiger Eigenbedarfskündigungen abwehren müssen.
Auch in Zukunft werden viele Vermieter Berlin mit München oder Hamburg vergleichen und die Mieten auf das dortige Niveau hochtreiben wollen – ungeachtet der Tatsache, dass in Berlin die Einkommen viel niedriger sind. Gern werden dazu Paris, London und New York angeführt, wo man 35, 40 oder gar 43 Prozent des Nettoeinkommens für die Wohnung ausgeben muss. Um solche Verhältnisse zu verhindern, dafür bedarf es auch in Zukunft eines starken Mietervereins.
Jens Sethmann
Der Autor dieses Beitrages, Jens Sethmann, ist Journalist
mit Schwerpunkt Stadtentwicklung, er schreibt seit 2000 regelmäßig
für das MieterMagazin
MieterMagazin 7+8/13
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… jenseits des Kerngeschäfts
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js
Rat und Tat
Die DMB-Zukunftskommission
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js
29.03.2022