Der größte Teil der Menschheit wird zukünftig in riesigen Städten leben – ein unausgereiftes, aber womöglich das wirtschaftlichste Modell.
Die Welt „verstädtert“: 2006 lebten zum ersten Mal in der Geschichte ebenso viele Menschen in der Stadt wie auf dem Land. In den Industrieländern und einem Teil der Schwellenländer liegt der Verstädterungsgrad heute bereits bei über 75 Prozent. Der Drang in die Städte ist unaufhaltsam und unumkehrbar. Die Verstädterung ist die größte Herausforderung in den kommenden Jahrzehnten.
Weltweit verlassen Menschen ihre Felder und Höfe und suchen in den großen Städten Arbeit, Wohnung und Lebensunterhalt. Ein Grund ist die Bevölkerungsexplosion. Ein Stück Land kann schließlich nur eine bestimmte Anzahl von Menschen ernähren. Zudem lockt der höhere Lebensstandard in den Städten. Während in den Industrieländern die städtische Bevölkerung nur noch langsam zunimmt, wächst sie in den Entwicklungs- beziehungsweise Schwellenländern, hauptsächlich in Afrika und Asien, jährlich um 4,2 Prozent. Nach Berechnungen der Vereinten Nationen (UN) werden 2030 weltweit rund 60 Prozent aller Menschen in Städten leben. Diese nehmen zwar nur rund 2 Prozent der Landfläche ein, aber in ihnen werden zwei Drittel der Energie und 60 Prozent des Wassers verbraucht. 70 Prozent aller CO2-Emissionen kommen aus den Städten. Städtische Agglomerationen sind nicht ökologisch – aber unvermeidbar.
1975 gab es weltweit nur drei Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern: New York, Tokio und Mexiko-Stadt. Im 21. Jahrhundert bestimmen die Megacities Chinas und Indiens den Trend. 2010 waren es bereits 29, 10 davon liegen in Asien. Prognosen besagen, dass es 2020 weltweit bereits neun Megastädte mit mehr als 20 Millionen Einwohnern geben wird. Allein in Mexiko-Stadt werden 2025 mindestens 32 Millionen Menschen leben. Folgen der extremen Verstädterung sind:
- zunehmende soziale Segregation, das heißt eine immer größer werdende Kluft zwischen den Armen und Reichen,
- ausgeprägte räumliche Fragmentierung, das heißt krasse Gegensätze zwischen Elendsvierteln („Slums“) und illegalen Siedlungen am Stadtrand, abgeschotteten Villenvierteln („gated communities„) und modernen Geschäftszentren,
- Versagen der kommunalen Dienstleistungen (Wasser- und Stromversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung, Gesundheits- und soziale Dienstleistungen, öffentlicher Personennahverkehr),
- starke Umweltgefährdung durch die Ballung von Bevölkerung und Industrie sowie das unkontrollierte Flächenwachstum der Städte.
Immer wieder kommt es in den Megacities zu Protesten. Im Mai 2014 rebellierten Einwohner von Mexiko-Stadt gegen die unzureichende Wasserversorgung. In Brasilien wurde im Vorfeld und während der Fußball-Weltmeisterschaft für bessere Lebensbedingungen demonstriert.
Die Städte der Zukunft könnten 50 Millionen und mehr Einwohner haben. Sind diese sich ausbreitenden Agglomerationsräume überhaupt noch regierbar und bewohnbar? Gibt es ein Limit für die Größe einer Stadt? Inwieweit beeinflussen die ökologischen Folgen dieser Megacities die globalen Klimaveränderungen? Wie viele Megacities kann die Erde überhaupt verkraften? Noch gibt es mehr Fragen als Antworten, auch wenn Forscher aus aller Welt daran arbeiten.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fokussiert sein Programm „Future Megacities“ (Megastädte von morgen) auf die sogenannten „Sekundärstädte“ an der Schwelle zur Megacity. Im Rahmen dieses Programms wurden bereits ganz konkrete Maßnahmen umgesetzt. So wurde in Hefei, einer Stadt in China mit heute 3 bis 5 Millionen Einwohnern, ein Verkehrsleitsystem installiert, um den drohenden Verkehrskollaps zu vermeiden. In einigen Stadtteilen der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba wurden Kompostieranlagen für den Müll errichtet. Die vietnamesische Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt wird bei der nachhaltigen Stadtentwicklung unterstützt.
