Den Wohnkomplex in der Schlangenbader Straße kennen wohl die meisten Berliner Autofahrer. Man fährt auf der A 100 (ehemals A 104) mitten durch das Gebäude. Der Betonbau aus den 1980er Jahren ist keine Schönheit. Das ganze Bauprojekt war von Anfang an umstritten. „Wenn der Teufel dieser Stadt etwas Böses antun will, lässt er noch einmal so etwas wie die ,Schlange’ bauen“, hat Berlins Regierende Bürgermeister Richard von Weizsäcker einst gesagt. Wie lebt es sich dort?
Der erste Eindruck ist: erstaunlich ruhig. Weder im Innenhof der Wohnanlage noch in den Wohnungen selber ist etwas vom Lärm der Fahrzeuge zu hören. Von einem „architektonischen Highlight“ spricht die Eigentümerin, die städtische Wohnungsbaugesellschaft Degewo. „Man liebt oder hasst dieses besondere Gebäude“, sagt Elke Benkenstein, Leiterin des Degewo-Kundenzentrums City.
Viele Mieter wohnen schon sehr lange hier. Sie schätzen neben der guten Infrastruktur vor allem die Terrassen. Zudem haben die Wohnungen fast 150 verschiedene Grundrisse: Benkenstein: „Das hat Charme.“
Hohes Durchschnittsalter
Das Ehepaar Schnock hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht, als es sich 1990 hier eine Wohnung anschaute. Heruntergekommen und verdreckt war alles, so erzählen sie. Es waren die „wilden 1990er“, als sich im Gebäude die sozialen Probleme ballten. Damals standen so viele Wohnungen leer, dass Franz-Josef Schnock vom Hausmeister einen ganzen Schlüsselbund in die Hand gedrückt bekam. Es war vor allem die Terrasse, die beide dann doch noch überzeugte. Sechs Jahre lang wohnten sie in einer fast 90 Quadratmeter großen Wohnung, bevor sie in eine kleinere Wohnung im Erdgeschoss umgezogen sind. Diese ist so geschnitten, dass man einmal rundum gehen kann. „Unser Bad hat zwei Türen, das ist schon ziemlich ungewöhnlich“, sagt Franz-Josef Schnock. Der Rentner führt trotz seiner Gehbehinderung gern durchs Haus. Den verblüfften Besuchern erklärt er als erstes, warum der Fahrstuhl im zweiten und dritten Stock nicht hält: „Hier befindet sich die Autobahn.“ Er zeigt die beeindruckende Haustechnik, die Tiefgarage („Niemand ist so schnell auf der Autobahn wie ich“) und seinen Hobbyraum, den sich der gelernte Krankengymnast zu einem Massage-Zimmer hergerichtet hat. Das Ehepaar Schnock, beide um die 80, ist rundum zufrieden. Supermarkt, Apotheke, Friseur, Zeitungsladen – es ist alles da, was man braucht. Auch die Nachbarschaft sei sehr gut. Franz-Josef Schnock hat vor über 16 Jahren in der Siedlung einen Internettreff initiiert, wo vor allem Senioren den Umgang mit dem Computer lernen. Außerdem engagiert er sich in einer Gesangsgruppe. „Es ist ein sehr ruhiges, angenehmes Wohnen“, betont seine Frau.
Durch eine ganze Reihe von baulichen Maßnahmen hat die Degewo dafür gesorgt, dass Vandalismus und Vermüllung zurückgegangen sind. So kann man die 600 Meter langen Flure heute nicht mehr durchgängig durchlaufen. Überall gibt es abschließbare Türen, so dass Fremde keinen Zugang haben. Die Gänge wirken sehr sauber und gepflegt, es gibt einen Hauswart und einen Wachschutz. Bis vor kurzem war die Siedlung zudem auch Bewerbern ohne Wohnberechtigungsschein (WBS) offen. Das, so Elke Benkenstein, habe geholfen, um die soziale Mischung besser zu steuern. Seit Anfang 2017 darf nur noch an Wohnungssuchende mit WBS vermietet werden. Das Durchschnittsalter in der Schlange ist 62 Jahre. Erst in letzter Zeit sind auch mehr junge Familien mit Kindern zugezogen.
Eine davon ist die dreiköpfige Familie Ferch. Obwohl auch die Ferchs am liebsten umgedreht wären, als sie das Haus bei der Besichtigung zum ersten Mal gesehen haben, sind sie mittlerweile, knapp zwei Jahre nach ihrem Einzug, begeisterte Fans der Schlange. Auch hier gab die große Terrasse den Ausschlag. Von ihrer Maisonettewohnung im 14. Stock haben sie eine einmalige Aussicht. Die Nachbarschaft sei angenehm und bereichernd, sagt Ronald Ferch: „Es ist ein Mix unserer Gesellschaft, und das finde ich fantastisch.“ Seine Altbauwohnung in der Güntzelstraße mit den 4,50 Meter hohen Decken vermisst er nicht. Auch mit seinem Vermieter ist er rundum zufrieden. „Die managen das ganz toll, es ist ein sorgenfreies Wohnen.“
Das sehen viele langjährige Mieter ganz anders. Sie beklagen verschleppte Reparaturen und einen zunehmend schlechten Service. „Als Wohnort ist die Schlange bei den meisten Mietern beliebt, das Problem ist der rüde Umgangston der Vermieterin, vor allem wenn es um Schadensbeseitigung geht“, sagt Eberhard Reinacher. In vielen Wohnungen gibt es Probleme mit Feuchtigkeit und Schimmel. Ein Mieter berichtet, dass er bei jedem Regen Eimer aufstellen muss: „Es kommen immer mal wieder Firmen vorbei , um sich das anzuschauen, aber gemacht wird nichts.“ Eine andere Mieterin musste monatelang darum kämpfen, dass es in ihrer Wohnung wieder über 19 Grad warm wird.
