Trabantenstadt, Ghetto, Vorzeigesiedlung – das Märkische Viertel hatte im Laufe seiner Geschichte mit ganz unterschiedlichen Zuschreibungen zu kämpfen. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ schilderte 1970 das „Leben in einem Experiment“ in drastischen Farben, von einer „menschenverachtenden Architektur“ war die Rede. Die Planer der Neubausiedlung schwärmten dagegen von der modernen „Urbanität durch Dichte.“ Die Menschen, die hier leben, haben eine andere Sicht auf ihr Zuhause.
Zu den ersten Mietern, die 1964 in das Märkische Viertel gezogen sind, gehört Ursula Bätz. Während die meisten neuen Bewohner aus den zum Abriss freigegebenen Altbauquartieren in Kreuzberg und Wedding kamen, wohnte Frau Bätz zuvor in einem Neubau in der Schillerhöhe. Aber die Zweizimmerwohnung war für die Familie mit zwei Kindern viel zu klein. Über die neue 93 Quadratmeter große Wohnung mit Balkon und großer Wohnküche war man daher sehr glücklich. Rundherum sah zwar alles ziemlich trostlos aus. Die Bäume waren noch klein, es gab praktisch nur Beton. Die Straßen waren noch nicht befestigt, so dass man manchmal im Morast steckenblieb. „Aber uns hat das alles nicht gestört, wir waren so glücklich mit der schönen Wohnung“, erzählt sie.
Der gemeinsame Anfang schweißte zusammen
Weil alle neu waren und außerdem alle Nachwuchs hatten – nur mit mindestens zwei Kindern durfte man eine große Wohnung beziehen – war der nachbarschaftliche Zusammenhalt groß. „Alle fingen bei Null an, das hat zusammengeschweißt“, sagt Ursula Bätz. Noch heute wohnt die mittlerweile 87-Jährige in dieser Wohnung und möchte auf keinen Fall wegziehen – obwohl es in dem Viergeschosser keinen Aufzug gibt. Während es in den Anfangsjahren kaum Geschäfte gab und auch viel zu wenig Kitas, ist heute alles da, was man braucht. Die Umgebung ist grün, man kann gut spazieren gehen und in die Innenstadt fährt Frau Bätz nur selten. Nur eins bedauert sie sehr: dass man keine Kinder mehr auf der Wiese vor dem Haus sieht. Auch der Spielplatz ist verwaist. „Früher waren da immer Kinder, das war ein Leben!“
Allerdings ist ihr Block in dieser Hinsicht nicht typisch. Wer heute durch das Märkische Viertel spaziert, sieht auf den großzügigen Grünflächen zwischen den Sechzehngeschossern fast immer Kinder spielen. Zwar sind viele Bewohner mit dem Viertel alt geworden, aber auch der Anteil der Kinder und Jugendlichen ist groß: „Gerade in letzter Zeit beobachten wir einen verstärkten Zuzug von Familien“, sagt die Sprecherin der Wohnungsbaugesellschaft Gesobau Kirsten Huthmann. Für Kinder ist die Siedlung ideal: Es gibt hügelige, zum Teil verwilderte Wiesen, Bänke, Spielplätze und sogar einen Wasserlauf, den Nordgraben. Weil die hofartig angelegten Wohnblocks von der Straße abgeschirmt sind, können die Kinder hier unbeaufsichtigt spielen.
Das Märkische Viertel war geplant als vorbildliches, modernes Quartier am Stadtrand. Kurz nach dem Mauerbau und angesichts eines Abrissprogramms für 56.000 innerstädtische Altbauwohnungen war der Bedarf enorm. Schon bald wurde daher in die Höhe gebaut: Statt Viergeschosser entstanden nun Acht- und Sechzehngeschosser. Aus den ursprünglich geplanten 13.000 Wohnungen wurden 17.000.
Abwärtsspirale in den 80ern
Schon kurz nach Fertigstellung brach ein regelrechtes „Planer-Bashing“ aus. Bautechnische Mängel ohne Ende, eine mangelhafte Infrastruktur, triste Hochhäuser – das Märkische Viertel galt als Anhäufung gesichtsloser Betonklötze, wo niemand leben möchte. Zwar wurde vieles nachgebessert, dennoch blieb der Ruf denkbar schlecht. Jugendbanden, Kriminalität und eine sozial schwierige Bewohnerschaft prägten das Image vor allem in den 1980ern. Wie in fast allen Großsiedlungen des Sozialen Wohnungsbaus kämpfte man mit Leerstand und einer sozialen Abwärtsspirale.
Und heute? „Menschen von außerhalb haben leider immer noch ihre Vorurteile, aber die allermeisten Bewohner wissen die Qualitäten der Großwohnsiedlung sehr zu schätzen“, meint Jörg Franzen, Vorstandsvorsitzender der Gesobau. Das belegen zumindest die Befragungen zur Mieterzufriedenheit – und das schon seit Jahrzehnten. Die Identifikation mit dem Viertel ist hoch. Viele wohnen schon sehr lange hier, und oft suchen sich die erwachsen gewordenen Kinder gezielt eine Wohnung im „MV“. Das Märkische Viertel ist jung, etwa 35 Prozent der Bewohner sind unter 27 Jahren. Der Anteil der über 65-Jährigen beträgt 22 Prozent.