Das kommunistische China forciert zurzeit die weltweit größte Umsiedlungsaktion der Geschichte. In den kommenden Jahrzehnten sollen jährlich 10 bis 20 Millionen Bauern urbanisiert werden, insgesamt rund 400 Millionen – freiwillig oder auch zwangsweise. Zurzeit lebt noch nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung in den Städten, künftig sollen es 85 Prozent sein. Aber bereits heute ersticken Peking, Shanghai und andere Megacities am Verkehr. Einen Ausweg sehen die chinesischen Städteplaner in neuen, auf dem Reißbrett entworfenen Städten. In diesen Retortengebilden regiert die Uniformität, sie verfügen über keine gewachsenen Strukturen. Um die Entstehung von Slums durch unkontrollierten Zuzug zu verhindern, müssen sich die Zuzügler in der Stadt offiziell registrieren lassen. Ob ein solches Modell funktionieren kann, muss sich erweisen. Übertragbar ist es auf demokratische Länder nicht.
Die Hauptstadt Mexikos setzt auf eine Strategie der kleinen Schritte. Jeden Morgen strömen fünf Millionen Menschen zur Arbeit in die Innenstadt. Jetzt wurde eine neue U-Bahn-Linie gebaut, Radwege, ein Fahrradverleihsystem und Fußgängerzonen eingerichtet, die Kfz-Steuern erhöht, Parkgebühren eingeführt und der öffentliche Nahverkehr gefördert. Die Luft ist dadurch bereits wesentlich besser als noch vor einigen Jahren. Da die Mieten in den alten innerstädtischen Wohnvierteln trotz schlechtester Standards oft das Einkommen der Mieter übersteigen, vergibt das Institut für Wohnungswesen Kleinkredite zur Aufwertung bestehender Wohnungen. 22 Prozent der Familien leben in sogenannten Iztapalapa – informellen, quasi illegalen Siedlungen am Stadtrand, außerhalb des staatlichen Organisationssystems, in einer Art „Staat im Staat“ mit demokratisch gewählten Vertretern der Siedler, die von diesen bezahlt werden. Diese Vertreter nehmen Kontakt mit den Behörden auf, verhandeln über die Legalisierung der Siedlungen, regeln den Aufbau der Infrastruktur, verwalten das Budget für den Kauf der Parzellen und die interne Organisation der Siedlung. Der Wille zur Verbesserung der sozialen Lage motiviert zu Selbstorganisation, Gemeinschaftssinn und Nachbarschaftshilfe.
Einig sind sich Experten vor allem darin: Der Wettlauf mit der Zeit, mit dem weiteren Wachstum der Megacities, wird nicht überall gewonnen werden. Aber die Verstädterung ist auch eine Chance. Die Ballung von Menschen, Materialströmen und Wohngebieten in Megastädten bewirkt eine Senkung des Ressourcen- und Energieverbrauchs, da durch die Nutzung moderner Planungs- und Dienstleistungskonzepte mit der gleichen Menge an Verkehr, Energie und Raum mehr Menschen versorgt werden können. Stoffkreisläufe können teilweise geschlossen werden. Die Komplexität der Infrastrukturen und der urbanen Industrie beschleunigt die Umsetzung von Innovationen. Die Verstädterung ist Fluch und Segen zugleich.
Rainer Bratfisch
MieterMagazin 7+8/14
Lesen Sie auch zu diesem Thema:
Tenants Unite!
Mieten- und Wohnungspolitik international
Foto: Wikipedia
Foto: Wikipedia
Foto: Wu Hong/
EPA/Corbis
Die Hälfte der Menschheit lebt in Städten, und ihr Anteil nimmt zu: Hongkong, Bogotà, chinesische Reißbrettstadt, Elendsviertel in Rio de Janeiro
Foto: Urbanhearts/Fotolia
Foto: Kounosu/Wikipedia
Je größer die Städte, desto größer auch die unkontrollierte Ansiedlung (Slums in Mumbai/Indien und Manila/Philippinen)
Foto: dpa
17.11.2015