Eines der Vorzeigeprojekte für behutsame Stadterneuerung und selbstbestimmtes Wohnen steht vor dem Aus. Ein folgenschweres Urteil des Bundesgerichtshofs stellt die Bewohner der Rykestraße 13, die das Haus Anfang der 1990er Jahre vor dem Abriss retteten, völlig rechtlos. Auch andere Häuser aus dem Senatsprogramm „Bauliche Selbsthilfe“ sind bedroht.
„Wir sind einfach nur müde, erschöpft und fühlen uns als Freiwild“, beschreibt Theo Nabicht, einer von ursprünglich 32 Hausbewohnern, die Stimmung. Über 20 Jahre lang kümmerte man sich gemeinsam um die Hofgestaltung, machte Subbotniks und feierte Feste. Doch ein dreijähriger Rechtsstreit hat die Hausgemeinschaft auseinandergerissen und zerrt an den Nerven der Bewohner. Viele sind bereits ausgezogen, andere warten auf den Ausgang der Räumungsklage.
Die Rykestraße 13 war nach der Wende einer von vielen heruntergekommenen Altbauten im Prenzlauer Berg. Aus einer Bürgerinitiative zum Erhalt der Altbausubstanz entstand 1990 die Idee, die Rykestraße 13 und 14 gemeinschaftlich zu sanieren und zu bewohnen. Eine Genossenschaft wurde gegründet, die „SelbstBau eG“. Um genau solche Projekte zu unterstützen, hatte der Senat eigens Förderprogramme aufgelegt. Knapp 4 Millionen D-Mark erhielt die Selbstbau eG.
Doch während man die Rykestraße 14 kaufen konnte, wurde für das Nachbarhaus ein auf 20 Jahre befristeter Pachtvertrag mit Elfriede Meyer geschlossen. Die Ehefrau des 1942 vom NS-Regime enteigneten jüdischen Eigentümers hatte zu diesem Zeitpunkt die Rückübertragung beantragt.
Die alte Dame habe sich vom Senat unter Druck gesetzt gefühlt, sagt heute ihr Anwalt Ole Grünberg. Es sei aber immer klar gewesen, dass sie nach den 20 Jahren wieder selber über ihr Eigentum verfügen wolle. Der Anwalt spricht gar von einer „dritten Enteignung eines Holocaust-Opfers“. „20 Jahre erschienen uns eine lange Zeit, trotzdem haben wir immer wieder versucht, das Haus zu kaufen – vergeblich“, erklärt Peter Weber vom Vorstand der Genossenschaft. Doch zumindest die Mietverhältnisse schienen sicher zu sein. Man hatte ordentliche Mietverträge abgeschlossen. Ein neuer Vermieter müsse automatisch in die Verträge eintreten, so sehe es eigentlich das Gesetz vor, war man sich sicher.
Bundesgerichtshof verneint Kündigungsschutz
Umso größer war der Schock, als die Bewohner nach Auslaufen des Pachtvertrags aufgefordert wurden, neue Mietverträge abzuschließen. Es bestehe kein Mietverhältnis mehr, argumentierte Grünberg. Doch auf neue Verträge mit Mietspiegel-Mieten von rund 6,50 Euro wollte sich keiner der Bewohner einlassen. Sie pochten auf ihre gültigen, unbefristeten Mietverträge mit Mieten von 2,86 Euro. Beim Amtsgericht und beim Landgericht hatten sie damit Erfolg (LG Berlin vom 2. Oktober 2014 – 67 S 257/14). Doch der Bundesgerichtshof (BGH) entschied im Januar 2016 anders.
Zum Verhängnis wurden den Bewohnern ausgerechnet die sehr günstigen Mieten. Somit sei die Genossenschaft kein gewerblicher Vermieter, sondern verfolge gemeinnützige oder karitative Ziele (BGH vom 20.1.2016 – VIII ZR 311/14, siehe MieterMagazin 5/2016, Seite 27). Der gesetzliche Kündigungsschutz nach Paragraph 565 Bürgerliches Gesetzbuch greift aber nur bei gewerblicher Weitervermietung. Während die Vorinstanzen bereits kostendeckendes Wirtschaften als gewerbliches Handeln einstuften, hielt der BGH die Absicht der Gewinnerzielung für entscheidend. „Ein völlig unverständliches Urteil“, findet Peter Weber vom Vorstand der SelbstBau. Schließlich war die Miethöhe durch die Förderrichtlinien des Senats vorgegeben.
Nach dem BGH-Urteil ging ein Gutachter durchs Haus und ermittelte eine ortsübliche Vergleichsmiete von 9,50 Euro. Auf dieser Grundlage wurde eine nachträgliche „Nutzungsentschädigung“ für die letzten drei Jahre verlangt. Zwischen 15.000 und 41.000 Euro sollten die Mieter innerhalb von zehn Tagen zahlen – oder die Wohnung räumen. Eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde ohne Angabe von Gründen zurückgewiesen.
Für die Genossenschaft ist der Verlust eines ihrer beiden Gründungshäuser bitter. Für die Bewohner geht es um die Existenz. Und für den Prenzlauer Berg geht hier einer der letzten bezahlbaren Lebensräume verloren.
Birgit Leiß
Damoklesschwert Pachtvertrag
Wie viele der sogenannten Selbstbauhäuser von dem BGH-Urteil betroffen sein könnten, kann man weder beim Senat noch in den Bezirksämtern sagen. Allein im Ortsteil Prenzlauer Berg wurden zwischen 1990 und 2001 rund 33 Häuser aus dem Programm Bauliche Selbsthilfe gefördert, etliche davon haben Pachtverträge abgeschlossen. Die meisten sind noch in der Bindung, das bedeutet, dass das zuständige Bezirksamt die Wohnungen beispielsweise mit Sanierungsbetroffenen belegen kann. Als Rechtsform gibt es neben Genossenschaften vor allem Vereine und Gesellschaften bürgerlichen Rechts.
bl
30.07.2017