Die Gesobau hat zweifellos viel getan, um das einstige Schmuddelkind von seinem Negativ-Image zu befreien. Sie engagiert sich für soziale Projekte, hat das Wohnumfeld verbessert und bemüht sich um eine sensible Belegung. „Wir schauen ganz genau, wer am besten in ein Haus reinpasst“, erklärt Gesobau-Sprecherin Kirsten Huthmann. So achte man darauf, dass in einem Haus nicht nur Rentner oder nur Familien wohnen. Die große Vielfalt an Grundrissen bietet dabei gute Voraussetzungen, um eine gewisse Mischung zu erreichen. Die Häuser sind so gebaut, dass es kleine Single-Wohnungen, aber auch große, familiengerechte Wohnungen gibt. „Oft wollen Wohnungssuchende in ein ganz bestimmtes Wunschhaus, aber wenn beispielsweise eine türkische Familie in ein Haus will, wo bereits viele türkischstämmige Mieter wohnen, bieten wir eine Alternative an.“
Auch Barbara Speckner wollte in ein ganz bestimmtes Gebäude, als sie sich vor fünf Jahren entschloss, ins Märkische Viertel zu ziehen: ein ehemaliges Seniorenhaus am Eichhorster Weg. Die 57-Jährige schwärmt vom besonderen Flair dieses Blocks: „Ich habe liebe Nachbarn, die Verkehrsanbindung ist hervorragend und man hat alles, was man braucht.“
Birgit Leiß
Viele Häuser im Märkischen Viertel sind derzeit eingerüstet. Die Gesobau, der hier knapp 15.000 Wohnungen gehören, hat 2008 mit dem Umbau zu Deutschlands größter Niedrigenergiesiedlung begonnen. Mittlerweile sind über 70 Prozent der Wohnungen saniert, insgesamt werden rund 560 Millionen Euro in Wärmedämmung, neue Fenster und moderne Heizungen investiert. Wegen der extrem hohen Heizkosten vor der Sanierung – zum Teil gab es Einrohrheizsysteme, bei denen nicht verbrauchsabhängig abgerechnet wurde – ist es möglich, die Modernisierung fast warmmietenneutral durchzuführen. Die durchschnittliche Warmmiete beträgt mit 7,61 Euro nur 10 Cent mehr als vor der Sanierung. Die kalten und warmen Betriebskosten konnten von 3,50 Euro auf 2,80 Euro pro Quadratmeter gesenkt werden, wobei es erhebliche Unterschiede gibt. Einige Mieter haben bei der ersten verbrauchsabhängigen Abrechnung hohe Nachzahlungen bekommen, berichtet Gesobau-Sprecherin Kirsten Huthmann: „Wer seit 40 Jahren gewohnt ist, dass sich sparsames Verhalten nicht lohnt, muss natürlich erst mal umdenken.“ Man müsse daher intensive Aufklärungsarbeit leisten. An den Modernisierungsarbeiten gab es auch Kritik. Beim Berliner Mieterverein beschwerten sich etliche Mieter über die „chaotischen Bauarbeiten.
bl
MieterMagazin 9/14
Lesen Sie auch zu diesem Thema:
Deutschlands größte
Niedrigenergiesiedlung
Foto: www.mein-maerkisches-viertel.de
Die fehlende Infrastruktur und das mangelnde Grün der Anfangszeit sind im Märkischen Viertel vergessen
Foto: Sabine Münch
„Man hat alles, was man braucht“: MV-Bewohnerin Barbara Speckner
Foto: Sabine Münch
Foto: Sabine Münch
Foto: Paul Glaser
Betontristesse war gestern, heute ziehen vermehrt wieder Familien ins Märkische Viertel
Foto: Sabine Münch
Den 50.Geburtstag des Märkischen Viertels feiert die Gesobau derzeit mit einer Reihe von Veranstaltungen und einer Open-Air-Ausstellung „3,2 km² Leben.“
Infos unter:
www.mein-maerkisches-viertel.de
Zum Thema
Berühmte Märker
Mit dem Song und dem dazugehörigen Video „Mein Block“ hat der Rapper Sido seiner Heimat ein unrühmliches Denkmal gesetzt. Es geht um Drogen, Jugendgangs und Gewalt. Auch der Comiczeichner Philip Tägert, besser bekannt als Fil, ist im Märkischen Viertel aufgewachsen. Seine bekanntesten Figuren, „Didi & Stulle“ sind biertrinkende Prolls aus dem Märkischen Viertel. Weniger bekannt ist, dass Ulrike Meinhof 1970 ein Haus am Wilhelmsruher Damm besetzt hat. Mit weiteren späteren Mitgliedern der „Rote Armee Fraktion“ gründete sie den „Arbeitskreis Mieten und Wohnen im Berliner Märkischen Viertel“.
bl
05.02.2018