Funktionierende Nachbarschaft
Noch eine andere Sache ärgert viele Mieter. Die Gemeinschaftsräume, die sozusagen zur Philosophie der Schlange gehören, werden zunehmend kommerzialisiert. So gibt es im Moment Protest, weil der Seniorenfreizeitstätte gekündigt wurde. Über 35 Jahre war die Nutzung der Räume mietfrei. Nun will die Degewo von ihrem Vertragspartner, dem Bezirksamt, Miete nehmen. Bei der Degewo heißt es, die Senioreneinrichtung solle auf jeden Fall bestehen bleiben. Es handele sich lediglich um eine Änderungskündigung. „Uns ist es sehr wichtig, gute Nachbarschaften zu unterstützen“, betont Elke Benkenstein. So wurde dem Verein „Nachbarn für Nachbarn“ ein Raum zur Verfügung gestellt, in dem eine Bücherstube eingerichtet wurde. Gegründet wurde die Initiative von Eberhard Reinacher. Der Rentner hat Mal- und Nordic-Walking-Gruppen initiiert, er organisiert Ausstellungen, Sommerfeste und vieles mehr.
Noch härter ins Gericht mit der Degewo geht die Mieterinitiative, die sich vor einigen Jahren wegen der umstrittenen Schließung der Müllabwurfanlage gegründet hat. Diese Anlage war eine Besonderheit der Schlange, der Müll wurde unterirdisch bis zum Breitenbachplatz gepumpt. Doch die notwendige Instandsetzung hätte viel Geld gekostet. Seit der Schließung der Anlage Ende 2015 seien die Betriebskosten um 50 Prozent gesunken und die Mülltrennung habe sich verbessert, argumentiert die Degewo. Die Mieterin Christine Wußmann-Nergiz hat vergeblich gegen die Stilllegung geklagt und sich damit bei der Degewo so unbeliebt gemacht, dass sie nicht für die Wahlen zum Mieterrat kandidieren durfte. „All unsere Befürchtungen haben sich bewahrheitet“, sagt sie. Vor allem der Lärm der Müllfahrzeuge in dem vormals ruhigen Innenhof stört sie.
„Die Sache ist jetzt aber abgehakt, es gibt genug andere Probleme“, sagt ihr Mitstreiter Hartmut Bauer. Zum Beispiel dringend notwendige Instandsetzungen. An der Schlange nagt nach fast 40 Jahren der Zahn der Zeit. Zudem wurde sowohl in der Fassade als auch in den Bodenbelägen der Wohnungen Asbest verbaut. Christine Wußmann-Nergiz hat eine solche Asbestsanierung ihrer Wohnung gerade hinter sich und ist völlig fertig mit den Nerven: „Es ist nicht zu fassen, wie lange das gedauert hat, tagelang hatte ich kein Wasser.“ Es sei dieser Umgang mit den Mietern und die dahinter stehende Unsensibilität, die sie am meisten ärgert. Ansonsten wohnt auch die streitbare Christine Wußmann-Nergiz ausgesprochen gern in dem besonderen Bauwerk. Ihr Neffe sagt manchmal: „Lass uns doch mal wieder bei Tante Christine durchs Haus fahren.“
Birgit Leiß
Weltweit einmaliges Bauwerk
Der Komplex in der Schlangenbader Straße 23-36 wurde 1976 bis 1980, zeitgleich mit dem Bau dieses Autobahnabschnitts, von den Architekten Gerhard Heinrichs sowie Gerhard und Klaus Krebs gebaut. Am Anfang stand, wie so häufig in West-Berlin, ein Bauskandal: Bauunternehmer Heinz Mosch ging pleite und das Land Berlin musste einspringen. Die Überbauung der Stadtautobahn war der kühne Versuch, angesichts von Wohnungsknappheit und einem Mangel an Bauland so viele Wohnungen wie möglich zu errichten. Das Hauptgebäude, die eigentliche Autobahnüberbauung, ist 600 Meter lang und hat 1064 Wohnungen. Dazu kommen 694 Wohnungen als Randbebauung. Die Autobahn wird durch zwei statisch und akustisch vom übrigen Bauwerk getrennte Tunnel geführt. Die Schlange wurde mehrfach ausgezeichnet und gilt als weltweit einzige Linear-Überbauung einer Autobahn. Derzeit wird geprüft, ob die Anlage unter Denkmalschutz gestellt wird.
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In seiner neuen Serie besucht das MieterMagazin außergewöhnliche Wohnanlagen, Gebäude und Siedlungen
Website des Nachbarschaftsvereins: www.nachbarn-schlange.de
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14.10.2019